33»Das ist verrückt«, widerspricht Dad. »Glauben Sie wirklich, einer von uns fährt mit Ihnen zum Strand? Nach Somalia. Ich meine, welche Garantie haben wir, dass wir wohlbehalten zurückkehren?«

»Und welche Garantie haben wir?«, erwidert Farouz. »Wenn wir mit dem Geld verschwinden wollen, kann uns die Marine verfolgen. Sie haben Schlauchboote, einen Hubschrauber und Waffen. Die Geisel ist unsere Garantie.«

»Das werde ich nicht tun«, entscheidet Dad. »Ich werde mein Leben nicht so aufs Spiel setzen. Meine Tochter und meine Frau… sie brauchen mich.«

Farouz hebt die Schultern. Er und Ahmed stehen vor uns und bedrohen uns mit den Waffen. Als Ahmed kurz zum Zerstörer hinüberschaut, zwinkert Farouz mir zu. Wahrscheinlich will er mir sagen, dass er nicht geschossen hätte, und einen Moment lang bin ich überglücklich, dass – wer ist er eigentlich? – mein Freund mich nicht umbringen wollte. Aber nein, das ist lächerlich. Woher will ich wissen, dass er nicht abgedrückt hätte? Nur weil er gezwinkert hat?

Hinterher zu zwinkern, ist leicht. Ich weiche seinem Blick aus und schlage die Augen nieder.

»Sie haben das Wort der Royal Navy«, sagt Tony. »Der Plan ist genehmigt, also wollen wir uns…«

Ahmed zielt auf ihn, und Tony hält den Mund. Die Spannung ist so drückend wie die Hitze. Sie ist überall und zwingt uns nieder. Ich sehe die Schweißperlen auf Farouz’ Schläfen. Der Arm meines Vaters, der auf meinen Schultern liegt, ist verkrampft.

»Ach, verdammt«, sagt die Stiefmutter. »Ich übernehme das.«

Überrascht wende ich mich zu ihr um. Auch Dad starrt sie an.

»Ich übernehme das«, wiederholt sie, dieses Mal an Ahmed gerichtet. »Ich begleite Sie und das Geld. Hauptsache, wir kommen hier heraus.«

»Bist du verrückt?«, fragt Dad. »Bist du völlig verrückt geworden? Wenn du glaubst, ich lasse dich…«

»Du bist mein Mann, nicht mein Besitzer«, erwidert die Stiefmutter.

Dad verschlägt es die Sprache. Ich suche ihren Blick.

»Warum tust du das?«, frage ich. »Sie könnten dich umbringen.«

»Ich glaube nicht.« Sie hält dem Blick stand. »Aber wenn ich mitkomme, bist du in Sicherheit.«

»Was?«, antworte ich.

Ich dachte, sie mag mich überhaupt nicht, aber sie sieht mich an, und in ihren Augen liegt ein Ausdruck von Zuneigung. Es ist eine verrückte Situation. Mir scheint auf einmal, dass ihre Härte rein äußerlich ist und sie wie eine dünne Eierschale umgibt.

Dann wird sie wieder eiskalt und ist nur noch die Stiefmutter.

»Wie bitte?«, wendet Tony ein. »Nein, das entspricht nicht dem Plan. Der Plan sieht das nicht vor.«

»Der Plan wurde soeben geändert«, erklärt ihm die Stiefmutter.

Ich schäme mich. Mir wäre im Traum nicht eingefallen, mich freiwillig zu melden, nicht einmal um länger bei Farouz zu sein, und nun kommt meine Stiefmutter, die gewöhnlich selbstsüchtig ist und sich über alles Mögliche beschwert, und will die Piraten begleiten, damit ich in Sicherheit bin.

»Ich verbiete es«, sagt Dad. »Ich lasse es einfach nicht zu.«

»Wenn du es verhindern willst, musst du schon selbst gehen.« Sie sieht ihn an und fordert ihn heraus.

Dad erwidert ihren Blick, dann schlägt er die Augen nieder und nimmt den Arm von meinen Schultern. Es fühlt sich an wie ein Abschied, wie eine Niederlage.

»Ich kann nicht«, sagt er. »Das weißt du doch.« Dabei wendet er sich an mich.

Feigling!, denke ich, aber die Stiefmutter sieht ihn freundlich an, als sei ihr gerade erst etwas eingefallen.

