22Wortlos eilten wir über den Durchgang zum Heck der Jacht. Immer noch peitschten Schüsse durch die Nacht. Ich hatte keine Ahnung, warum ich zum Heck lief, aber Farouz bewegte sich in diese Richtung, und ich folgte ihm, ohne darüber nachzudenken.

Dad, dachte ich. So verrückt es auch klingen mag, ich dachte sogar an die Stiefmutter und hoffte, dass sie nicht erschossen worden war. Die Angst war ein Fisch, der in meinem Magen zappelte.

Aber als wir hinten ankamen, begriff ich, dass keiner der Passagiere beteiligt war. Die Piraten – Ahmed, Mohammed und zwei andere, deren Namen ich nicht kannte – knieten auf dem hinteren Deck und schossen aufs Meer. Anfangs erkannte ich nicht, worauf sie zielten, aber dann war dort draußen ebenfalls Mündungsfeuer zu sehen, und ich entdeckte ein kleines Boot, das auf den Wellen tanzte. Die Insassen schossen unablässig zu uns herüber.

Farouz riss meinen Kopf zurück, stieß mich zur Seite, zog die Pistole und richtete sie auf das Meer, um ebenfalls zu schießen. Er war höchstens einen Schritt von mir entfernt. Wenn ich sage, es war laut, dann würden Sie es nicht verstehen. Das liegt zum Teil daran, dass die Filme lügen. Sie zeigen Männer, die schießen und gleichzeitig miteinander reden. Würden die Filme die Wahrheit abbilden, dann gäbe es dort kaum noch Dialoge, denn wenn in Ihrer unmittelbaren Nähe eine Pistole abgefeuert wurde, können Sie bis auf Weiteres nichts mehr hören, nicht einmal die eigene Stimme.

Die Wahrheit ist: Der Lärm war für die Ohren das Gleiche wie ein grelles weißes Licht für die Augen. Er erfüllte meinen ganzen Kopf. Ich wollte etwas rufen oder Farouz fragen, was passiert sei, aber meine Stimme versagte und war nur noch als fernes Summen zu hören.

Einer der Piraten brach lautlos auf dem Deck zusammen, als hätte ihm jemand die Beine weggetreten. Blut spritzte ihm aus dem Kopf und sammelte sich in einer Lache auf dem Boden.

Farouz schoss weiter, ich ließ ihn keine Sekunde lang aus den Augen. Die Art, wie er schoss, verriet mir, dass er sich damit auskannte. Außerdem war sein Gesicht leer wie das einer Schaufensterpuppe. Das machte mir Angst. Es war, als sei er auf einmal ein ganz anderer Mensch. Ein gefährlicher Mensch.

Ein Pirat.

Die Welt war verstummt, ich hörte nur noch ein Kratzen oder Rauschen wie bei einem Radio, das keinen Sender empfängt. Darunter lag ein dumpfes Knacken, so etwas wie ein Taktschlag, und dann brach auf dem kleinen Boot drüben auf dem schwarzen Wasser ein Feuer aus und beleuchtete für einen Augenblick die ganze Szene: ein Stück helles Meer zwischen uns und dem kleinen Boot, die Silhouetten der Männer vor den Flammen wie bei einem Negativbild und dann

Als hätte jemand das Licht ausgeknipst, herrschte wieder tiefe Dunkelheit.

Mir dämmerte, dass das andere Boot explodiert war. Vermutlich hatte eine Kugel, vielleicht sogar aus Farouz’ Pistole, den Tank des Außenbordmotors getroffen.

Unsere Piraten – tatsächlich, ich betrachtete sie inzwischen als unsere persönlichen Piraten – ließen die Waffen sinken und traten zu dem Mann, der zusammengebrochen war. Sie stießen ihn mit den Zehen an. Farouz hatte mich anscheinend völlig vergessen. Er näherte sich den anderen und redete mit Ahmed. Mir schien, als betrachte der Anführer den Toten mit einer Mischung aus Trauer und Verärgerung. Mir war schleierhaft, wie Farouz etwas verstehen und sich mit Ahmed unterhalten konnte. Jedenfalls wandte er sich nicht zu mir um und hatte mich vermutlich vergessen. Vielleicht sollte ich auch verschwinden, damit niemand merkte, dass wir uns unterhalten hatten. Ich warf noch einen Blick auf das Blut, das sich im Licht der Lampe ausbreitete und als rotes Geäder in die Fugen zwischen den Brettern des Decks rann. Ich schlich zum vorderen Teil des Boots und von dort nach drinnen.

