7Im Grunde ging es mir mit meiner Mom gar nicht so schlecht. Das, was sie auf so schreckliche Weise veränderte, machte sie andererseits zu einer höchst beeindruckenden Person. An meinem fünfzehnten Geburtstag wollte ich zum Beispiel abends mit meinen Freundinnen ausgehen, und sie hatte nichts dagegen, solange ich nur mit ihr zusammen frühstückte. Dad war in irgendeinem Land mit einem komischen Namen auf Geschäftsreise, vielleicht in Usbekistan oder so, und verhandelte über Kreditvergaben.

Damals lebten wir schon in London. Es war ein Freitag im Oktober, wir hatten keine Ferien, und nach dem Frühstück mit Mom musste ich natürlich zur Schule. Ich stand wie üblich auf, zog mich an und schminkte mich – wobei ich mich nie lange damit aufhielt. Ich legte nur etwas Eyeliner, Mascara und Lipgloss auf. Lippenstift benutzte ich nie. Dann ging ich nach unten, wo Mom schon am Tisch saß, auf dem sich Croissants, Obst und Rosinenbrötchen häuften, die ich am liebsten aß. Außerdem stand dort eine Flasche Champagner, die sie genau in dem Moment öffnete, als ich eintrat, als hätte sie auf mich gewartet. Sie schenkte zwei Gläser ein.

Mein Dad erlaubte mir keinen Alkohol, er hasste es sogar, wenn ich trank. Aber er war nicht da, deshalb nahm ich das angebotene Glas und nippte daran. Die Bläschen, die so gut schmeckten, wie die Croissants dufteten, kribbelten mir in der Nase. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, schönes Mädchen«, sagte sie. »Hier, ich habe auch Kaffee gemacht.«

»Wow, Mom, das wäre doch nicht nötig gewesen!« Ich war leicht verwirrt, denn schließlich wurde ich ja noch nicht sechzehn oder noch älter. Vielleicht hätte ich das als erste Warnung betrachten sollen. Vielleicht ahnte sie, dass sie im nächsten Jahr nicht mehr da wäre.

Ich setzte mich, und sie überreichte mir mit beinahe verschlagenem Gesichtsausdruck mein Geschenk. Es war eine kleine blaue Schachtel, wie sie zum Beispiel für Schmuck verwendet wird, aber es prangte kein Zeichen einer berühmten Firma darauf. Schon bevor ich sie öffnete, hatte ich eine Ahnung, was sich darin befand. Ich knackte die Schachtel wie eine Auster und stieß, glaube ich, sogar einen Schrei aus. Auf jeden Fall sprang ich auf und gab Mom einen Kuss.

»Dass du daran gedacht hast!«, rief ich. »Danke, danke!«

In der Schachtel lag eine alte Armbanduhr von Chanel. Das Leder hatte Risse, und das Glas war zerkratzt. Das Ziffernblatt war elegant und oval, ein wenig wie Art déco. Ich legte die Uhr an, die ich ein paar Monate vorher in einem Antiquitätenladen in Richmond gesehen hatte. Ich hatte mich beim ersten Blick in sie verliebt, dabei war sie gar nicht besonders teuer oder so. Ich meine, vielleicht war sie sogar teuer. Es ist schwierig, so etwas zu beurteilen, wenn man bei reichen Eltern aufwächst. Man verliert die Perspektive. Wie auch immer, irgendwie hatte die Uhr durchs Schaufenster nach draußen gegriffen und mir auf die Schulter getippt. Ja, sie war alt, aber sie war auch bezaubernd.

Nach dem Frühstück wollte ich aufräumen, doch Mom nahm meine Hand und hielt mich auf.

»Zieh die Schuluniform lieber wieder aus!«, forderte sie mich auf.

»Was?«

»Zieh dich um! Du gehst heute nicht zur Schule.«

»Nicht? Wohin gehe ich dann?«

»Wart’s ab, du wirst schon sehen.«

»Aber was ist mit deiner Arbeit?«, fragte ich.

Man konnte über Mom sagen, was man wollte, aber in ihrem Job war sie einfach gut. Ich glaube nicht, dass irgendjemand, von ihrem Boss vielleicht mal abgesehen, von der Krankheit wusste, und auch der wusste es nur, weil Mom sich manchmal für Arzttermine und so weiter freinehmen musste. So ganz habe ich nie verstanden, wie sie in diesem Bereich ihres Lebens so perfekt sein konnte. Anscheinend ist das aber bei Leuten wie ihr nicht ungewöhnlich. Dad nannte es Abschottung. Ich fand es meistens nur unfair. Jedenfalls sah es Mom überhaupt nicht ähnlich, sich einfach krank zu melden.

»Ich habe mir heute freigenommen«, erklärte sie. »Ich habe das schon lange geplant.« Sie zwinkerte mir zu und lächelte.

