35Wir steigen in einen Pick-up. Der Motor startet, wir fahren los und beschleunigen. Nach dem langen Aufenthalt auf der Jacht habe ich Bewegungen wie diese ganz vergessen. Die jähe Beschleunigung, das Gefühl, von einer Schleuder abgeschossen zu werden, der Treibstoff, der die Kraft erzeugt.

Nachdem die Pick-ups durch die Dünen geholpert sind, legen wir in Eyl eine Pause ein. Die Piraten sind offensichtlich nervös, viel nervöser als ich, und halten die ganze Zeit die Waffen umklammert. Ich glaube, dies wäre eine gute Gelegenheit, einen Vorstoß zu wagen und das Geld zu stehlen. Die Piraten haben natürlich Angst davor. Ich nehme an, deshalb haben sie das Geld auf zwei Wagen verteilt. Wenn einer angegriffen wird, ist nicht das ganze Geld verloren.

Ich weiß nicht, warum ich so gelassen über all dies nachdenke. Wenn einer der Trucks angegriffen wird, kann es durchaus jener sein, in dem ich sitze, und ich werde sterben.

Die Piraten halten im Ort an, weil sie in einigen kleinen Läden Schulden haben. Wahrscheinlich sind es die Händler, die Zigaretten, Wasser und so weiter geliefert haben. Ahmed verteilt ein paar Bündel Geld, als wäre Weihnachten. Räudige Hunde folgen uns, während wir von Geschäft zu Geschäft gehen. Die Knöchel der Hand, mit der Farouz seine Waffe festhält, sind weiß angelaufen. Alte Männer sitzen vor den Cafés im Schatten und kauen Khat. Ein blinder Bettler hockt am Straßenrand und streckt die Hände aus.

Schließlich kehren wir zu den Pick-ups zurück und fahren auf der trockenen Straße weiter. Eigentlich ist es eher eine Staubpiste. Die Anspannung lässt ein wenig nach. Wir fahren auf die Hügel hinauf, hinter uns steigt eine braune Staubwolke empor. Vor uns ragen weiße Berggipfel auf. Wir halten auf sie zu und dringen auf der gewundenen Straße ins Bergland vor.

Dad wird ausrasten, denke ich. Mir ist klar, dass ihm mein Verschwinden wehtut. Aber irgendwie bringe ich es nicht über mich, mir deswegen Sorgen zu machen. Die Wahrheit ist – Mom hat mich verlassen, aber danach hat mich auch Dad verlassen. Das ist schwer zu verzeihen, weil mein Dad noch lebt. Ich meine, sein Körper ist eine Hülle, die irgendein Hochstapler durch die Gegend schleppt. Ein Einsiedlerkrebs, der nach Moms Tod das Gehäuse übernommen hat.

Das ist ganz allein seine Schuld. Das rede ich mir ein, während der Jeep tiefer in das Land Somalia hineinfährt.

Auf einem haarsträubenden Pass durchqueren wir die Berge, dann ähnelt die Piste immer mehr einer Straße, bis wir auf der anderen Seite eine Ebene erreichen, durch die so etwas wie ein Highway verläuft. Inzwischen begegnen wir auch anderen Menschen, hin und wieder einem verbeulten Auto oder einem Mann mit einem Eselskarren. Ringsum erstreckt sich die Wüste, die vor Hitze flimmert. In der Ferne entdecke ich eine Baumgruppe, vielleicht eine Oase.

Ich bin in Somalia, denke ich wieder. In der Wüste. Wir fahren zu einem Ort, von dem ich bisher allenfalls gehört habe.

Galkayo. Als wir Stunden später die Wüste verlassen und den Ort erreichen, sieht er genauso aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Niedrige Häuser, die meisten gekalkt, um die Tageshitze abzuhalten. Sie haben flache Dächer, auf denen hier und dort Störche nisten. Was mich überrascht, ist ein Stadtviertel mit Häusern, die man auch in Kalifornien zu sehen bekommt. Sie sind zwei oder drei Stockwerke hoch, vor dem Eingang stehen Säulen. Vor einem der Gebäude parkt ein glänzender, neuer schwarzer Chevrolet, vor einem anderen ein silberner Mercedes.

»Piraten?«, frage ich Farouz.

»Ja«, bestätigt er.

