24Später mussten wir auf das Deck hinauskommen.

Ich sah mir in meinem Zimmer gerade einen Film an und wusste nicht, wo die anderen waren. Mohammed holte mich. Als er den Raum betrat, grinste er anzüglich und zielte mit der Waffe auf mich.

»Raus«, sagte er. »Auf das Deck. Da gibt es einen Tod.«

Ich starrte ihn an. Alles unterhalb meines Beckens verschwand, und mein Magen stürzte in die Leere.

»Verzeihung?«

»Ein Tod. Auf Deck.«

»Ein Tod?«

»Ja. Jetzt.«

O mein Gott, mein Gott!, dachte ich. Mir fiel ein, wie er mit der Hand das Aufschlitzen seiner Kehle angedeutet und gedroht hatte, wir würden alle wie Tiere geschlachtet. Ich wollte mich möglichst schnell an ihm vorbeidrängeln, aber er hielt mich am Arm fest. Es war, als hätte mich ein Bär gepackt. Ich stand stocksteif da. An der Stelle, wo er mich festhielt, schmerzte die Haut.

»Wo ist Uhr?«, fragte er. »Hast du?« Er war mir ganz nahe, und sein säuerlicher Atem strich mir über das Gesicht.

»Uhr? Ich weiß nicht, was…«

Er hob die andere Hand, als wolle er mich schlagen, dann starrte er mich finster an und ließ sie wieder sinken. Auch wenn Mohammed der Sohn eines wichtigen Mannes war, Ahmed war offenbar immer noch der Boss. Wenn Mohammed mich schlug, bekam er eine Geldstrafe.

Aber wenn eine Geldstrafe nicht ausreichte, um

Er packte mich sogar noch fester und holte tief Luft. Dann beugte er sich vor und strich mir mit der Hand, mit der er mich beinahe geschlagen hätte, über den Oberkörper. Ich schauderte und war gelähmt vor Entsetzen.

Mir kam ein schrecklicher Gedanke, der so abscheulich war wie Augen, die man mitten in der Nacht vor dem Fenster entdeckt. Bisher hatte ich mir nur Sorgen gemacht, er könne mich schlagen.

Wenn er nun

Ich meine, wir waren allein. Er war ein starker Mann, ich ein Mädchen. Nichts konnte ihn davon abhalten. Er hatte eine Waffe! Ich fühlte mich wie die Maus im Laufrad. Ich konnte ewig im Kreis rennen, käme aber niemals irgendwo an. Dann loderte die Energie in mir hoch, obwohl ich äußerlich völlig ruhig blieb. Ich war wie ein Schmelzofen, im Boden verschraubt und innerlich voll tosender Flammen.

Ich muss etwas tun, dachte ich. Mohammed starrte mich lüstern an. Da bemerkte ich den Khat in seinem Mundwinkel. Instinktiv deutete ich darauf.

»Kann ich mal probieren?«, fragte ich. »Den Khat

Mohammed sah mich erstaunt an.

»Probieren?«

»Versuchen.«

»Versuchen?«

Ich holte tief Luft und tat so, als würde ich kauen. Dabei deutete ich auf seinen Mund und wieder auf mich, um ihm zu zeigen, was ich wollte.

Er lachte überrascht auf und griff in die Hosentasche, zog einen Stoffbeutel hervor und holte eine kleine Handvoll Blätter heraus, die er mir reichte.

»Da«, sagte er. »Versuch.«

Ich stopfte mir die Blätter in den Mund und kaute.

Oh, verdammt.

Das Zeug schmeckte schrecklich – es war bitter und brannte am Gaumen und auf der Zunge. Es wirkte auch adstringierend und zog mir den Mund zusammen, als wollten Wangen und Zunge sich zusammenfalten und es einklemmen, damit ich es nicht mehr schmecken musste. Trotzdem lächelte ich Mohammed an.

»Hm«, sagte ich. »Gut.«

Er schüttelte ungläubig den Kopf, aber die schreckliche Spannung zwischen uns war verflogen.

»Komm«, sagte er. »Nach draußen.«

Damit zerrte er mich aus meinem Zimmer.

Auf dem Deck im Licht waren alle Piraten außer Nyesh versammelt. Er war mit dem Boot, das ihn hergebracht hatte, zum Strand zurückgekehrt, in einem Anzug wie ein Pendler, der zur Arbeit und wieder nach Hause fährt.

Ahmed und ein anderer Pirat hielten eine Ziege fest. Ahmed hatte ein Messer in der Hand. Mohammed wandte sich grinsend an mich und zwinkerte mir zu.

»Sie werden die Ziege töten«, verkündete die Stiefmutter.

Die Ziege, dachte ich. Die verdammte Ziege. Es ist nur die Ziege. Anscheinend waren die Konserven zur Neige gegangen, und die Piraten griffen auf den lebenden Proviant zurück.