»Wo warst du?«, fragte Dad, als ich das Kino betrat. Jedenfalls bildeten seine Lippen die Frage. Außer dem falsch eingestellten Radio hörte ich immer noch nichts. »Was ist da draußen los?«, forschte er weiter und legte mir die Hände auf die Schultern.

»Ich hab Musik gehört.« Ich schwenkte den iPod. »Die Piraten haben mit anderen Leuten auf einem anderen Boot gekämpft. Darüber müssen wir uns keine Sorgen machen.«

»Warum schreist du so?«, fragte die Stiefmutter.

Es war mir gar nicht bewusst gewesen. Ich hatte nicht einmal meine eigenen Worte gehört.

»Sie waren von der Nördlichen Küstenwache«, berichtete Farouz am folgenden Tag.

Wir unterhielten uns mit gedämpften Stimmen, während einer der anderen Piraten die Ziegen mit Heu fütterte und Dad und die Stiefmutter im Esszimmer Scrabble spielten. Wir mussten leise reden. Ich meine, Farouz konnte alles verlieren, wenn er mir zu nahekam. Ich konnte alles verlieren, wenn ich ihm zu nahekam. Ich hatte ihn auf andere Menschen schießen sehen, er hatte nicht einmal gezögert. Ich fühlte mich… ich weiß auch nicht, als spräche ich gar nicht wirklich mit ihm, wenn ich flüsterte.

Als sei es sicherer.

»Andere Piraten?«, fragte ich.

»Küstenwächter, ja.«

»Aber… steht ihr nicht auf derselben Seite?«

Er lachte.

»Nein. Wir sind das Südliche Zentrum. Sie sind im Norden. Sie mögen uns nicht. Wir haben hundertvierzig Boote und fast tausend Männer. Geld von unserem Sponsor. Sie haben weniger, deshalb versuchen sie manchmal, die Schiffe zu übernehmen, die wir gekapert haben.«

Mir fiel ein, dass ich immer noch nicht wusste, wer sein Sponsor war, obwohl er ihn schon einmal erwähnt hatte.

»Dein Sponsor? Amir?«

»Ja, Amir.«

»Was bedeutet es, dass er der Sponsor ist

»Er ist ein Küstenwächter, der viel Geld verdient hat. Drei Millionen durch ein griechisches Containerschiff. Jetzt investiert er sein Geld in andere Leute. So funktioniert das.«

Während er erklärte, schafften zwei andere Piraten den toten Mann von der Jacht in eins der kleineren Boote. Sie hatten ihn in Decken gehüllt, auf denen ich das Abzeichen der Daisy May erkannte. Seit wir in Eyl ankerten, war es noch schwieriger, die Zahl der Piraten im Auge zu behalten, da sie ständig zwischen der Jacht und dem Strand hin- und herpendelten, Verstärkung und Vorräte abholten. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich schichtweise ablösten, als würden sie einem normalen Job nachgehen. Für sie war es wohl ein normaler Job. Die Einzigen, die ständig auf der Jacht blieben, waren Ahmed, Farouz und Mohammed.

»Was ist mit dem da?« Ich deutete auf den Toten.

»Seine Angehörigen bekommen hunderttausend Dollar, wenn wir das Lösegeld erhalten«, sagte Farouz.

»Was? Im Ernst

»Ja, natürlich. Als Entschädigung.«

»Aber… wie oft kommt es vor, dass Leute sterben? Piraten, meine ich.« Ich wagte nicht, nach den Geiseln zu fragen.

»Nicht sehr oft. Manchmal fallen sie ins Wasser. Viele können nicht schwimmen. Manchmal tötet die Marine einen Mann.«

»Die britische Marine?«

»Das weiß ich nicht. Es könnten auch die Amerikaner sein. Einmal haben sie zwei Jungs erwischt, es waren Freunde von mir. Sie waren zu nahe an einen Zerstörer herangekommen. In weißen Holzkisten haben sie die Toten dicht vor der Küste abgesetzt. An einem Ende stand KOPF in englischer Sprache. Ob sie wirklich glaubten, wir könnten das lesen? Ich meine, ich konnte es lesen, aber sonst kann keiner aus meiner Crew die englische Sprache lesen.«

»Wie schrecklich«, sagte ich.

»Ja. Nun, wenigstens haben sie die Toten zurückgegeben und die Familien konnten die Entschädigung beanspruchen.«

»Hunderttausend Dollar.«

»Ja.«

Das kleine Boot machte die Leinen los und tuckerte zum Strand, um den Leichnam abzuliefern. Ich beugte mich zu Farouz vor.