Er hält meine Hand. Er hat die ganze Zeit, als wir hinten im Truck gesessen haben, meine Hand gehalten. Es gibt keine Klimaanlage, deshalb habe ich das Fenster ganz heruntergekurbelt. Der Wind fegt herein, meine Haare flattern.

»Wir kaufen so ein Auto«, sagt er. »Oder wir gehen weg. Wie du willst.«

Wie ein blauer Edelstein hebt sich ein Swimmingpool vom braunen Sand und Staub ab.

»Lass uns ein Haus kaufen«, sage ich. »Ein Haus mit einem Pool. Dann sind wir wie Darod und Dombiro in ihrer Oase.«

»Gut«, stimmt Farouz zu.

Hinter den Häusern der reichen Piraten stehen einstöckige Gebäude. Hier sind viel mehr Menschen auf der Straße. Die meisten sitzen auf dem Boden. Es gibt kleine Geschäfte mit offener Vorderfront und Zeichen in einer Sprache, die ich nicht lesen kann. Es ist schwer zu erkennen, was diese Geschäfte überhaupt verkaufen. Manche Frauen tragen ihre Säuglinge mit Tüchern am Körper. Wir sehen Männer, die ein Bein verloren haben.

»Der Krieg«, erklärt Farouz.

»Welcher Krieg?« Ich weiß ja von ihm, dass es mehrere Kriege gab.

»Oh, ich weiß nicht«, antwortet er. »Es gibt immer irgendeinen Krieg.«

Nach etwa einer halben Stunde hält Ahmed vor einem bestimmten Laden an. Wenigstens glaube ich, dass es um den Laden geht, weil er drinnen verschwindet, wieder auftaucht und uns mit einer ruckartigen Kopfbewegung zu verstehen gibt, wir sollen ihm folgen. Wir steigen aus. Farouz nimmt einen der Geldbeutel mit. Ein Pirat aus dem anderen Pick-up – ich glaube, es ist Asiz – hat den zweiten Beutel. Wieder liegen ihre Finger an den Abzügen der Waffen. Ich bin inzwischen ziemlich überwältigt – von der Hitze, von den starken Gerüchen, von den blökenden und schnatternden Tieren.

Zwei Leute beobachten uns und besonders mich – das weiße Mädchen mit den somalischen Männern –, als wir hineingehen. Dann stehen wir im vergleichsweise finsteren Verkaufsraum inmitten von Dosen und Schachteln mit seltsam aussehendem Essen. Ich erkenne die Packungen mit den Nudeln, die die Piraten in dem großen Topf an Bord stundenlang gekocht und gegessen haben.

Aus dem Zwielicht taucht ein dicker Mann auf, der Ahmed und dann auch Farouz umarmt. Er winkt uns tiefer in den Laden hinein. Hinter dem dunklen Bereich erwartet uns ein hell beleuchteter Raum, der ein Wohnzimmer sein könnte. Auf dem Boden liegt ein Teppich, an der Decke hängt eine nackte Glühbirne. Der dicke Mann zieht sich respektvoll zurück.

Ahmed legt die Sportbeutel auf einen kleinen Tisch, der auf dem Teppich steht, überprüft einen Zettel, den er aus der Hosentasche zieht, und zählt Bündel von Geldscheinen ab. Piraten treten ein, bleiben vor ihm stehen, bekommen ihr Geld und verlassen den Laden wieder. Sie nicken dankbar. Einige kneifen überrascht die Augen zusammen, als sie mich bemerken. Zwei werfen Ahmed fragende Blicke zu, doch der winkt nur ab.

Schließlich sind nur noch Farouz und ich anwesend. Ahmed reicht Farouz einen Beutel mit dem verbliebenen Geld. Die Szene kommt mir vor wie eine Lösegeldübergabe im Film.

Es ist ja tatsächlich Lösegeld, sage ich mir. Im Grunde stehle ich meinem Vater das Geld. Ich muss kichern, worauf Ahmed mich böse anstarrt. Er sagt etwas zu Farouz.

»Ahmed meint, wir müssen vorsichtig sein. Mohammeds Familie sinnt womöglich auf Rache.«

Der Gedanke ernüchtert mich, also höre ich auf zu kichern. Farouz wirft sich die Tasche über die Schulter und umarmt Ahmed. Es ist keine dieser oberflächlichen männlichen Umarmungen, wie man sie in England sieht, sondern eine wirklich liebevolle Geste. Zu meiner Überraschung kommt Ahmed anschließend mit ausgebreiteten Armen auf mich zu und umarmt auch mich.

