12»Die Armbanduhr meiner Tochter«, erklärte Dad. »Man hat sie ihr noch nicht zurückgegeben.«

Das war am nächsten Tag.

Wir sechs hatten im Kino auf Sofas, Lehnstühlen und behelfsmäßigen Betten aus Kissen eine weitere ungemütliche Nacht verbracht. Tony sah etwas besser aus. Die Stiefmutter hatte anscheinend einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert und war nun doch nicht völlig nutzlos. Sie hatte die Wunde mit Jod desinfiziert, einen frischen Verband angelegt und ihm ein Schmerzmittel gegeben. »Codein«, hatte Dad erklärt. »Extra stark.« Sekunden später war Tony eingeschlafen.

Jetzt standen wir auf dem Deck. Es war nicht mehr ganz so heiß, weil Damian auf der Brücke war und die Maschine gestartet hatte. Wir waren nach Eyl unterwegs und bekamen dank des Fahrtwinds eine kühlende Brise ab. Ich war erleichtert, dass es nicht mehr so brüllend heiß war, obwohl die Sonne die fernen Wellenkämme immer noch mit hüpfenden grellen Diamanten überzog. Die Schaumkronen veränderten sich unentwegt, und ich gewann den Eindruck, das Meer, das in Wirklichkeit eher träge schwappte, rase mit ungeheurer Geschwindigkeit an uns vorbei.

Das Licht ist so schnell, dass es stillzustehen scheint, dachte ich. Das Wasser ist langsam und scheint zu rasen.

Dad bedrängte Ahmed wegen meiner Armbanduhr. Ahmed breitete die Arme aus. Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?, schien er zu fragen.

»Die Uhr ist ein Erinnerungsstück«, erklärte Dad. »Die anderen Sachen sind uns nicht so wichtig. Sie können die iPods und Laptops behalten…«

»He!«, warnte ihn die Stiefmutter. Dad winkte ihr, sie solle den Mund halten.

»Aber die Uhr«, fuhr er fort. »Meine… meine verstorbene Frau hat sie meiner Tochter geschenkt. Sie bedeutet ihr sehr viel.«

»Was?«

»Die Uhr. In Geld ist sie nicht viel wert. Der Wert ist…« Dad deutete auf seine Brust, auf sein Herz. »Es geht um Gefühle.«

Ahmed verstand ihn offensichtlich nicht. Er rief dem Wächter an der Haupttür, die zu den unteren Decks führte, etwas zu. Es war Totauge, der meine Uhr an sich genommen hatte. Totauge rief etwas zurück, und kurz danach tauchte Farouz auf.

Seine Haare, sie waren mittellang, pechschwarz und leicht gewellt, standen hinten ab, als habe man ihn aus dem Schlaf gerissen. Ich verspürte auf einmal das Bedürfnis, ihm die Haare zu glätten und die Form seines Schädels zu spüren. Der Drang war so stark, dass ich die Hände zu Fäusten ballte und mir die Fingernägel in die Handflächen bohrte.

Ahmed deutete auf Farouz, der etwas verwirrt vor uns stand.

»Reden Sie mit Farouz!«, forderte er meinen Dad auf.

Dad erklärte noch einmal, die Uhr sei ein Erinnerungsstück.

Farouz nickte. Seine Haare flehten mich immer noch an, sie zu berühren. Er übersetzte für Ahmed. Der machte lautlos »Ah!« und wandte sich an Dad.

»Wer hat

Dad deutete auf Totauge, der mürrisch an der Reling lümmelte.

Ahmed schrie den Mann an.

Totauge schrie zurück.

»Er sagt, er hat nicht.« Ahmed hob die Schultern.

Ich weiß, es war naiv, aber diese dreiste Lüge versetzte mich in Zorn. Ich starrte Totauge an.

»Er hat sie!«, beharrte ich. Selbst in den eigenen Ohren klang ich quengelig wie ein kleines Mädchen. »Er hat die Uhr genommen. Ich habe gesehen, dass er sie getragen hat.«

»Tut mir leid«, entgegnete Ahmed. »Er bekommt eine Geldbuße. In Ordnung?«

Dies war das zweite Mal, dass ich etwas von einer Geldbuße hörte.

»Was meinen Sie mit einer Geldbuße?«, fragte Dad.

Ahmed antwortete betont geduldig, als sei Dad ein Idiot.

»Ich nehme von…« Hilfe suchend wandte er sich an Farouz.

»Von seinem Anteil«, erklärte Farouz. »Ahmed zieht den Wert der Uhr von Mohammeds Anteil am Lösegeld ab.«

»Aber die Uhr ist vor allem ein Erinnerungsstück«, wiederholte Dad.

Farouz hob die Hände.

»Ahmed kann keine Gefühle abziehen.«

»Mein Gott!«, stöhnte Dad. »Was kümmert mich sein Anteil? Es ist nicht einmal sein Geld. Sie stehlen es von… von den Besitzern der Jacht.«

Über uns, ein Stück im Norden, war ein Dröhnen zu hören. Ahmed und Farouz blickten nach oben. Die anderen Piraten folgten ihrem Beispiel. Ein schwarzer Fleck am Horizont wuchs langsam zu einem Spielzeughubschrauber heran, dann zu einem schwarzen, gefährlich aussehenden echten Hubschrauber. Er flog niedrig in einem Bogen über die Jacht hinweg. An den Seiten erkannte ich militärische Abzeichen, und es blitzte, als jemand uns mit einem Fernglas beobachtete. Einer der Piraten schoss auf den Hubschrauber. Das Rattern war schockierend laut. Der Hubschrauber zog hoch, flog noch einen Bogen um die Jacht und entfernte sich wieder.

»Rettungskräfte! Sie werden uns retten«, sagte die Stiefmutter.

»Nein«, antwortete Dad. »Sie überprüfen nur die Lage. Das war eine Erkundungsmission. Sie dürfen nichts riskieren.«

Der Hubschrauber war aber immerhin ein deutliches Zeichen, auch wenn sich die Piraten nicht im Mindesten stören ließen. Sie gaben nicht einmal Kommentare dazu ab, sondern machten weiter wie zuvor.

»Also«, sagte Ahmed, »er bekommt Geldbuße. Wir vergessen die Sache. In Ordnung?«

»Nein«, antwortete Dad. »Es ist überhaupt nicht in Ordnung. Es ist…«

»Dad«, schaltete ich mich ein, »lass es gut sein, ja?«

Ich wollte wieder nach drinnen gehen. Dann fiel mir etwas ein.

»Diese Zahlen an den Türen«, fragte ich Farouz, »sind das auch Geldbußen?«

»Ja«, bestätigte er, als wäre es etwas völlig Alltägliches. »Alle haben aus den Kabinen gestohlen. Dein Vater hat Ahmed gebeten, es zu unterbinden, und deshalb bestraft Ahmed jeden, der die Räume betritt.«

»Wenn also jemand die Kabine meines Vaters betritt, kostet ihn das tausend Dollar?«, hakte ich nach.

»Ja. Das ist normal. Und der Mann, der deinen Freund angeschossen hat

»Tony.«

»Nicht Tony!« Farouz’ Augen funkelten wild. Es war das erste Mal, dass ich ihn wütend sah. Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück. »Nummer Vier. Der Mann, der Nummer Vier angeschossen hat, verliert zehntausend Dollar.«

»Mein Gott«, sagte ich. »Und wie hoch ist die Strafe, wenn ihr einen von uns tötet

»Fünfzigtausend Dollar«, erklärte Farouz ohne Zögern. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass ich nur gescherzt hatte. Auf meinem Oberkörper breitete sich Raureif aus.