Während die Männer ihre Vorbereitungen trafen, spuckte ich mehrmals den Khat aus.

Sie erledigten es auf der Tauchplattform, damit sie das Blut anschließend ins Meer spülen konnten. Zwei Männer drehten das Tier auf den Kopf und hielten es an den Beinen fest. Die Armmuskeln traten hervor und zitterten.

Ahmed hatte ein großes Messer. Es glänzte wie neu und stammte vermutlich aus der Kombüse. Ich nahm an, er wollte die Ziege selbst töten, aber dann ging er zu Farouz hinüber und überließ ihm das Messer. Farouz nickte. Er trat zur Ziege, die seltsam ruhig zwischen den Männern hing, kniete nieder und flüsterte etwas.

Ich beobachtete ihn genau. Es war Farouz, dieser sanfte Mann, der mir Geschichten erzählt hatte. Jetzt kniete er mit einem Messer vor der Ziege. Er stach dem Tier die Klinge in den Hals und machte eine genau bemessene Bewegung, als säge er etwas ab. Auch in seinem Arm spannten sich die Muskeln, und die Adern traten hervor.

Das Blut sprudelte aus dem Hals.

Die Stiefmutter kreischte, das Tier gab überhaupt keinen Laut von sich. Es zuckte nur, die Augen traten hervor, es rang nach Luft. Jedes Mal, wenn ich dachte, nun dürfte aber kein Blut mehr in dem Körper sein, schwoll der rote Strahl wieder an, und das Blut sammelte sich vor Ahmeds Füßen auf dem Boden, lief in die Ritzen zwischen den Brettern wie das Blut des Piraten, der erschossen worden war. Ich hörte das Platschen, als es aus dem Hals der Ziege hervorsprudelte.

So viel Blut. Ich konnte es auch riechen, es war ein metallischer Geruch, der einem bekannt vorkommt, obwohl die meisten Menschen niemals so große Mengen Blut sehen. Als hätten sich alle Kriege und Kämpfe, die geschlachteten Tiere der ganzen Menschheitsgeschichte in eine kollektive Erinnerung eingegraben. Als wüssten wir alle ganz genau, wie der Tod riecht. Ebenso instinktiv, wie wir die Augen schließen, wenn etwas hineinzufliegen droht.

Farouz hat die Ziege getötet, dachte ich. Ahmed hat ihn dazu aufgefordert, und er hat es getan.

Würde er mich auf die gleiche Weise töten? Mir einfach die Kehle durchschneiden und seine Arme, die Sehnen, die Knochen einsetzen, sich anstrengen und meinem Leben ein Ende bereiten?

Schließlich rührte sich die Ziege nicht mehr. Mir war nicht übel, aber ich fühlte mich benommen, so als schaukele die Jacht stärker als gewöhnlich. Das lag wohl teilweise an den Nachwirkungen des Khat. Ich verspürte eine unangenehme Erregung, als hätte ich zu viel Kaffee getrunken.

Die Sonne stand als weiß glühende Kugel bleich und lodernd am Himmel. Es war bestimmt siebzig Grad heiß. Wie immer war die Sonne nur ein greller Punkt, aber das Licht schien von überall her zu kommen und die Welt einzuebnen. Es gab keinen Schatten und keine räumliche Tiefe. Alles – das Beiboot, das Rettungsboot, die Tauchausrüstung und die Ziege, die Ahmed gerade ausnahm, nachdem er uns mit einer Geste nach drinnen geschickt hatte –, alles war flach, blutleer, farblos.

»Alles klar, Amybärchen?« Dad führte mich am Arm. »Komm, wir gehen wieder hinein!«

Ich stolperte mit ihm in den Schatten. Im Flur kehrte auf einmal die Farbe zurück – die Gemälde an den Wänden, der Feuerlöscher –, und die Welt hatte wieder drei Dimensionen.

»Das esse ich nicht«, erklärte die Stiefmutter.

»Wollen wir wetten?«, fragte Dad.

Ich konnte mir den Film nicht zu Ende ansehen. Etwas später riefen sie uns wieder auf das Deck hinaus. Das Blut hatten sie inzwischen aufgewischt, deshalb war nicht mehr zu erkennen, dass dort eine Ziege gestorben war. Allerdings… ich atmete tief durch. Der Kopf der Ziege lag noch dort an der Seite und starrte zu den Abendsternen hinauf. Der Hals war unordentlich vom Körper abgetrennt, der weiße Stab der Wirbelsäule ragte heraus.

Die Piraten lachten, als ich den Kopf anstarrte. Sie hatten einen gasbetriebenen Ofen, auf dem ein riesiger zerkratzter Metalltopf stand. Einer der Männer, ich glaube, er hieß Yusuf, rührte mit einem großen Löffel um.