»Viel Glück«, sagt er. »Du wirst brauchen.«

»Danke«, antworte ich. »Vielen Dank.«

Ich meine es ernst.

Danach verlassen wir den Laden. Farouz schiebt die Pistole in die Hosentasche, aber sie zeichnet sich immer noch unter dem Stoff ab. Er führt mich durch schmale, gewundene Straßen, bis wir eine Hütte mit einer verrosteten Eisentür erreichen.

»Ist das dein Haus?«

»Im Augenblick ja.«

Drinnen zieht Farouz einen Sessel aus einer Ecke vor. Er ist weich und hat ein dickes Polster, dessen Füllung herausquillt. Darunter befindet sich ein Brett, das ein wirklich tiefes Loch im Boden verbirgt. Er nimmt einige Geldbündel aus dem Beutel, steckt sie sich in die Hosentasche und lässt den Sportbeutel in das Loch fallen.

»Und was nun?«, frage ich ihn.

Er küsst mich.

»Wir befreien meinen Bruder. Dann können wir alles tun, wozu wir Lust haben.«

»Das klingt gut.«

Er zwinkert mir zu.

»Vielleicht kaufen wir dir eine Geige. Und ich habe meine Oud. Wir könnten zusammen spielen.«

»Das wäre schön«, antworte ich.

Wir verlassen die Hütte und gehen durch die verrückten, geschäftigen Straßen zum Gefängnis. An einer Ecke hockt ein Affe auf einem Dach und schreit uns an.

Ich bin schockiert, als ich das Gefängnis sehe. Ich meine, ich hatte mir ein richtiges Gebäude mit mächtigen Mauern und bewaffneten Männern auf Wachtürmen vorgestellt. Dieses Gebäude ist jedoch vorn offen wie ein Geschäft, nur dass dort Gitter angebracht sind, hinter denen die Gefangenen hocken. Sie sind von der Straße aus deutlich zu sehen. Nebenan gibt es einen Stand, an dem ein Mann Hühner verkauft. Er nimmt sie von der Decke ab, wo er sie kopfüber festgebunden hat. Sie leben noch und wackeln mit den Köpfen. Wenn er sich eins schnappt, kreischt und gluckst es wie wild. Dann legt er es auf ein schmutziges Brett, auf dem das Blut steht, hackt den Kopf ab und wirft das Huhn in einen Eimer. Dort flattert es aufgeregt und wild umher. Sobald es aufhört, nimmt er es heraus und überreicht es demjenigen, der es gekauft hat.

»O Gott, ist das widerlich!«, sage ich.

Farouz zieht die Augenbrauen hoch.

»Früher konnte ich mir so etwas gar nicht leisten.«

Mir fällt auf, dass die Kunden, die für die Hühner anstehen, nicht so krank, verdreckt und unterernährt aussehen wie viele andere, die mir in Galkayo aufgefallen sind. Ich bekomme Schuldgefühle und wende mich wieder zu dem Gefängnis um.

Farouz geht an den Gitterstäben entlang und sucht offenbar seinen Bruder. Das Gebäude ist lang, in der Stadt hätte es fast einem Block entsprochen. Ich komme nicht darüber hinweg, wie die Männer dort zur Schau gestellt werden. Es ist eher ein Zoo als ein Gefängnis.

Schließlich bleibt Farouz vor einem Mann stehen, der von innen die Gitterstäbe umklammert hält. Der Mann sieht ihm ähnlich, ist aber älter und sichtlich angeschlagen. Er sieht aus wie Farouz, den man verschleppt, mit Dreck eingerieben, verprügelt und gezwungen hat, eine Flasche Wodka zu trinken, um ihn dann im Straßengraben liegen zu lassen.

»Abdirashid.«

»Farouz.«

Sie sprechen auf Somali, die Stimmen harmonieren gut miteinander wie zwei passende Puzzleteile, die Worte fügen sich mühelos in die Pausen, die der andere lässt. Insgesamt klingt es wie fließendes Wasser.

Sie unterhalten sich eine Weile, dann bemerkt Farouz einen Wärter, der von hinten die riesige offene Gefängniszelle betreten hat, und winkt ihn zu sich.

