20Nach dem Ereignis fragten mich Carrie, Esme und andere, ob es Vorzeichen gegeben habe. Bei meiner Mom, meine ich. Ich hätte sagen können: Natürlich gab es Vorzeichen. Sie litt an Depressionen und hatte eine Zwangsstörung. Aber ich glaube, das meinten sie nicht. Um es mit dem Schulberater zu sagen, den ich für kurze Zeit aufsuchte: Sie wollten wissen, ob meine Mom ihre Absichten deutlich gemacht hatte.

Da gab es natürlich den Anruf, in dem sie es mir mitgeteilt hatte. Aber darüber redete ich mit niemandem. Stattdessen erzählte ich eine andere Geschichte.

Es war ein Jahr zuvor in den Sommerferien. Dad arbeitete wie üblich, aber Mom wollte wegfahren. Also besorgte sie sich bei ihrer Zeitschrift Gratistickets für ein neues ökologisch wirtschaftendes Luxushotel an der Ostküste von Mexiko. Wir wollten dort einige Mayatempel besichtigen und am Strand ausspannen, und nach der Rückkehr würde Mom einen Artikel darüber schreiben.

»Lassen wir deinen Vater ruhig zu Hause«, sagte Mom. »Wir machen es uns schön, nur ich und meine Amy.«

So geschah es dann auch. Es war wirklich sehr schön. Das Hotel bestand aus kleinen Holzhütten am Meer, es gab weder elektrisches Licht noch Fernsehen, also waren wir allein mit den Palmen, den Vögeln und dem Plätschern der Wellen. Es war magisch. Wir bekamen Massagen, schwammen und lasen Bücher.

Mit dem Bus fuhren wir nach Chichén Itzá und besichtigten die Pyramide, auf deren Spitze man früher den Menschen die Herzen herausgeschnitten hatte, um die Körper die Stufen hinunterzuwerfen. Wir klatschten mit den Händen auf den Stein und hörten das Echo, das knatterte und zischte wie eine Klapperschlange. So beschrieb es jedenfalls der Führer. An den Seiten der Pyramide war die Gestalt des Schlangengotts eingeritzt.

Abends aßen wir meistens im Zimmer, aber es gab auch ein Restaurant am Meer, das man nach einem zehnminütigen Strandspaziergang erreichte. Eines Abends hatten wir alle Bücher ausgelesen und wussten nicht recht, was wir mit uns anfangen sollten. Wir gingen in die Lobby des Hotels, wo wir eine Hippiemutter mit ihrem Kind sahen. Wir hatten uns ein wenig mit den beiden angefreundet, die Namen habe ich allerdings vergessen.

»Kommt doch mit, wenn wir die Schildkröten beobachten!«, lud die Frau uns ein. »Angeblich legen sie um diese Zeit.«

»Sie legen?«, fragte Mom.

»Ja, sie legen ihre Eier am Strand ab.«

»O ja, Mom, das sollten wir unbedingt sehen!«, rief ich. Aus einem Dokumentarfilm kannte ich die riesigen Schildkröten, die an Land krochen und die Eier im Sand vergruben, und dachte, es könnte schön sein, dies tatsächlich selbst zu beobachten.

»Fahren Sie jetzt gleich?«, fragte Mom.

»Nein«, antwortete der Junge, der etwa zehn war. Er war niedlich, hatte Sommersprossen und immer ein Lexikon oder ein anderes dickes Buch in der Hand. »Zuerst essen wir zu Abend«, erklärte er. »Die Schildkrötenbeobachtung fängt erst um Mitternacht an. Das ist die beste Zeit.«

»Wie lange geht das denn?«, erkundigte ich mich.

Der Junge hob die Schultern.

»Bis wir eine sehen.«

»Bis drei Uhr«, erklärte die Mutter. »Wenn wir bis dahin keine gesichtet haben, geben wir’s auf.«

»Wir müssen uns merken, wo sie die Eier vergraben«, sagte der Junge. »Dann können die Helfer sie ausgraben und an einen sicheren Ort bringen, damit die Kleinen ungefährdet schlüpfen. Sonst stehlen Räuber die Eier.«

»In der chinesischen Medizin gelten sie als wertvoll«, fügte die Mutter hinzu, die Piercings in den Ohren und einen kleinen Buddha an der Innenseite des Arms eintätowiert hatte.

Mom sah mich an.