Ahmed winkte uns, näher zu ihm zu kommen. Neben ihm stapelten sich Schalen, die er Yusuf hinschob, damit dieser sie füllen konnte. Yusuf schöpfte den Eintopf in die Schalen und gab sie den anderen Piraten. Farouz war der Letzte – vermutlich weil er der Jüngste war. Sie reichten die Schalen durch, bis jeder Pirat eine in Händen hielt.

Dann bemerkte ich, dass keine Schalen mehr da waren. Anscheinend sollten wir nichts zu essen bekommen. Wir, die Geiseln, meine ich. Vielleicht wurde die Stiefmutter doch noch verschont. Vielleicht wurde ihr Wunsch erfüllt, und sie durfte verhungern.

Ahmed nahm mit den Fingern ein Stück Fleisch aus der Schale und aß es. Der Saft lief ihm über das Kinn.

»Wir sind der Löwe!«, erklärte er. »Wir essen alles.«

Dad und die Stiefmutter sahen ihn verständnislos an. Ich selbst wahrscheinlich auch.

»Der Löwe!«, wiederholte er. »Wir sind der Löwe. Was sagen Sie dazu?«

Dad richtete sich auf, als wolle er sich über einen frechen Kellner beschweren.

»Das verstehen wir nicht«, antwortete er langsam.

Ahmed sah ihn finster an und spuckte auf die Holzplanken aus. Er winkte Farouz und sagte etwas in seiner eigenen Sprache. Farouz nickte.

»Ahmed sagt, wir nehmen uns den Löwenanteil«, erklärte er.

»Also bekommt ihr mehr als wir? Geht es darum?«, fragte Dad. Er schien genervt, und ich hoffte, dass er sich zu keiner Dummheit hinreißen ließ. Er war so sehr daran gewöhnt, immer seinen Willen durchzusetzen.

»Nein«, antwortete Farouz. »Wir nehmen uns alles. Die ganze Ziege. Das ist der Löwenanteil.«

»Was?«, fragte die Stiefmutter und hatte anscheinend völlig vergessen, dass sie kein Ziegenfleisch mochte. Der Sinneswandel war aber verständlich, denn es roch wirklich gut. Wie ein Currygericht, nur anders.

Ahmed machte eine gereizte Bemerkung.

Farouz hob beschwichtigend die Hände.

»Ahmed will, dass ich es erkläre«, begann er. »Es gibt bei uns eine Geschichte über die Tiere im Dschungel. Sie hatten eine Gazelle getötet, und alle hatten sich versammelt, um die Beute zu teilen. Der Löwe ist der König der Tiere, deshalb bat er die Hyäne, die Gazelle gerecht zu zerlegen. Die Hyäne sagte, wir geben die Hälfte dem Löwen und teilen den Rest unter uns auf.«

»Entschuldigung, aber können wir uns setzen?«, unterbrach Dad Farouz’ Erzählung.

Alle Piraten aßen, nur wir standen da und hörten zu.

»Nummer Eins, Mund halten«, befahl Ahmed. »Farouz zuhören.«

»Der Löwe streckte die große Pranke aus«, fuhr Farouz fort, »schlug der Hyäne auf den Kopf und riss ihr den Unterkiefer ab. Die Hyäne schlich heulend davon. Der Löwe wandte sich an den Fuchs. Teil du die Gazelle auf!, befahl er. Der Fuchs überlegte kurz, denn er war kein Dummkopf. Wir teilen die Gazelle in zwei Teile, schlug er vor. Eine Hälfte bekommt der Löwe, und die zweite Hälfte bekommt ebenfalls der Löwe. Der Löwe bekam also das ganze Fleisch und war glücklich, und damit ist die Geschichte zu Ende. Ahmed sagt nun, dass wir der Löwe sind. Ihr seid die anderen Tiere. Es tut mir leid.«

»Dann bekommen wir nichts zu essen?«, fragte die Stiefmutter enttäuscht.

Ahmed nickte.

»Gut«, bemerkte er. »Gut. Jetzt verstehst du.«

»Aber…«, setzte Dad an.

»Nein«, unterbrach Ahmed ihn. Er machte eine Geste, die die ganze Jacht einschloss. »Ihr seid immer der Löwe. Jetzt sind wir es.«

Er konzentrierte sich auf seine Schale, als gäbe es uns nicht mehr.

Dad wandte sich um und wollte hineingehen, und die Stiefmutter machte Anstalten, ihm zu folgen.

Ahmed platzte lachend heraus. Er lachte, bis ihm die Tränen kamen. Dann griff er hinter sich und holte einen weiteren Stapel Schalen hervor.

»Setzt euch, setzt euch!«, rief er, als er nicht mehr lachen musste. »Esst! Wir sind großzügig, vergesst den Scherz. Vielleicht sind wir kein Löwe. Vielleicht sind wir Fuchs.«