Der Aufseher schlendert herbei und schiebt Abdirashid mit einem Stock zur Seite. Böse funkelt er Farouz an. Er ist so groß wie ein Ochse und hat einen gemeinen Gesichtsausdruck. Farouz sagt etwas zu ihm, was dem Mann offenbar nicht gefällt, weil seine Miene noch finsterer wird. Dann zieht Farouz ein Bündel Geldscheine aus der Tasche und reicht es dem Wärter durch die Gitterstäbe. Einfach so, bitte, da hast du.

Elegant wie ein Magier lässt der Aufseher das Geld in der Hosentasche verschwinden. Er nickt, sagt etwas zu mir und lacht.

»Was hat er gesagt?«, frage ich.

»Er sagt, du bringst mir Glück. Er hat nicht geglaubt, dass ich das Geld beschaffe.«

»Dann lässt er deinen Bruder frei?«, frage ich.

Farouz schiebt eine Hand durch das Gitter und drückt seinem Bruder die Hand. Sein Bruder lächelt, hat aber auch Tränen in den Augen.

»Ja«, antwortet Farouz. »Ja, er lässt ihn frei.«

Ich sehe ihn an, dann den Bruder, der ihm so ähnlich ist, dann wieder Farouz.

»Gut«, sage ich. »Das freut mich für dich.«

Es freut mich wirklich. Ich bin so glücklich, dass ich platzen könnte wie eine schillernde Seifenblase an einem sonnigen Tag, in der alle Regenbogenfarben aufblitzen, während sie in der Luft schwebt, bis sie mit einem leisen Plopp zerbirst und die Tropfen fliegen lässt.

Nein.

Nein, so läuft es nicht ab.

Aber danach stelle ich es mir so vor. Ich stelle es mir immer wieder vor, bis ich die Szene unglaublich lebendig vor mir sehe.

Wie einen Film.

Einen Film, den ich mir ansehen kann, wann immer ich will.

Jetzt kommt der Teil, der wahr ist.

Ich habe die Jacht verlassen und sitze im Beiboot. Wartet!, denke ich. Dann spreche ich es laut aus.

»Wartet, wartet!«

»Was ist denn los, Amybärchen?«, fragt Dad.

Ich stehe auf, steige aus und gehe auf die Stiefmutter zu.

»Fahr du mit Dad!«, sage ich zu ihr. »Ich übernehme das. Ich bin der Kollateralschaden.«

»Mach dich nicht lächerlich!«, erwidert die Stiefmutter. »Du bist noch ein Kind, du kannst das nicht.«

»Ich kann«, widerspreche ich. »Ich bin hier sogar sicherer als jeder andere.«

»Was? Warum?«

»Das verstehst du nicht. Geh bitte! Steig ins Boot! Ich komme bald nach.«

All das geschieht tatsächlich, genau wie ich sagte.

»Was ist da los?«, ruft Tony vom Boot herauf. »Warum dauert das so lange?«

»Amy will bei ihnen bleiben«, erklärt die Stiefmutter. »Sie will mit mir tauschen.«

»Das kommt nicht infrage«, widerspricht Dad.

Ich stoße die Stiefmutter zum Boot.

»Bitte«, sage ich. »Bitte. So ist es einfacher.«

Und damit

Damit hört es auf, so abzulaufen, wie ich es beschrieben habe. Nur bis hierher entspricht meine Schilderung der Wirklichkeit.

Dad brüllt mich nicht an und lässt es dann auf sich beruhen. Vielmehr steigt er aus und kommt auf das Deck hoch.

»Amy Fields«, ruft er, »du kommst sofort mit!«

Dann packt er mich an den Armen, hebt mich hoch und hievt mich ins Beiboot. Er wirft mich förmlich hinein, und ich lande auf dem aufgeblasenen Gummi. Der Aufprall ist so heftig, dass mir die Luft aus den Lungen entweicht. Ich liege da und starre Dad an, der hinter mir ins Boot springt.

»Starten Sie sofort den Motor!«, befiehlt er Tony.

Ich bin gelähmt, kann keinen Finger rühren.

Farouz sieht mich an, ich erwidere seinen Blick. Der Schock hat mir den Mund verschlossen, obwohl ich doch protestieren sollte. Ich sollte etwas tun, mich gegen meinen Dad wehren, vom Beiboot hinunterspringen. Den Platz der Stiefmutter einnehmen und bei den Piraten bleiben. Stattdessen fahre ich mit meinem Dad, mit Tony, Damian und Felipe davon. Ich kann mich nicht rühren, aber trotzdem fühlt es sich an, als liefe ich weg.