»Also…«, begann ich nervös. »Wie viel… ich meine, was erwartet ihr eigentlich von uns? Wie viel bekommst du persönlich?«

»Ich muss meinen Bruder befreien. Das sind fünfzigtausend.«

»Glaubst du denn, dass du mehr bekommst

»Das hoffe ich. Diese Jacht ist ein Traum für uns. So viele Leute an Bord, das ist das Wertvolle daran. Beim letzten Einsatz haben wir ein Containerschiff gekapert. Auf einem solchen Schiff arbeiten nicht viele. Als wir das Lösegeld teilten, war mein Anteil klein. Dies… dies ist meine Chance.«

»Es ist mein Leben«, antwortete ich.

Farouz wandte sich ab.

Im gleichen Augenblick dachte ich: ›Die Piraten verlangen einen Haufen Geld.‹ Ich wusste genau, wie sehr mein Dad das Geld liebte, und machte mir große Sorgen. Deshalb stellte ich Farouz noch einmal die Frage, die er nicht beantwortet hatte, weil uns die Schießerei unterbrochen hatte.

»Was passiert, wenn mein… wenn die Firma, der die Jacht gehört, nicht zahlt

Er sah mich wieder an und dachte nach.

»Wir halten euch weiter fest«, sagte er. »Vielleicht für ein Jahr. Das kostet, in Ziegen und Wasser gemessen, eine ganze Menge. Wenn es zu lange dauert, wird der Sponsor wütend, weil wir sein Geld verschwenden, und dann befiehlt uns Ahmed, euch zu töten.«

»O mein Gott!«, antwortete ich. »Und wenn er es befiehlt, wirst du dann…«

Farouz antwortete nicht. Er starrte nur auf den Boden und runzelte die Stirn.

O Gott, o Gott. Sie kennen doch bestimmt diese Zauberkugeln, bei denen eine Kugel in einer anderen in einer Flüssigkeit schwebt, und wenn man die äußere Kugel dreht, bewegt sich die innere unabhängig weiter? So fühlte sich mein Kopf an. Als hätte sich das Gehirn vom Schädel gelöst.

»Ist das dein Ernst?«, fragte ich.

»Mein Bruder…«

»O Gott«, sagte ich. »O Gott.«

Ich stand auf und stolperte nach drinnen, den Flur entlang ins Kino. Ich fühlte mich schwindelig. Oder schwebte ich? Farouz folgte mir nicht, aber Dad erschien wie aus dem Nichts und trat mir in den Weg.

»Ich habe gesehen, dass du mit dem Jungen geredet hast. Hat er dich geärgert

»Was? Ja. Ich meine, nein.«

»Amy«, sagte Dad, »ich weiß nicht, wo du gestern Abend gesteckt hast, aber Musik hast du sicher nicht gehört. Ich will nicht, dass du weiter mit ihm sprichst. In Ordnung? Du hättest erschossen werden können.«

»Hör auf, Dad!«

Gekränkt hob er beide Hände.

»Ich muss doch auf dich aufpassen.«

»Wirklich? Ich bin siebzehn. Und zu deiner Information – ich bin nicht an Farouz interessiert.« Das entsprach sogar der Wahrheit, denn in diesem Augenblick hasste ich Farouz.

»Farouz?«, fragte Dad.

»Ich meine diesen Typ da.«

Dads Miene erstarrte wie trocknender Putz.

»Hör mir zu!«, sagte er. »Du machst dir keine Vorstellung, wie gefährlich die Situation jetzt schon ist, auch ohne dass du dich in einen dieser Kerle verknallst.«

»Ich mache mir keine Vorstellung? Wir werden von Männern mit Gewehren bewacht, Dad.«

»Gut«, lenkte er ein. »Ich meine nur, dass diese Männer Piraten sind, Amy. Sie sind rücksichtslos.«

»Bitte«, erwiderte ich. »Sie waren Fischer, wusstest du das? Nach dem Sturz der Regierung sind Schiffe aus dem Westen in ihre Gewässer eingedrungen und haben den Fisch gestohlen. Daraufhin haben sie sich bewaffnet.«

»Was?«, sagte Dad. »Wer hat dir das erzählt

Ich antwortete nicht.

»Er war es, nicht wahr? Er hat dir diese Geschichte erzählt. Ist es nicht sehr bequem, sich als Robin Hood darzustellen?«

»Nun ja, sie sind nicht gerade reich. Ahmed hat nicht einmal Aspirin für seine Kinder.«

»Na gut.« Dads Miene wurde etwas weicher. »Ich muss zugeben, dass es hier kein reines Schwarz oder Weiß gibt. Trotzdem, du darfst nicht mit ihnen fraternisieren. Vielleicht willst du dich selbst umbringen, aber das solltest du nicht auch allen anderen zumuten.«

»Ich will mich nicht umbringen«, widersprach ich.