»Äh, na gut.«

»Los, beweg dich!«

Ich stieg die Treppe hoch.

»Oh, und zieh dir etwas Warmes an!«, rief Mom mir hinterher.

Als ich fertig war, verließen wir das Haus. Zuerst dachte ich, wir würden den Wagen nehmen, der ein Stück weiter an der Straße geparkt war, aber wir gingen daran vorbei, überquerten die Allmende, ließen den Ententeich hinter uns und wanderten auf dem Radweg in die Wildnis. Schließlich erreichten wir den Richmond Park, und von dort aus folgten wir dem Reitweg weiter in Richtung Roehampton.

Auf dem Weg, der Ham Gate und Roehampton Gate verbindet, kamen wir am Long Water vorbei. Auf den Wiesen graste Rotwild. Ein Hirsch hob den Kopf aus dem Heidekraut und wirkte mit seinem riesigen Geweih vor den hohen Wohnblocks wie eine Höhlenzeichnung.

»Was hast du vor?«, fragte ich. Ich war nicht daran gewöhnt, dass Mom ohne Grund durch die Gegend ging. Ich meine, natürlich ging sie. Sie war ja ein Mensch und kein Vogel oder Fisch. Aber sie wanderte nicht und bummelte auch nicht müßig herum. Wenn sie zu Fuß unterwegs war, dann hatte sie immer ein Ziel.

»Es ist eine Überraschung«, sagte sie nur.

Wieder zwinkerte sie mir zu und führte mich schließlich den Hügel zur Royal Ballet School hinauf. Dort gibt es eine Bank, von der aus man die Teiche, das mit Heidekraut bewachsene Gelände und die Bäume im Hintergrund überblicken kann. Es sieht beinahe aus wie in Schottland oder so. Wir erreichten die Hügelkuppe, und hätte ich in einem kitschigen alten Film gesessen, dann hätte ich geblinzelt und wäre zwei Schritte zurückgewichen. »Oh, ist das wirklich für mich?« Dort stand nämlich ein Tisch, ein richtiger Esstisch mit weißer Tischdecke, feinstem Porzellangeschirr und Weingläsern, auf dem ein unglaubliches Festmahl angerichtet war. Ich entdeckte Brathähnchen, Schokolade, Salat, Käse, Quiches.

»Ich war nicht sicher, was du gerade magst«, erklärte sie. »Dein Geschmack ändert sich so oft.«

»Ich… ich… Jesus, Mom!«

»Gefällt es dir nicht

»Doch, natürlich gefällt es mir«, antwortete ich. »Es ist beeindruckend.«

So hätte ich es nicht sagen sollen. Ich hätte sagen sollen: Ich liebe dich. Du bist höchst beeindruckend. Aber das sagte ich nicht, und jetzt ist es zu spät.

Trotzdem, sie freute sich, dass es mir gefiel, so viel konnte ich erkennen. Und beeindruckend war es tatsächlich. Es war ein bisschen zu kalt, um draußen zu essen, aber an so etwas dachte Mom nur selten. Es spielte auch keine Rolle. Niemand sonst war in der Nähe, abgesehen von zwei Jungs auf Rollschuhen, die angehalten hatten und den Tisch anstarrten, der etwa drei Meter vom Hauptweg entfernt aufgebaut war. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie Mom das alles geplant und hingekriegt hatte.

»Wie hast du…«

Sie hob einen Finger an die Lippen.

»Ein Magier verrät niemals seine Tricks.«

Also setzten wir uns und nahmen mitten im Richmond Park dieses beeindruckende Essen mit ganz unterschiedlichen Gängen und Wein zu uns. Als ich am Abend mit meinen Freundinnen ausging, war ich schon leicht beschwipst. Das war aber in Ordnung, weil Mom sagte, sie würde mich genau um elf im Pub abholen, und ich solle lieber dort sein, sonst nehme sie mir die Uhr wieder weg. Das war noch etwas Tolles an Mom: Ich war viel zu jung, um Alkohol zu trinken, aber sie hatte nichts dagegen.

Nach einer Weile tauchte der Parkwächter in einem dieser grünen Landrover auf. Er stellte den Wagen ab und stieg aus.

»Es tut mir leid«, sagte er, »aber Sie können nicht so einfach… ich meine, dieser Tisch. Das können Sie nicht machen.«

»Oh?«, erwiderte Mom. »Komisch. Wir haben es nämlich gerade gemacht.«

Danach mussten wir gehen. Aber das war nicht weiter schlimm, weil ich mir jede Minute bis zu jenem Augenblick einprägen konnte, in dem wir vertrieben wurden. Ich erinnere mich heute noch an das Essen und Trinken, während unter uns die Hirsche umherwanderten. Die Sonne schien, die Herbstluft roch nach Laub und Rauch, Vögel zwitscherten, und niemand, einfach niemand starb.