34Als wir auf dem Deck stehen und das Beiboot beobachten, das sich mit Dad, der Stiefmutter, Damian, Tony und Felipe entfernt, als es wegfährt und sich dem Schiff der Royal Navy nähert, kommt über Ahmeds Funkgerät eine Meldung herein. Die drei Piraten haben offenbar den Rest des Lösegelds erhalten, denn Ahmed nickt und winkt uns, in die verbliebenen zwei Boote zu steigen. Das tun wir, und die Dünung empfängt uns und wiegt uns. Der Motor startet, wir gleiten rasch über die Wellen. Die kühle Gischt spritzt mir ins Gesicht.

Wenn ich von draußen zurückblicke, kommt mir die Jacht, die eine Weile unsere ganze Welt darstellte, geradezu winzig vor, und sie schrumpft immer weiter. Auf einmal kann ich nicht mehr glauben, dass wir so lange in diesem kleinen Gehäuse gelebt haben. Allerdings scheint mir mit wachsender Entfernung auch die Zeit nicht mehr so lang gewesen zu sein.

Ich fahre nach Somalia, denke ich benommen.

Als wir den Strand erreichen, deutet Ahmed auf meine Sportschuhe.

»Zieh aus!«, sagt er. »Sand frisst sie auf.«

Ich ziehe die Schuhe aus, springe barfuß aus dem Boot ins flache Wasser und staune, wie warm es ist. Die Sonne hat es stark erhitzt. Gleich darauf erreiche ich den trockenen Sand und stoße einen Schmerzensschrei aus, weil er unter den Füßen brennt. Ich halte mich an Farouz’ Arm fest. Ahmed starrt mich mit gerunzelter Stirn an.

Etwas weiter oben steht der Geländewagen. Ahmed trifft sich dort mit den drei Piraten, die das abgeworfene Lösegeld geborgen haben. Inzwischen haben auch sie mit dem Holzboot das Land erreicht. Ahmed nimmt ihnen einen schwarzen Sportbeutel ab und reicht ihn durch das Fenster dem Unbekannten, der dort drinnen sitzt. Ich nehme an, es ist ihr Sponsor Amir. Dann drehen die Räder des Geländewagens im Sand durch, der hoch in die Luft fliegt, und das Auto schießt davon. Erst setzt es im Halbkreis zurück, dann rast es die Dünen hinauf.

Danach tauchen zwei Pick-ups auf, die stärker ramponiert sind als der Geländewagen. Ich nehme an, diese Fahrzeuge gehören den Piraten. Die Männer laden ihre Sachen auf die Wagen.

Landeinwärts, hinter den Dünen, überblicke ich das Flachland und die Hütten, aus denen Eyl besteht. Einige Einwohner beobachten uns aus der Ferne, ich erkenne Vordächer, die zu Cafés gehören könnten. Darunter im Staub stehen Plastikmöbel. Hunde treiben sich herum. Bäume gibt es nicht, sie wachsen nur höher in den Bergen. Hier unten gedeihen lediglich Büsche.

Ich bin in Somalia, denke ich. Ich stehe auf dem Boden von Somalia.

Ein Pirat steigt in einen Pick-up und lässt die Fahrertür offen. Er winkt den anderen.

Ahmed deutet auf die Boote, mit denen wir gerade angekommen sind.

»Ich zeige dir Motor«, sagt er. »Dann fährst du.«

»Das ist nicht nötig«, antworte ich.

»Was?«

»Ich bleibe«, beharre ich. »Ich bleibe bei Farouz.«

Farouz hört seinen Namen und wird aufmerksam. Als er Ahmeds Miene bemerkt, kommt er auf uns zu.

»Was ist los?«, fragt er.

Ahmed redet auf Somali auf ihn ein.

Farouz weiß nicht, ob er lächeln oder die Stirn runzeln soll. Irgendwie tut er beides gleichzeitig.

»Das ist nicht möglich«, erklärt er mir.

»Natürlich ist es möglich«, antworte ich. »Ich kehre einfach nicht zurück.«

»Die Royal Navy!« Ahmed deutet auf den Zerstörer. »Die Royal Navy.«

»Die Marine wird uns angreifen«, ergänzt Farouz.

»Wie denn? Sie sind auf einem Schiff.«

»Sie haben einen Hubschrauber.«

»Das können sie doch nicht so einfach tun«, erwidere ich. »Dies ist somalisches Gebiet. Sie können nicht ohne Erlaubnis herüberfliegen.«

Ich habe keine Ahnung, ob es wahr ist, aber es kommt mir jedenfalls so vor.

Farouz hält inne. Er wendet sich an Ahmed und sagt etwas.

Ahmed hebt entnervt beide Hände und brüllt einen Befehl.

»Wenn du in Somalia bleibst«, erklärt Farouz, »sind wir… wie heißen sie noch gleich? Die Leute, mit denen niemand spricht

»Parias?«

»Ist das das richtige Wort? Ja, gut. Wir sind dann Parias. Die anderen Küstenwachen werden uns noch mehr hassen. Wir überleben, weil wir den Geiseln nichts antun. Wenn wir dich hierbehalten, brechen wir den Ehrenkodex. Andere werden leiden. Und dann wird uns die Royal Navy angreifen, sobald sie die Erlaubnis hat, die sie ganz bestimmt bekommt, und dann…«

»Ihr tut mir doch nichts«, widerspreche ich. »Ich bin freiwillig hier. Das sage ich ihnen. Ich schreibe an die Zeitungen in England und erkläre es ihnen.«

»Die andern Pir… ich meine, die anderen Küstenwachen wird es nicht kümmern. Sie werden sagen, wir hätten unsere eigenen Leute verraten.«

»Na und? Ihr habt ein paar Millionen Dollar und könnt tun, was immer ihr wollt.«

Das bringt ihn tatsächlich zum Nachdenken. Er übersetzt für Ahmed, der widerstrebend nickt. Auch er sieht ein, dass ich recht habe.

»Und überhaupt, sie müssen es ja nicht erfahren. Setzt einen Mann ins Boot, der sich eine Decke über den Kopf zieht. Schickt ihn zum Schiff! Bis sie es bemerken, sind wir längst weg. Ich steige mit euch in den Pick-up. Bitte!«, sage ich zu Ahmed. »Bitte, ich liebe ihn. Ich kann ihn nicht verlassen.«

»Du liebst Farouz?«

Ich nicke.

»Und Farouz? Liebt er dich auch?« Er sieht Farouz fragend an.

»Ja«, bestätigt Farouz.

Ahmed zappelt herum, reibt die Finger aneinander.

»Verdammt, verdammt. Na gut«, sagt er.