»Wir verzichten lieber«, antwortete sie. »Aber es macht bestimmt Spaß.«

In Wirklichkeit wollte sie sagen: Es klingt einfach schrecklich, und ich äße lieber mein eigenes Erbrochenes, als bis drei Uhr morgens am Strand herumzusitzen und nichts zu tun zu haben. Mom interessierte sich für Physik und Sterne. Wenn es um Tiere ging, brachte sie nicht viel Geduld auf. Sie sprach immer über die verrückten Briten, die Altersheime für Esel einrichteten, während viele Menschen Not litten. Darüber konnte sie sich gehörig aufregen. Ich sagte der Frau und ihrem Jungen, dass es bestimmt schön würde, aber wir würden lieber essen gehen. Ich wollte so rasch wie möglich mit meiner Mom verschwinden, ehe sie etwas Peinliches sagen konnte – etwa dass es Zeitverschwendung sei, Schildkröteneier auszugraben, während in Bagdad Menschen in die Luft gejagt wurden.

Nachdem wir erklärt hatten, wir wollten zum Abendessen ausgehen, mussten wir es auch tun. Wir schlenderten den Strand entlang zu dem Restaurant, in dem wir schon einmal gewesen waren. Daher wussten wir, dass es dort einen ganz ausgezeichneten Puerco Pibil gab, das ist lange gekochter Schweinebauch, der in Palmblättern serviert wird. Von unserem Tisch aus sahen wir aufs Meer und gruben die Füße in den Sand. Wir aßen zu Abend, und Mom genehmigte mir sogar zwei Flaschen Corona. Auf den Rändern der Gläser steckten Zitronenkeile, und Wasserperlen glitzerten an den Seiten. An dem warmen Abend schmeckte das Bier angenehm kühl.

Hoch droben legten die Sterne eine helle Decke über den Himmel. Nicht so prächtig wie in Somalia, aber immer noch sehr beeindruckend, und natürlich war ich damals noch nicht in Somalia gewesen, also hatte ich keine Vergleichsmöglichkeit. Kaum hatten wir uns gesetzt, deutete Mom nach oben.

»Achte auf die Stelle dort! Dort sind die Perseiden.«

»Warum?«

»Pass nur auf!«

Während des ganzen Abends blickte ich immer wieder zu der Stelle hinauf, die Mom mir gezeigt hatte, und fragte mich, was ich dort zu sehen bekäme. Als ich das zweite Bier fast ausgetrunken hatte, geschah es dann: Unvermittelt wie bei einem Feuerwerk flog ein brennender Komet vorüber. Dann ein weiterer und noch einer. Flackernde weiße Punkte schossen schräg über den Himmel.

»Sternschnuppen!«, rief ich.

»Genau genommen sind es Meteoriten«, erklärte Mom. »Die Mayas haben die Zeit mithilfe der Sterne gemessen. So wussten sie, wann sie pflanzen und wie sie ihre Gebäude ausrichten mussten.«

»Na gut«, sagte ich.

»Die prähistorischen Einwohner Europas haben es genauso gemacht«, fuhr Mom fort.

»Ja. Stonehenge. Da geht bei der Tagundnachtgleiche im Sommer die Sonne genau im Eingang auf.«

»Bei der Sommersonnenwende«, berichtigte Mom mich.

»Oh, na gut.«

»Aber das ist noch nicht alles.« Moms Blick schweifte in die Ferne. »Wusstest du, dass der Stier im Neolithikum genau dort unterging, wo zur Frühlingstagundnachtgleiche die Sonne versank?«

»Nein«, antwortete ich. Ich verstand nicht viel von Moms Fachgebieten. Sie hatte drei Doktortitel. Dad sagte, sie sei der klügste Mensch, dem er je begegnet sei, und dabei war er selbst verdammt klug. Er hatte beim MIT etwas Kompliziertes mit Wettermodellen gemacht und dadurch den Job bei der Bank bekommen.

»Ja«, meinte Mom. »So ist es. Die Sonne ging genau an diesem einen Tag im Jahr genau an dieser Stelle im Stier unter. Viele Leute vermuten, damit hätten die Stieropfer begonnen. Die Menschen wurden Zeugen, wie die Sonne einen aus Sternen gezeichneten riesigen Stier tötete. Danach wuchsen die Pflanzen wieder. Also glaubten sie, man müsse Stiere töten, damit es wieder warm wurde.«

»Offensichtlich«, antwortete ich ein wenig sarkastisch. »Aber sie hielten den Stier im Himmel doch nicht etwa für echt.«