Tony startet den Motor, der spuckend zum Leben erwacht und röchelt wie ein Todgeweihter. Er legt die Hand an den Rumpf der Daisy May und hält uns in der Dünung auf Abstand.

Dies ist der Moment, denke ich. Dies ist der Augenblick, in dem ich etwas zu Farouz sagen sollte. Aber ich schweige, obwohl ich schon wieder atmen kann, obwohl ich sprechen könnte, wenn ich wollte. Ich sage kein Wort.

Das Funkgerät knistert.

»Hier ist die HMS Endeavour, melden Sie sich! Gibt es Probleme?«

»Kein Problem«, antwortet Tony. »Wir sind unterwegs.« Ahmed hebt die Hand zum Gruß.

»Auf Wiedersehen«, sagt er.

»Auf Wiedersehen«, antwortet Dad automatisch und höflich, wie die Briten es eben tun.

Ich sage immer noch nichts.

Ich denke, es müsste doch mehr Zeit bleiben. Aber hier ist die Lektion, die Sie hoffentlich nie lernen müssen: Manchmal hat man einfach nicht genug Zeit.

Ohne Zeichen des Abschieds lässt Tony den Rumpf los und gibt Gas. Der Außenbordmotor beendet sein Todesröcheln und dreht röhrend höher. Wir entfernen uns rasch von der Jacht.

Erst dann hebe ich den Kopf und sehe Farouz an.

Im Blickfeld Ahmeds und des anderen Wächters auf dem Deck, trotz der Männer auf dem Zerstörer, die alles beobachten, erwidert Farouz den Blick, hebt die Hand und winkt. Er winkt und hört nicht auf zu winken, während ich mich entferne, während das Meer die Kluft zwischen uns ausfüllt. Einen verrückten Moment lang will ich aus dem Boot springen und über die Wellen zu ihm rennen. Irgendwie weiß ich zwar, dass ich eigentlich schwimmen müsste, aber ich stelle mir vor, dass ich laufe. Ich laufe über das Wasser und schließe ihn in die Arme.

Aber natürlich tue ich das nicht, sondern bleibe im Boot.

Als wir so weit entfernt sind, dass ich sein Gesicht nicht mehr erkennen kann, legt er die Hand auf die Brust, auf sein Herz, und deutet auf mich. Er schenkt mir sein Herz, über die ganze Entfernung hinweg.

Ein starker Arm hilft mir auf das Deck der HMS Endeavour hinauf. Rings um mich sehe ich nichts als grau lackiertes Metall. Uniformierte Männer und Frauen sind in einer Reihe auf Deck angetreten und applaudieren, sobald wir dort ankommen. Die Frauen tragen weiße Hemden, schwarze Krawatten und niedliche kleine Kappen. Die Männer tragen Matrosenhemden mit großen Aufschlägen. Es kommt mir vor wie ein Bild aus fernster Vergangenheit.

Ich erröte, mein Blick irrt umher, ich suche etwas, woran ich mich festklammern kann. Wir haben überhaupt nichts dazu beigetragen, will ich einwenden. Sie haben uns auch keine Schmerzen zugefügt, jedenfalls nicht absichtlich. Sie haben uns nicht schlecht behandelt.

Aber ich schweige, weil sie alle so stolz sind, uns an Bord zu haben. Die meisten sind nicht viel älter als ich.

Dann kommt ein Mann im Leinenanzug, der nicht zur Royal Navy gehört, und schüttelt Dad die Hand.

»Jerry«, stellt er sich vor. »Ich bin von der Goldblatt Bank. Sie haben bei den Verhandlungen meine Stimme über Funk gehört. Dies ist Kapitän Campbell.«

Kapitän Campbell trägt seine Mütze, die Epauletten und was sonst dazugehört. Auch er schüttelt Dad die Hand.

»Ich entschuldige mich für die Situation mit dem Schlauchboot«, erklärt er. »Die Vorschriften verlangen, dass wir ein wenig mit dem Säbel rasseln und herausfinden, wie der Feind reagiert. Trotzdem, es tut mir leid.«

Dad sieht ihn einen Moment lang an, dann nickt er.

»Schon gut«, sagt er.

Nein, es ist überhaupt nicht gut, denke ich, aber niemand hört auf meine Gedanken.