»Nein«, stimmt sie ihm zu. »Natürlich nicht. Ich verstehe.«

»Was soll das?«, mische ich mich ein. »Er sollte gehen. Er ist der Mann.«

Die Stiefmutter will nichts davon wissen.

»Verstehst du nicht?«, sagt sie. »Er kann nicht.«

»Er kann«, widerspreche ich.

»Nein. Du hast schon deine Mutter verloren.«

»Was? Was hat sie damit zu tun?«

»Denk nach, Amy!«, drängt die Stiefmutter. »Was wird aus dir, wenn deinem Dad etwas zustößt

Ich denke nach und verstehe. Wenn ihm etwas passiert, habe ich gar keine Eltern mehr.

Ich starre Dad an.

»Ist das wahr?«, frage ich.

Er senkt den Blick.

»Ist das wahr?«, bohre ich.

Er antwortet nicht.

Feigling, denke ich noch einmal. Aber ich weiß nicht einmal, ob ich es ernst meine.

ABLAUFPLAN VERSION 2

EINGEREICHT VON JERRY CHRISTOPHER, VERHANDLUNGSFÜHRER DER GOLDBLATT BANK AN BORD DER HMS ENDEAVOUR, RATIFIZIERT VON ALLEN BETEILIGTEN

1. Um 15.00 Uhr wird die HMS Endeavour der Royal Navy auf Kanal 16 das Startsignal geben.

2. Alle Passagiere versammeln sich auf dem hinteren Deck. Die HMS Endeavour bestätigt die Anwesenheit aller Passagiere durch Fernbeobachtung. Die HMS Endeavour gibt das Signal zum Austausch.

3. Der Hubschrauber verlässt die HMS Endeavour und fliegt zu einem Punkt 200 Meter östlich der Daisy May. Der Hubschrauber aktiviert keine Waffen.

4. Drei Somalis verlassen die Daisy May mit einem Beiboot. Sie haben ein tragbares Sprechfunkgerät bei sich, das auf Kanal 16 eingestellt ist. Sie begeben sich unter den Hubschrauber.

5. Der Hubschrauber wirft Beutel mit drei Millionen US-Dollar in bar ab. Die Somalis bergen die Beutel aus dem Wasser und zählen nach, um festzustellen, ob die Summe vollständig übergeben wurde. Sie bestätigen der Daisy May über Funk, dass sie im Besitz der ersten Lösegeldzahlung sind.

6. Mr. James Fields, Miss Amy Fields und die Crew gehen an Bord eines Beiboots und fahren zur HMS Endeavour. Sobald sie dort eingetroffen sind, gibt die HMS Endeavour Signal an den Hubschrauber.

7. Der Hubschrauber wirft die restlichen zwei Millionen US-Dollar ab. Die Somalis zählen nach und bestätigen ihren Kollegen, dass sie im Besitz des gesamten Lösegelds sind.

8. Alle Somalis verlassen die Daisy May mit Mrs. Sarah Fields, die sie an den Strand begleiten wird. Die Somalis unter dem Hubschrauber fahren mit dem Geld zum Strand.

9. Alle Somalis, das Geld und Mrs. Fields erreichen den Strand.

10. Mrs. Fields steigt sofort in ein Motorboot um und fährt zur HMS Endeavour.

11. Ende des Austauschs.

Anmerkung: Falls Mrs. Fields nach Übergabe des Lösegelds ein Schaden zugefügt werden sollte, wird die HMS Endeavour umfassende Vergeltungsmaßnahmen einleiten.

»Inschallah, bald bist du zu Hause«, sagt Ahmed zu mir. »Inschallah.«

Um kurz vor 15.00 Uhr stehen wir wieder auf dem hinteren Deck und warten auf das Signal zum Austausch.

»Inschallah?«, frage ich.

»Wenn Allah will«, übersetzt Farouz.

Ahmed lächelt mich an.

»Lächle nicht so!«, sage ich. »Das letzte Mal wolltest du mich erschießen.«

»Nein!« Ahmed schüttelt den Kopf. »Weil Allah es nicht wollte.«

Ich sehe ihn an und überlege, ob er scherzt oder nicht. Aber er lächelt nur, und ihm ist nicht anzusehen, was er denkt.

Seufzend wende ich mich ab.

Wieder bewachen uns die beiden Piraten und halten die Waffen bereit. Meine Stiefmutter – Sarah – und mein Dad stehen an gegenüberliegenden Enden des Decks, betrachten einander und reden mit Blicken. Felipe und Tony sitzen auf den Holzplanken des Decks, als würden sie nicht daran glauben, dass es dieses Mal klappt, und als würde sie dies nicht weiter stören.

