29Am nächsten Morgen ging ich in meine Kabine, um mir eine DVD anzusehen, konnte mich aber nicht konzentrieren. Ich blickte immer wieder zu der Geige hinüber, die da im Schrank lag, und erinnerte mich an Farouz’ Worte. Auf einmal wollte ich ihm oder der Geige wehtun, je nachdem, wer oder was gerade greifbar war.

Ich nahm das Instrument an mich und ging durch den Korridor zum vorderen Deck, weil sich die anderen meistens hinten aufhielten. Dort aßen die Piraten auch ihre gewaltigen Portionen Nudeln. Über dem Indischen Ozean ging die Sonne auf und stand riesig über dem ewig unruhigen Meer. Auf der anderen Seite der Jacht lag der Strand. Seltsam, dass wir so dicht an der Küste und zugleich so fern waren! Dort drüben, zum Greifen nahe, lag Somalia. Die Sonne besuchte das Land jeden Morgen, versank hinter dem Horizont und ging am Morgen darüber auf, doch ich hatte noch nie einen Fuß auf somalischen Boden gesetzt.

Gerade als ich hinüberspähte, lief ein Kamel vorbei. Ein Kamel! Ich hatte schon einige der Tiere von der Jacht aus beobachtet, so als nähmen wir an einer verrückten, irgendwie kranken Safari teil.

Ich beobachtete das Kamel, bis es hinter einer Düne verschwand, und blieb auch danach noch stehen, dachte an das Himmelskamel und wie Farouz mir die Sterne gezeigt hatte. Dann dachte ich gar nichts mehr und starrte nur noch auf den knorrigen Baum, der dicht am Wasser stand. Jeden Tag war der Baum da, tat nichts und stand einfach dort. Merkwürdig, wie man sich an solche Anblicke gewöhnt. Ich meine, sogar heute habe ich diesen Baum noch vor Augen. Wenn die ganze Welt durch eine Invasion von Außerirdischen zum Teufel ginge und ich auf einem Felsbrocken durch den Weltraum rasen würde, diesen Baum hätte ich sofort erkannt, falls er vorbeigeflogen wäre.

Aber soweit ich es voraussagen konnte, würde ich ihn niemals berühren.

Also stand ich eine Weile da und hegte dumme Gedanken, zum Beispiel dass ich ziemlich allein war, obwohl über mir auf der Brücke ein Wächter stand. Natürlich waren immer Wächter in der Nähe.

Ich blickte ins Wasser hinunter, dachte an die Schildkröte und wog die Geige in der Hand. Sie war zugleich schwer und leicht. Obwohl ich so viele Monate nicht gespielt hatte, fühlte sie sich immer noch wie etwas ganz Besonderes an. Wie eine Opfergabe.

Ich hielt die Geige über das Wasser und war bereit, sie fallen zu lassen.

»Tu’s nicht!«, sagte Farouz hinter mir.

Ich wandte den Kopf.

»Warum nicht? Es ist doch sowieso alles egal. Und spiel mir nicht vor, es würde dir etwas ausmachen!«

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich habe dich wieder geärgert. Entschuldigung.«

»Es tut dir leid? Hier ist unser Leben in Gefahr. Wir könnten sterben.«

»Nein. Dein Vater muss mehr Geld zahlen, das ist alles.«

»Oh, das ist alles?«, antwortete ich verbittert. »Damit du eine Million mehr bekommst oder so? Du armer Kerl.«

Ich erwähnte nicht, dass ich ihm beim Oudspielen zugesehen hatte, wie ausgeschlossen ich mich dabei gefühlt hatte, wie ich erkannt hatte, dass er mich nicht brauchte. Mir war klar, wie verrückt und eifersüchtig das geklungen hätte, und es hätte ihm nur einen weiteren Vorteil verschafft.

Farouz wich einen Schritt zurück. Er hob die Hände, als wolle er etwas sagen, aber in diesem Augenblick rief Ahmed ihn von drinnen.

»Farouz! Farouz!«

»O ja!«, rief ich. »Geh zu deinem Boss! Geh und sieh nach, was er will! Sorg dafür, dass er sich wohlfühlt! So wie du zu ihm gegangen bist und ihm alles über meinen Dad erzählt hast.«

Farouz seufzte.

»Du hast auch gelogen«, antwortete er. »Was die Besitzer der Jacht angeht.«

»Das ist was anderes«, gab ich zurück. »Ihr habt uns als Geiseln genommen. Und außerdem – gerade als ich dich wieder etwas mehr mochte, hast du deinem verdammten Boss erzählt, dass mein Dad ihn angelogen hat. Deinem Boss, der einen Haufen Männer mit Waffen befehligt, dich natürlich eingeschlossen.«

»Das musste ich«, behauptete er.

»Oh, natürlich musstest du. Für deinen lieben Bruder.«

Er stieß eine dünne Rauchwolke aus.

»Nein. Ahmed ist selbst darauf gekommen. Ich saß am Computer, um den Plan anzusehen, den die Royal Navy geschickt hatte. Er bemerkte das Wort Besitzer. Er kann gut genug Englisch, um das Wort zu verstehen, und ließ mich den Rest übersetzen.«

»Und das hast du auch getan.«

»Natürlich. Was erwartest du?«

Ich zog die Knie an den Oberkörper.

»Es ist sicher nur Zufall, dass du nun auch mehr Geld bekommst.«

»Auf diese Weise bleibe ich am Leben«, erwiderte er so wütend, wie ich ihn noch nie hatte sprechen hören. »Was geschieht, wenn ich beim Übersetzen lüge? Was geschieht, wenn Ahmed Nyesh bittet, die E-Mail zu lesen? Ich bekomme keine Geldstrafe. Ich sterbe.«

»Oh«, machte ich kleinlaut.

»Bitte«, fuhr Farouz fort, »wirf die Geige nicht weg, ja? Ich erkläre dir alles. Du wirst es verstehen, das verspreche ich dir. Wir treffen uns heute Abend hier, wo ich dir die Sterne und das Kamel gezeigt habe. Ja?«

»Ich kann nicht«, wehrte ich ab. »Mein Dad.«

»Du kannst dich nach draußen schleichen«, schlug er vor. »Wenn er schläft. Alles wird gut, da kannst du sicher sein.«

Ich war wütend auf ihn, aber in der Art, wie er sprach, mit seinen grauen Augen im Morgenlicht, lag etwas ganz Besonderes. So gern ich ihm auch gesagt hätte, wohin er sich seine Versprechungen stecken solle, ich brachte kein Wort über die Lippen und nickte nur. Ich vertraute ihm.

Ich war eine Närrin. Nicht weil ich ihm nicht hätte trauen sollen. Nicht wegen der vergangenen, sondern wegen der darauffolgenden Ereignisse.

Hätte ich nicht genickt, sondern geflucht, hätte ich die Geige ins Meer geworfen und wäre gegangen, ohne mich umzusehen, wäre vieles vielleicht anders verlaufen.

Vielleicht hätte dann niemand sterben müssen.