»Sie waren alle so tapfer«, lobt uns der Kapitän mit einem leichten schottischen Akzent. »Wirklich tapfer.« Er wendet sich an Tony. »Und Sie wurden angeschossen? Unglaublich.«

»Es war nur eine Fleischwunde«, wehrt Tony ab.

»Nun ja«, fährt der Kapitän fort. »Es ist noch nicht ganz vorbei. Aber wir haben für Sie alle Kabinen mit Duschen vorbereitet, und Sie können telefonieren, mit wem immer Sie wollen.«

Wen will ich anrufen? Esme? Das käme mir so vor, als solle ich einen Alien oder einen Delfin anrufen. Irgendein Wesen, das mich sowieso nicht versteht. Hinter den Rippen tut mir etwas weh. Ich frage mich, ob mir gerade buchstäblich das Herz bricht, ob es so etwas wirklich gibt. Noch eine Stunde bis Sonnenuntergang. Die ersten Sterne sind schon aufgegangen und stehen blass am dunkelnden Himmel.

Den Großen Wagen sehe ich nicht.

Ich sehe das Kamel.

Und den fehlenden Schwanz.

Kapitän Campbell erteilt einem Untergebenen mit einem Nicken einen Befehl, und die Leute kommen und reichen uns Ferngläser.

»Wir dachten, Sie wollen vielleicht Missis Fields im Auge behalten«, sagt er. »Natürlich beobachten wir sie auch selbst. Auch vom Hubschrauber aus. Wir hätten nie eingewilligt, wenn wir ihre Sicherheit nicht garantieren könnten.«

»Sie mussten zustimmen«, sage ich und wundere mich selbst, dass ich den Gedanken laut ausgesprochen habe.

»Entschuldigung?«

»Ihnen ist doch nichts anderes übrig geblieben«, erkläre ich.

Ich weiß auch nicht, warum ich ihm das unter die Nase reibe. Ich glaube, er macht mich wütend, dieser Kerl mit seinem roten Haar, das sich unter der Mütze hervorkräuselt. Die Haarfarbe ist gar nicht das Problem. Vielmehr stört mich, dass er so tut, als hätte er alles unter Kontrolle, obwohl das nicht zutrifft. Die Piraten haben die Kontrolle, so war es von Anfang an.

»Die letzten drei Wochen waren schwierig«, schaltet sich Dad ein. »Bitte verzeihen Sie ihr!«

»Natürlich«, sagt Kapitän Campbell. »Natürlich. Entschuldigungen sind nicht nötig.«

Ich hebe das Fernglas an die Augen und beobachte den Hubschrauber, der den zweiten Teil des Lösegelds abwirft. Wieder bergen die Piraten den Beutel mit einem Haken und zählen nach. Über Tonys und Jerrys Funkgerät hören wir somalische Meldungen. Einige lange Augenblicke später verlässt das kleine Boot die Daisy May mit Ahmed, den anderen Piraten und der Stiefmutter.

Und mit Farouz

Farouz

Farouz ist an Bord. Ich betrachte die verwaschenen Sterne am Himmel und sehe seine Augen. Ich rieche das Meer und rieche seine Haut.

Durch das Fernglas kann ich das Boot recht gut beobachten. Meine Stiefmutter hockt zwischen Ahmed und Farouz, als die Wellen gegen den Rumpf schlagen. Sie wird kleiner, je näher sie der Küste kommt. Als sie dort eintrifft, sind die Menschen, die aussteigen und im Sand stehen, nur noch Silhouetten, Scherenschnitte. Die Stiefmutter kann ich aber noch erkennen, weil sie größer ist. Das liegt wohl an der westlichen Ernährung und Hygiene.

Mein Gott, denke ich. Mein Gott, Farouz. Er kehrt an den Ort zurück, wo seine Eltern getötet wurden und wo sein Bruder… wo seinem Bruder Schlimmes angetan wurde. Wo Ahmed dankbar ist, wenn er seinen Kindern etwas Codein und Paracetamol kaufen kann.

Aber wenigstens kann er seinen Bruder freikaufen, denke ich. Vielleicht gelingt es ihnen, nach Ägypten auszuwandern. Vielleicht sogar… nein, so weit will ich nicht denken… vielleicht kommt er eines Tages sogar nach England. Nach London.

Ja, vielleicht.

Am Strand findet zwischen den Scherenschnitten eine Unterhaltung statt.