Wieder lässt uns die Marine warten.

Endlich knackt es im Funkgerät, das Ahmed in der Hand hält.

»Wir bestätigen die Sichtung der Geiseln«, sagt eine Stimme. »Der Austausch kann beginnen. Ich wiederhole: Der Austausch kann beginnen.«

Drei Piraten – mir ist nicht entgangen, dass Ahmed nicht dabei ist – entfernen sich mit stotterndem Außenbordmotor von der Jacht.

Vom Deck des Zerstörers hebt ein Hubschrauber ab. Er hält einen Moment lang inne, dann dreht er in unsere Richtung, ein rasch größer werdender schwarzer Punkt, bis er zwischen der Daisy May und dem großen Schiff der Marine in der Luft schwebt. Bald ist das Boot der Piraten unter ihm. Die Rotoren drücken ringsum die Wellen platt. In der stillen, heißen Luft macht der Hubschrauber einen schrecklichen Lärm, das Dröhnen der Rotorblätter ist überwältigend.

Aus dem Hubschrauber fällt etwas heraus und landet spritzend im Wasser. Ein Sportbeutel. Dann ein weiterer. Einer der Piraten beugt sich vor, fängt die Beutel mit einem Haken ein und zieht sie ins Boot. Der Hubschrauber schwebt über ihnen, während die Piraten die Behältnisse öffnen.

Das Funkgerät knistert, dann sagt jemand etwas auf Somali.

»In Ordnung«, antwortet Ahmed, »in Ordnung.« Er wendet sich an uns. »Drei Millionen«, verkündet er lächelnd. Dann deutet er auf das Beiboot der Jacht, das Tony bereits zu Wasser gelassen hat. »Ihr könnt fahren.«

Also ist der Augenblick gekommen. Ich starre das Rettungsboot an und werfe einen kurzen Blick zu Farouz hinüber.

Das Beiboot.

Farouz.

Das Beiboot.

Farouz.

Das Beiboot ist… die Freiheit. Aber was erwartet mich zu Hause? Wenn ich nun bleiben will, hier unter dieser Sonne, in Reichweite der Sands und der Büsche von Eyl?

Ich wende mich um und spähe zur Küste hinüber. Ein Geländewagen hüpft über die Dünen und hält neben den Booten, die am Strand liegen. Jemand steigt aus, stützt sich auf die offene Tür und hebt ein Fernglas an die Augen. Ich vermute, es ist der Kontaktmann der Piraten.

Kann ich nicht hierbleiben?, frage ich mich. Ich könnte doch einfach von der Jacht springen und mich zum Strand absetzen.

Beim Schnorcheln war ich ja schon im Wasser. Es ist warm. Ich könnte hineinspringen und schwimmen, in den Geländewagen steigen und mich wegbringen lassen.

»Amy.« Dad schiebt mich vorwärts. »Komm!«

Ich stolpere, dann laufe ich los. Jemand anders als ich setzt mich in Bewegung. Das ist gut, weil dieser Jemand mir die Entscheidung abnimmt. Ja, die Ironie ist mir durchaus bewusst.

Dad hält inne, ehe er in das Beiboot steigt.

»Du musst es nicht tun«, sagt er zur Stiefmutter.

»Doch«, erwidert sie.

Von der starken Sonne hat sie Sommersprossen bekommen, die sich auf der Nase ausbreiten. Sie sieht hübsch damit aus.

Dad seufzt und zögert, dann geht er auf sie zu und küsst sie auf die Wange.

»Danke«, sagt er. »Ich liebe dich dafür.«

Sie lächelt leicht.

»Hast du mich vorher nicht geliebt

»Doch«, bekräftigt er.

Und was ist mit mir? Was soll ich tun? Also, ich bleibe stehen, aber immerhin lächle ich, und da Sie mich inzwischen kennen, wissen Sie, dass das schon eine ganze Menge ist.

Sie erwidert das Lächeln und strahlt sogar, zeigt mir die weißen Zähne.

»Wenn Sie mal nach Somalia kommen, rufen Sie mich an.« Ahmed bricht den Bann. Es ist eine absurde Szene. Er reicht Dad einen Zettel, auf den er seine Telefonnummer geschrieben hat. »Ich zeige Ihnen das Land und führe Sie herum. Kommen Sie nach Puntland. Es ist sehr schön.«

Dad ist völlig verblüfft.

