19»Erzähl mir von deiner Familie!«

»Ich habe keine Familie. Nur meinen Bruder Abdirashid.«

»Gut, dann erzähl mir von deinem Bruder!«

»Das habe ich doch schon getan. Er sitzt im Gefängnis.«

»Das weiß ich. Ich meine, was war vorher? Wie seid ihr aufgewachsen?«

Farouz schürzte die Lippen. Wir saßen auf einer Sonnenliege. Ich hatte meinen iPod und die Kopfhörer im Schoß, damit ich im Zweifelsfall behaupten konnte, ich hätte Musik gehört.

»Ich bin wegen eines Imams zur Schule gegangen«, erklärte er.

»Ein Imam?«

»Im Islam ist das ein Priester.«

»Oh, na gut.«

»Der Imam war Schuldirektor in Galkayo. Auf diese Schule kamen mein Bruder und ich, nachdem meine Eltern getötet worden waren.«

»Deine Eltern wurden…«

»Das ist eine andere Geschichte«, fiel er mir ins Wort. »Galkayo liegt in Puntland. Mein Bruder und ich stammen nicht aus Puntland, wir sind aus Mogadischu. Deshalb war es für uns am Anfang schwierig. Der Dialekt ist anders, die Leute mögen keine Flüchtlinge. Im ersten Jahr lebten wir auf der Straße und mussten betteln. Wir sind weit gelaufen, um Wasser aus einem Brunnen zu schöpfen. Manchmal haben wir Ratten gefangen.«

»Himmel!«, stieß ich hervor.

Er hob die Schultern.

»Lieber eine Ratte essen als verhungern. Mein Bruder hat sich umgetan. Ich weiß nicht, wo er sich herumtrieb. Vielleicht weiß ich es doch… Wenn er zurückkam, brachte er jedenfalls ein bisschen Geld mit, von dem wir uns zwei Tage lang satt essen konnten. Das war gut. Immer wenn mein Bruder losging, musste ich an derselben Stelle auf ihn warten. Es war ein Laden, in dem man Obst und kleine Gerichte kaufen konnte. Inzwischen liefert er den Piraten hier in Eyl die Vorräte. Ich kenne den Besitzer – er ist inzwischen ein reicher Mann.«

Farouz hielt inne und tat so, als betrachte er das Meer. Dabei wippte er mit den Fußspitzen auf dem Boden.

»Jeden Tag wartete ich vor dem Laden auf meinen Bruder«, fuhr er fort. »Aber eines Tages stand ich auf und ging. Gar nicht mal, weil ich es nicht mehr aushielt. Das war nicht der Grund. Ich bin einfach losgegangen und viele Stunden durch Galkayo gewandert. Damals gab es noch keine großen Häuser, weil es noch keine Piraterie gab oder weil Piraterie damals nicht sonderlich gewinnbringend war. Auf den Straßen fuhren auch keine großen Autos. Hauptsächlich standen dort Hütten, Moscheen und ein paar Häuser. Nach einer Weile erreichte ich ein kleines Gebäude und hörte im Innern Kinder singen. Ich blickte zum Fenster hinein. Da saßen sie vor Lehrbüchern. Eine Schule! Bis zu diesem Moment war mir gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ich die Schule vermisste. Bei Abdirashid war das anders. In der Schule in Mogadischu hatte er ständig Ärger gehabt und die schlechtesten Noten bekommen. Warum bist du nicht eher so wie Farouz?, hielten ihm meine Eltern immer wieder vor. Ich hielt die Frage für witzig, weil ich lieber so sein wollte wie Abdirashid.«

»Durftest du in die Schule hinein?«

»Nein, so einfach war das nicht.« Er lachte. »Am ersten Tag spähte ich nur durch das Fenster. Als ich zu dem Laden zurückkehrte, schlug mich Abdirashid und verbot mir, je wieder wegzulaufen. Aber am nächsten Tag habe ich es natürlich sofort wieder getan. Ich kehrte jeden Tag zu der kleinen Schule zurück, stand am Fenster und hörte dem Unterricht zu.«

»Und dann hat dich der Imam bemerkt und hineingeholt

»Nein!«

Farouz zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Es war, als wären alle Sterne verdampft und in seine Lungen eingedrungen, als hätte er die Sterne vom Himmel gesogen.

»Nein?«, fragte ich.

»Nein, natürlich nicht. Inzwischen wusste ich, wie sich Abdirashid Geld beschaffte. Nachdem ich den Imam das nächste Mal durch das Fenster seiner Schulklasse beobachtet hatte, sprach ich ihn auf der Straße an und versprach, mit ihm ins Bett zu gehen, wenn ich am Unterricht teilnehmen dürfe. Ich wollte alles tun, was er verlangte.«

»Oh, verdammt«, sagte ich.

»Ja, wirklich alles.«

Ich suchte seinen Blick. Er meinte es völlig ernst.