»Was ist da los?«, fragt Dad. »Was passiert da? Warum kommt sie nicht zurück?«

»Flieger Eins, Lagebericht«, befiehlt Kapitän Campbell über das Funkgerät, das er von der Hüfte abgenommen hat.

»Hier ist Flieger Eins. Die Situation ist… einer der Piraten scheint mit der Geisel zu ringen, Sir…«

Ringsum entstehen schlagartig viele verschiedene laute Geräusche.

»Äh… nein, streichen Sie das, Sir. Der Pirat umarmt sie. Wiederhole: Der Pirat umarmt sie. Ende.«

Farouz, denke ich.

»Wiederholen Sie das, Flieger Eins!«, verlangt der Kapitän sichtlich verwirrt.

»Der Pirat hat die Geisel umarmt«, berichtet der Hubschrauberpilot. »Sie geht zum Boot… steigt ein… sie ist wohlauf, Sir. Sie ist unterwegs. Moment.«

Alle atmen hörbar auf.

»Ein Pirat hat… er winkt, Sir. Er winkt ihr nach. Ende.«

»In Ordnung, Flieger Eins.« Der Kapitän zieht die Augenbrauen hoch. »Ende und aus.«

Ich umarme mich selbst. Ich schlinge die Arme ganz fest um mich. Dad nimmt mich in den Arm. Wahrscheinlich denkt er, ich würde mir Sorgen wegen der Stiefmutter machen. Das beschert mir ein schlechtes Gewissen – nicht weiter schlimm, aber immerhin.

Der Punkt, das Boot der Stiefmutter, wächst zu einem Fleck heran, dann schält sich das Boot heraus und wird langsam größer. Die anderen beobachten es, ich blicke dagegen zu Farouz oder zu dem Scherenschnitt, den ich für Farouz halte.

Der Geländewagen, der schon am Strand gewartet hat, fährt auf die Piraten zu. Von der anderen Seite nähern sich zwei Pick-ups und halten unmittelbar vor den Männern, die am Strand stehen. Vor ihren Füßen erkenne ich die Umrisse der Sportbeutel. Durch das Fenster reichen die Piraten eine Tasche in den Geländewagen hinein. Der Geländewagen setzt zurück, der Sand spritzt hoch, und dann rast er davon. Der Sponsor, denke ich. Amir hat sich seinen Anteil geholt.

Danach laden die Piraten den Rest des Geldes auf einen Truck. Farouz ist bei ihnen, denke ich immer wieder wie eine Anrufung. Farouz ist einer von ihnen. Ich versuche, ihn an der Gestalt und am Profil zu erkennen, doch es gelingt mir nicht. Sie sind zu weit entfernt, und die Luft flimmert und wabert vor Hitze.

Alle Männer flimmern, nicht nur er.

Als sie in die Pick-ups einsteigen, sagt Kapitän Campbell neben mir mit ruhiger Stimme vier Worte. Ich weiß sofort, was sie bedeuten. Auf meiner Wirbelsäule wachsen Eiszapfen.

»Umschalten auf Kanal einundsiebzig«, sagt er.

Ich wende mich zu ihm um, bewege mich ganz langsam, als hätte sich die Luft in zähen Klebstoff verwandelt. Obwohl ich auf dem heißen Deck stehe, ist mir kalt. Ich habe böse Vorahnungen. Es fühlt sich an wie beim Schwimmen im Meer, wenn man in eine Strömung oder in die Mündung eines unsichtbaren Süßwasserzuflusses gerät. Auf einmal mischt sich in das warme Meerwasser eine Kälte, die die Haut stark abkühlt.

Er hebt das Funkgerät an den Mund.

»Hier ist Kapitän Campbell auf Kanal einundsiebzig. Hier ist Kapitän Campbell. Zugriff.«

Nein, denke ich. Bitte, nein. Nicht Kanal 71!

Es spielt natürlich keine Rolle, dass es gerade Kanal 71 ist. Es könnte jeder andere sein. Trotzdem, ich weiß, was dies bedeutet. Ich weiß es, weil es nicht Kanal 16 ist, denn das ist der Kanal, den die Piraten benutzen und überwachen. Es hätte jeder andere Kanal zwischen 1 und 100 sein können, nur eben nicht Kanal 16, und mir wären dieselben Eisfinger in den Rücken gefahren und hätten mich umklammert.