»O doch, sie hielten ihn für echt«, erwiderte Mom. »Interessant ist auch die Beobachtung« – sie sprach jetzt eher mit sich selbst –, »dass die meisten Kulturen einen Stier zu erkennen glauben, während der Orion für sie einen Jäger mit Pfeil und Bogen darstellt. Aber keins dieser Sternbilder sieht dem echten Vorbild – dem Stier oder dem Jäger – tatsächlich ähnlich. Ich meine, es ist doch eigenartig, dass die Menschen die gleichen Figuren sehen, obwohl die sogenannten Bilder völlig abstrakt sind. Eine Theorie besagt, dass die Geschichten über die Sternbilder und deren Umrisse in Afrika ihren Ursprung nahmen, als alle Menschen noch auf jenem Erdteil lebten. Danach verbreiteten sich die Menschen über die anderen Regionen und nahmen die Geschichten mit. Ehe Schrift und Religion entstanden, blickten die Bewohner der ganzen Welt zum Nachthimmel empor und sahen dort den Stier.«

Ich lehnte mich auf meinem Plastikstuhl zurück. Eine seltsame Vorstellung, dass die Menschen zu den Sternen aufblickten und daraus Geschichten ablasen, die sie für wahr hielten! Orion, der Jäger, jagt einen Schwan oder einen Adler. Ein Stier wird von der Sonne getötet.

Könnte ich in der Zeit zurückspringen, widerspräche ich Mom an dieser Stelle. »Also«, würde ich sagen, »ich kenne jemanden aus Afrika, der den Großen Wagen für ein Kamel hält. So ganz scheint deine Theorie also nicht zu stimmen.« Aber ich kann ja nicht zurück.

»Die Umlaufbahn der Erde verändert sich natürlich«, fuhr Mom fort. »Der Stier ging irgendwann nicht mehr an jener Stelle unter, und die Religionen entwickelten sich weiter.«

»Die Leute vergessen immer die Sterne«, meinte ich.

»Nein«, widersprach Mom. »Ganz und gar nicht. Denk nur an die weisen Männer, die Jesus gefunden haben!«

»Oh, na gut«, sagte ich.

So verlief also unser Abendessen. Ich erwähne dieses Gespräch, damit Sie einen Eindruck von meiner Mom bekommen und verstehen, wofür sie sich interessiert hat. Noch wichtiger ist aber das, was danach passierte. Wir kehrten Hand in Hand am Strand entlang zurück. Mom trug unsere Flipflops in der Hand. Wir gingen dicht an der Brandung auf dem harten Sand, den das Wasser verdichtet und dunkel gefärbt hatte. Der Mond stand rund und riesig am Himmel und malte einen Weg auf das Meer, als könnten wir über das Wasser irgendwohin laufen.

Irgendwie dachte ich wohl noch an die Schildkröten, denn als wir an einigen Felsen vorbeikamen, die in der Brandung lagen, erregte etwas meine Aufmerksamkeit – einer der Steine bewegte sich.

»Mom, die Schildkröten!« Ich deutete in die Richtung.

Wir blieben stehen.

»O ja!«

In der Nähe erhob sich eine teilweise mit Gras bewachsene Düne. Wir liefen hinüber, setzten uns und sahen zu, wie die Schildkröten langsam aus dem weißen Schaum der Wellen auf den Sand krochen. Wir schwiegen die ganze Zeit, obwohl es sicherlich eine Viertelstunde dauerte. Dann verging noch eine weitere halbe Stunde, während sich die Schildkröten über den Strand schleppten. Es waren zwei, jede so groß wie ein Couchtisch, die glatte Spuren hinterließen. Die paddelartigen Extremitäten rutschten über den Sand und schoben die Panzer vorwärts. Mit großen Augen sahen sie sich um, ob Gefahr drohte. Die Mäuler wirkten beinahe so, als lächelten sie.

Wir kamen uns vor wie Auserwählte. Als hätte man uns ausgesucht, damit wir zusehen durften. Das hatte etwas zu bedeuten. Ich wusste, wie albern dieser Gedanke war, aber ich stellte es mir trotzdem so vor.

Die Düne als Aussichtsplatz war eine gute Wahl, denn eine Schildkröte kam uns sehr nahe und grub unmittelbar vor uns ihr Loch. Wir hielten die ganze Zeit mehr oder weniger den Atem an. Das Tier brachte sich in Stellung, und dann kamen die glatten weißen Eier aus dem Körper hervor, als führe jemand einen Zaubertrick vor, und fielen ins Loch. Anschließend drehte sich die Schildkröte wieder herum und füllte das Loch mit Sand auf, damit die Eier in Sicherheit waren.