»Mein Gott, Farouz!«

Ich wollte das Gespräch beenden, aber es war wie ein Auto, dessen Bremsen versagen. Schließlich schlug ich die Augen nieder.

»Was ist bei dem Imam geschehen?«, fragte ich nach einer Weile. »Was hat er gesagt? Hast du… bist du mit ihm ins Bett gegangen?«

»Nein, der Imam wollte nicht«, antwortete Farouz.

Ich lächelte.

»Freut dich das? Du solltest dich nicht freuen. Ich war der Sklave dieses Mannes. Ich musste sein Haus putzen und ihm jeden Tag das Essen kochen. Natürlich schlug Abdirashid mich, als er davon erfuhr, aber da war ich schon auf der Schule, und er konnte nichts mehr unternehmen.«

»Bei dem Imam zu putzen, scheint mir nicht so schlimm zu sein, wie…«

»Wie mit ihm ins Bett zu gehen? Nein, das wäre einfacher gewesen. Hast du schon mal den Boden geschrubbt, bis die Hände bluteten?«

Ich dachte an Mom, die genau das getan und nicht einmal triftige Gründe dafür gehabt hatte.

»Nein«, antwortete ich.

»Nein. Dann kannst du es auch nicht verstehen. Außerdem… ich durfte ja zur Schule gehen. Das ist kein sehr interessanter Teil der Geschichte, aber ich habe gern gelernt. Abdirashid freundete sich mit einigen Küstenwächtern an, zog mit ihnen durch die Bars, trank und nahm Drogen. Einmal fuhr er sogar zu einem Einsatz mit. Aber irgendetwas lief schief, die Einzelheiten kenne ich nicht. Vielleicht gab es Streit mit einem anderen Piraten, oder er hat jemanden verletzt. Wie auch immer, er fuhr nie wieder mit.«

»Wie bist du dann dort gelandet?«, fragte ich.

»Als ich sechzehn war, kamen sie in meine Schule. Nicht die Freunde meines Bruders, sondern andere Männer. Sie suchten Jungen wie mich. Ist das nicht verrückt

»Hat der Imam das zugelassen?«

»Oh, sie behaupteten, sie seien geläutert. Sie wollten die Kinder warnen, Piraten zu werden, und fragten, wer von uns klug sei und Englisch spreche. Es klang so, als interessierten sie sich nur für die Schule und als wollten sie sogar Geld spenden, um den Imam zu unterstützen. Das haben sie sogar getan. Ich glaube, Amir, der jetzt unser Sponsor ist, gab ihm tatsächlich hunderttausend Dollar. Dann stand Amir vor der Klasse. Er ist groß und sieht gut aus, die Leute mögen ihn. Wenn etwas schmutzig ist, dann wasch es. Wenn etwas unrein ist, dann wasch es mit Bleichmittel. Ich bin unrein, Allah. Wasch mich mit Bleichmittel und vergib mir meine Sünden!«, sagte er.

»Wow«, machte ich.

»Ja. Die Imame mögen keine Piraten, aber es gefällt ihnen, wenn man um Vergebung bittet. Deshalb freute sich der Imam, als Amir diese Worte vortrug. Nach Schulschluss fingen mich die Piraten ab. Ich meine – die Küstenwächter. Sie wussten, dass ich am besten Englisch konnte, weil ich einen Preis gewonnen hatte. Das hatte ihnen der Imam erzählt. Wir wissen, wie du Millionen verdienen kannst, lockten sie mich, als der Imam fort war. Wie du für dich und deinen Bruder ein Haus kaufen kannst.«

Woher kennt ihr meinen Bruder?, fragte ich.

Wir kennen jeden, antworteten sie. Das war es dann. So kam ich zur Küstenwache Südliches Zentrum. Einige Jahre lang war alles in Ordnung. Ich meine, ich war nur ein Küstenwächter und verdiente nicht viel, aber es ging mir besser als vorher. Dann wurde mein Bruder verhaftet, und ich blieb bei ihnen hängen. Ich musste für sie arbeiten und Geld verdienen, um ihn herauszuholen.«

»Wart mal!«, unterbrach ich Farouz, weil er offenbar auf irgendetwas anspielte. »Willst du mir erzählen, dass ihn die Küstenwache verhaftet hat

»Nein, das war die Polizei. Aber hat die Küstenwache die Polizei dafür bezahlt? Natürlich.«

»Wow«, sagte ich und kam mir ziemlich albern vor, weil ich diesen Ausruf innerhalb von zwei Minuten zum zweiten Mal benutzt hatte. »Dann arbeitest du, um deinen Bruder zu befreien, und die Leute, für die du arbeitest, sind genau die gleichen, die ihn auch ins Gefängnis gesteckt haben?«

Farouz dachte nach.

»Ja«, bestätigte er.

Dann ließ er die Zigarette fallen und drückte sie mit der Ferse aus. Die Dunkelheit brach über uns herein wie ein Rudel Hyänen.