Irgendwie ist mir sofort klar, dass diese Zahl für mich von nun an eine besondere Bedeutung haben wird, ob ich nun einen Flug buche, in dem die Zahl 71 vorkommt, ob ich die 71 auf meinem Handy wähle, weil sie zufällig in der Nummer meines Gesprächspartners vorkommt, ob ich mir beim Bäcker, im Supermarkt oder an irgendeinem anderen unwichtigen Ort in der Welt, die ich Heimat genannt habe, eine Quittung geben lasse, auf der die Zahl 71 erscheint.

Der Kapitän wiederholt den Befehl.

»Flieger Eins, Zugriff!«

Der Hubschrauber, der schon auf dem Rückweg zum Zerstörer war, wendet und liegt einen Augenblick lang schräg in der Luft. Der Lärm erinnert mich an einen mächtigen Herzschlag, und wir ducken uns, als er die Luft auf uns herunterdrückt. Dann fliegt er zum Strand. Der Hubschrauber ist schnell, aber er ist auch langsam, denn ich fühle mit, was geschieht. Ich habe es dem Befehl entnommen und will, dass es nicht so weit kommt.

Natürlich kann ich es nicht verhindern.

Der Hubschrauber schwebt über dem Sand, die Pick-ups halten auf die Dünen zu, als wären sie fliehende Tiere, auf die der Schatten eines Falken fällt. Einen verrückten Moment lang denke ich sogar, sie könnten entkommen.

Ich sehe das Mündungsfeuer, ehe ich die große Kanone des Hubschraubers höre. Ich denke an Blitze, denn so sieht es doch aus, oder? Der Donner kommt erst eine Weile nach dem Blitz, nachdem der Himmel sich auf die Erde gestürzt hat. Erst sieht man die Zerstörung, dann hört man sie.

Die Geschosse rasen als brennender gelber Strom aus dem Hubschrauber und wirken dabei wie die Streifen, die sichtbar werden, wenn man eine Wunderkerze an den Augen vorbeischwenkt. Sie treffen einen Pick-up, der fliehen wollte und nicht schnell genug war. Ich weiß sofort, dass es der Truck ist, in den Farouz eingestiegen ist. Ich habe seinen Umriss und seine Schultern bemerkt, als er sich auf den Rücksitz zwängte.

»Das Geld, ihr verdammten Idioten!«, ruft Jerry, der Verhandlungsführer. »Das Geld!«

Niemand hört auf ihn.

Flammen schießen empor, die schwarzen Streben und die Seitenscheiben bleiben wie bei einer Röntgenaufnahme im Feuerball sichtbar, als der ganze Truck in die Luft fliegt, im Sand aufschlägt und liegen bleibt.

Erst später höre ich es auch. Die Explosion scheint trotz der Entfernung sogar den Zerstörer im Meer zu erschüttern, obwohl es keine Dünung gibt.

Dann wird der zweite Truck getroffen. Er schleudert, die Reifen sind zerstört, er überschlägt sich, rollt ein Stück weiter.

Dad nimmt den Arm von meiner Schulter. Ich frage mich, ob ich im Leben noch irgendwann irgendetwas fühlen werde. Dort am Strand, knapp einen Kilometer entfernt, steht der Pick-up in Flammen. Es läuft ab wie ein billiger Actionfilm. Der Truck, Farouz, das Geld, alles fliegt dort in die Luft und geht in der dicken schwarzen Rauchwolke auf, die in dem grausamen Wüstenwind Somalias hin und her flattert.

Ich erinnere mich an Farouz, wie er den Rauch einatmete, wie er die Sterne vom Himmel in die Lungen zu saugen schien, Jetzt ist er selbst der Rauch, denke ich. Und jetzt

O Gott, jetzt rieche ich es sogar. Der Wind treibt den Rauch herüber wie einen schwarzen Vogel. Es riecht nach Benzin und nach Schießpulver, ganz ähnlich wie bei Mohammed, der direkt über mir erschossen wurde. Also sieht man das Ende erst, dann hört man es, und zuletzt kommt der Gestank.

Dad sagt etwas.

Ich höre nicht hin. Ich sehe kaum noch etwas. Ich dachte, alle Konturen und Farben der Welt hätten sich verändert, als Farouz erschien, aber nun hat er diese Welt verlassen, und die Welt ist nur noch grau.

Ich schließe die Augen, ein tiefschwarzer Ozean umfängt mich, und ich ertrinke.