Endlich kroch sie sehr langsam wieder zum Meer, dicht gefolgt von der zweiten Schildkröte. Wir beobachteten die Tiere, bis sie im Wasser versanken. Die ganze Szene – der Mond, die riesigen Schildkröten, der Strand, an dem wir weder moderne Gebäude noch künstliches Licht sahen – strahlte etwas Magisches und Uraltes aus, etwas Archaisches und Machtvolles. Ich glaube, das war es auch, denn die Schildkröten kamen vermutlich schon seit Zehntausenden von Jahren an diesen Strand, um ihre Eier abzulegen.

»Donnerwetter!«, stieß Mom hervor.

Ich hatte sie in Bezug auf Natur oder Tiere noch nie so aufgeregt erlebt. Sonst begeisterte sie sich nur für Sterne oder Musik.

»Und ob«, stimmte ich zu.

»Wir müssen es den Schildkrötenschützern sagen«, schlug sie vor. »Sie sollten erfahren, wo die Eier abgelegt wurden.« Sie war noch nicht aufgestanden, sondern hatte die Arme um die Knie geschlungen. »Ich bin sicher«, fuhr sie fort, »das ist… ich glaube, das ist ein Zeichen, Amy.«

»Ein Zeichen?«

»Ja. Als hätte jemand gewollt, dass wir die Schildkröten beobachten. Als hätten sie uns ausgesucht.«

»Ich weiß«, antwortete ich. »So kam es mir auch vor.«

Erstaunlich war nur die Tatsache, dass Mom das Gleiche empfand wie ich. Am nächsten Tag staunte ich sogar noch mehr, denn als wir mit dieser Hippiemutter redeten, erzählte sie uns, sie habe mit ihrem Sohn weiter unten am Strand bis drei Uhr morgens mucksmäuschenstill ausgeharrt, aber nicht das Geringste entdeckt. Dabei waren sie mit Führern dort gewesen, die sie bezahlt hatten.

Aber das war erst am nächsten Tag, der mir noch unendlich weit entfernt vorkam. In diesem Augenblick saßen Mom und ich einfach nur im Licht des Monds und der Sterne zusammen am Strand.

»Hm«, machte Mom auf ihre leicht abwesende Art. »Das ist schön.«

»Ja.«

»Fast schienen die Tiere mir etwas sagen zu wollen«, fuhr sie fort. »Ich solle durchhalten.«

»Durchhalten?«

Sie hustete.

»Hör nicht auf mich, Amy!«, wehrte sie ab. »Das war schön, weiter nichts. Ich bin froh, dass wir diesen Moment zusammen erlebt haben.«

Wenn sie so etwas sagte, klang es immer sehr amerikanisch. Sie nahm meine Hand, wir standen mit steifen Beinen auf – vielleicht hatten wir länger gesessen, als uns bewusst gewesen war – und kehrten zum Hotel zurück.

Am nächsten Tag berichteten wir den Schildkrötenschützern, wo die Eier vergraben worden waren. Sie hatten gerade ein paar kleine Schildkröten da, die geschlüpft waren und ins Meer zurückkehren sollten. Deshalb begleiteten wir sie und sahen zu, wie die Tierchen ins Wasser krochen und davonschwammen. Die meisten von ihnen würden sterben. Sie sind so winzig, dachte ich, als ich die jungen Schildkröten sah. Und alle waren in einem Ei. Die Eier waren vorher in einer großen Schildkröte. In meinem Kopf drehte sich alles: Schildkröten in Schildkröten wie die russischen Puppen, in denen immer noch eine weitere steckte.

Auch das war erstaunlich.

Später erinnerte ich mich aber vor allem an den Strand. Daran, dass die Schildkröten meiner Mom gesagt hatten, sie solle durchhalten. Erst lange danach begriff ich, was meine Mom damit gemeint hatte.

Ja, das war das einzige Vorzeichen. Eine Schildkröte, die ihre Eier abgelegt hatte.

Aber ich meine etwas anderes.

Nämlich Folgendes: Mom meinte, die Schildkröte sei ein Zeichen gewesen. Aber das Wichtigste war nicht die Schildkröte selbst, sondern das, was Mom darüber sagte. Wie sie abwesend über das Zeichen sprach und meinte, sie solle durchhalten.

Ich hatte die Schildkröte beobachtet, das Erlebnis schön gefunden und das Gefühl bekommen, wir seien auserwählt.

Das Zeichen, auf das es wirklich ankam, hatte ich nicht erkannt.