Er sah mich an.

»Wirklich nicht

Ich zögerte und dachte an Mom. Worauf wollte er hinaus? War ich wie sie? Hatte ich Todessehnsucht? Wenn sich ein Elternteil selbst tötet, hatte mir mal ein Schulberater erklärt, dann sei die Wahrscheinlichkeit sechsmal höher als normal, dass die Kinder ebenfalls Selbstmord begingen. Ich glaube, das sollte eine Warnung sein, auf mich aufzupassen. Natürlich begriff ich das und verstand, warum sich manche Kinder etwas antaten, nachdem es ihnen die Eltern vorgemacht hatten. Ich meine, das ist doch der einzige Weg, sie wiederzusehen, oder? Es ist, als folge man jemandem, der in einen Bus gestiegen ist. Man steigt ebenfalls ein.

Allerdings wusste ich ganz genau, dass ich nicht sterben wollte. Schließlich hatte ich Angst, nachdem Farouz mir nicht versprochen hatte, mich im Ernstfall am Leben zu lassen. Solche Angst verspürt man nicht, wenn man einen Todeswunsch hat.

»Ich will nicht sterben«, versicherte ich Dad.

»Gut«, entgegnete er etwas sanfter. »Es tut mir leid, Amy. Ich bin wirklich… ich will… ich mache mir Sorgen um dich und diesen Jungen. Er ist viel älter als du. Du glaubst, das spielt keine Rolle, aber es ist wichtig. Außerdem ist dir vielleicht entgangen, dass er ein verdammter Pirat ist.«

»Ich glaube doch gar nicht, dass es keine Rolle spielt«, entgegnete ich. »Ich denke nämlich überhaupt nichts.«

»Richtig«, bestätigte er. »Genau das ist das Problem.«

Die Wut erwachte in mir wie ein Kastenteufel.

»Ich soll dich nur nicht in Verlegenheit bringen, das ist alles. Genau wie bei den Prüfungen, durch die ich gerasselt bin.«

»Was?«

»Deine Tochter, die Tochter von James Fields, fraternisiert mit einem Piraten, wie du es ausdrückst. Das kannst du nicht ertragen, was?«

»Willst du damit sagen, dass du mit ihm…«

»Nein, das sage ich nicht! Ich sage, dass du es dir so vorstellst.«

»Ich stelle mir nichts vor«, erwiderte er. »Ich hab’s ja schon gesagt – ich mache mir Sorgen um dich, das ist alles.«

»Weil du es nicht ertragen könntest, wenn ich mit jemandem zusammen wäre, der arm und schwarz ist.«

Dad riss die Augen auf.

»Glaubst du das wirklich?«, fragte er.

Ich war nicht sicher. Bisher hatte ich noch gar nicht richtig darüber nachgedacht, dass Farouz schwarz oder wenigstens dunkelhäutig war. Ich meine, es war mir irgendwie gar nicht bewusst geworden. Deshalb war ich selbst überrascht, dass ich es so ausgedrückt hatte. Ich glaube, ich wollte Dad vor allem schockieren. Aber es war zu spät, um noch zu kneifen.

»Warum nicht?«, gab ich deshalb zurück. »Es ist doch wahr, oder?«

Dad seufzte.

»Ob du es glaubst oder nicht, ich mache mir Sorgen um dein Glück. Ich an deiner Stelle würde mich fragen: Wenn der Kerl kein Pirat wäre, wenn die Situation nicht so aufregend wäre, würde ich mich dann immer noch für ihn interessieren? Wenn er beispielsweise ein Elektriker zu Hause wäre oder auch ein Banker – wäre dieser Schauder dann trotzdem da?«

»Ich sagte doch schon, es gibt keinen Schauder.«

»Na gut, schön. Aber… denk bitte über meine Worte nach! Ja, Amybärchen?«

Als er so mit mir sprach, ließ ich die Schultern hängen und wollte nicht mehr mit ihm streiten.

»Ja, schon gut«, antwortete ich.

Er zögerte einen Moment zu lange und breitete linkisch die Arme aus.

Ich schüttelte den Kopf, wandte mich um und kehrte auf dem gleichen Weg zurück, auf dem ich gekommen war.

»Amy!«, sagte Dad.

»Was ist

»Nichts«, entgegnete er. »Nichts weiter.«

Natürlich hätte ich innehalten und auf ihn hören sollen. Das hätte ich tun sollen, aber ich tat es nicht.