»Äh… vielen Dank«, sagt er.

»Ja, danke, Ahmed«, sage ich.

Allmählich begreife ich es. Die Entführung war für ihn nichts Persönliches. Sie war ein Job. Wir hatten viel Geld, er war arm. Er hat nur den Reichtum umverteilt, wie Miss Walker es in Wirtschaftswissenschaften erklärt hat.

Dann überschlagen sich die Ereignisse. Wir sind auf dem Deck, treten über ein Stückchen Meer hinweg, ein Fuß ist oben, der andere unten, und dann sind wir im Beiboot. Die Stiefmutter bleibt bei den Piraten auf der Jacht. Vom Meer steigt etwas kühlere Luft auf und hüllt uns ein. Tony, Damian und Felipe sind auch da. Es gibt Rettungswesten, die wir aber nicht anziehen. Das wäre lächerlich. Wir haben ein Funkgerät, mit dessen Hilfe Tony gerade berichtet, dass wir die Jacht verlassen haben und in Sicherheit sind.

Wartet!, denke ich. Dann spreche ich es laut aus.

»Wartet, wartet!«

»Was ist denn los, Amybärchen?«, fragt Dad.

Ich stehe auf und klettere wieder auf die Jacht. Es wackelt, fast falle ich hin. Die ganze Zeit fragt Dad mich, was los sei. Ich gehe auf die Stiefmutter zu.

»Fahr du mit Dad!«, sage ich zu ihr. »Ich übernehme das. Ich bin der Kollateralschaden.«

»Mach dich nicht lächerlich!«, erwidert die Stiefmutter. »Du bist noch ein Kind, du kannst das nicht.«

»Ich kann«, widerspreche ich. »Ich bin hier sogar sicherer als jeder andere.« Dabei blicke ich Farouz an.

»Was? Warum?«

»Das verstehst du nicht. Geh bitte! Steig ins Boot! Ich komme bald nach.«

»Was ist da los?«, ruft Tony vom Boot herauf. »Warum dauert das so lange?«

»Amy will bei ihnen bleiben«, erklärt die Stiefmutter. »Sie will mit mir tauschen.«

»Das kommt nicht infrage«, widerspricht Dad.

Ich stoße die Stiefmutter zum Boot.

»Bitte«, sage ich. »Bitte. So ist es einfacher.«

Schließlich stolpert sie zum Beiboot und steigt ein. Dads Gesicht ist rot angelaufen, Speichel spritzt ihm aus dem Mund.

»Amy Fields, komm sofort hierher!«, brüllt er.

»Nein«, antworte ich.

Ich rühre mich nicht.

Dann steigt Dad wieder aus, doch Tony hält ihn auf, und so geht diese lächerliche Aktion hin und her, bis Ahmed in die Luft schießt. Sofort knistert das Funkgerät, weil jemand wissen will, ob alles in Ordnung sei.

»Alles in Ordnung«, behauptet Ahmed.

»Was soll die Verzögerung?«, fragt die andere Seite.

Ahmed wendet sich an uns. »Nun macht schon!«, ruft er. »Wer soll bleiben? Wer fährt mit

Ich richte mich breitbeinig auf. »Ich bleibe hier.«

»Amy Fields, du wirst auf keinen Fall…«

»Dad, bitte!«, unterbreche ich ihn. »Mir wird nichts passieren. Versprochen. Lass es mich einfach tun!«

Er wirft mir einen langen Blick zu.

»Bitte«, wiederhole ich.

In diesem Augenblick fragt die Royal Navy schon wieder, warum alles so lange dauert.

»Wir haben keine Zeit dafür«, drängt Tony.

Dad sieht ihn entsetzt an.

»Ehrlich, dies gefährdet die ganze Operation«, fährt Tony fort. »Entscheiden Sie sich schnell!«

Auf dem Zerstörer treten die Truppen an. Wir können es genau erkennen.

»Fahren Sie!«, drängt Ahmed. »Los!«

»Kommen Sie!«, ruft Damian. »Wir können sie nicht zwingen.«

Dad funkelt ihn an, sagt aber nichts.

Damit ist die Sache anscheinend erledigt, denn Tony startet endlich den Außenbordmotor, und das kleine Boot entfernt sich von der Jacht.

Ich bleibe zurück.

Allein mit den Piraten.