15Am nächsten Tag schlich ich bedrückt umher und dachte über Farouz nach.

Ich dachte:

Mag er mich?

Steht er auf mich?

Bin ich allein mit dem Gefühl, es liege eine elektrische Ladung in der Luft, wenn er sich in der Nähe aufhält?

Ich kann mir vorstellen, dass viele Menschen sich ähnliche Gedanken machen, aber sicherlich nicht in Bezug auf Piraten, und dafür sollten sie dankbar sein.

Irgendwie mochte ich einfach nicht glauben, dass er an mir interessiert war. Wie ich schon sagte, ich bin nicht sonderlich attraktiv. Das Ungewöhnlichste an mir sind die grauen Augen, die ich von meiner Mutter geerbt habe. Sie sind wirklich grau, und das ist eine seltene Farbe. Wie das Meer, sagte mein Dad immer.

Natürlich kommt es nicht nur aufs Aussehen an – die wahre Schönheit liegt im Innern und dieser ganze Mist –, aber ich bin auch kein besonderer Mensch. Das muss ich begreifen, und es ist wichtig, dies zu betonen. Ich erzähle diese Geschichte, aber dabei interessiert mich die Geschichte und nicht meine eigene Person. Ich habe keine charmanten Eigenarten und nicht einmal ein erwähnenswertes Hobby. Ich kann nicht malen, nähen oder ein Blog schreiben, ich gehe nicht mal besonders gern einkaufen. Ich habe weder ein Telefon, das wie ein Hamburger geformt ist, noch einen unsichtbaren Freund.

Das einzig Interessante an mir war früher die Tatsache, dass ich sehr gut Geige spielte, aber damit habe ich aufgehört.

Wenn man es genau nimmt, habe ich mich seit dem Ereignis sogar bemüht, keine Person mehr zu sein. Ich habe keine eigene Meinung, ich werde nicht mehr wütend. Ich habe keine Ziele und strebe nach gar nichts. Ich existiere einfach nur.

Außerdem hatte Mom früher genug Eigenarten für uns beide zusammen. Manche Leute sagen von sich, sie hätten womöglich eine kleine Zwangsstörung, weil sie alles immer hübsch sauber mögen. Diese Leute hätte ich gern zu uns eingeladen, um ihnen zu zeigen, wie eine Zwangsstörung wirklich aussieht. Die Leute vergessen, dass da das Wort Zwang drinsteckt. Sie stellen sich vor, es sei damit getan, dass sie dauernd etwas zählen, sich dreimal vergewissern, ob das Licht ausgeschaltet ist, und alles peinlich sauber halten. Das alles war natürlich auch bei meiner Mom so. Das Licht musste dreimal an- und wieder ausgehen, und sie überprüfte zweimal den Herd, ehe sie ins Bett ging. Den Kühlschrank auch – das erste Mal, um sich zu vergewissern, dass er lief, und das zweite Mal, um sicher zu sein, dass er geschlossen war. In einer Fernsehserie wirkt so etwas mitunter ganz witzig.

Aber der zwanghafte Anteil, das war ihre Angst vor einem Unglück und vor Ansteckung. Jedes Mal, wenn sie jemandem die Hand gegeben hatte, musste sie sich die Hände waschen, und die Lebensmittel, die ein anderer berührt hatte, warf sie in den Müll. Essen, das ihr jemand anbot, lehnte sie grundsätzlich ab.

Ich sah meine Mom auf Händen und Knien in der Küche, wie sie den Boden mit Drahtwolle abschrubbte, bis ihre Hände bluteten. Ich sah, wie sie sich mit einem Schnitzmesser große Wunden im Arm zufügte, weil ich unartig gewesen war und sie einer Freundin gegenüber schlecht über mich geredet hatte. Sie dachte, Gott werde mich ihr zur Strafe wegnehmen. Ich musste einen Krankenwagen rufen, und Jahre später waren auf ihrem Unterarm immer noch glänzende Narben zu erkennen.

Ich sah sie, wie sie sich laut kreischend die Haare raufte, weil wir zu einer Familienfeier wollten und sie nicht wusste, was sie anziehen sollte.

Ich sah sie drei Tage hintereinander im Bett liegen und weinen.

Ich hörte, wie sie Dad androhte, sie werde ihn töten und ihm im Schlaf den Bauch aufschlitzen, weil er, drei Autostunden von zu Hause entfernt, nicht umkehren wollte, damit sie die Regler des Küchenherds überprüfen konnte.

All dies sah ich, und ich war ganz glücklich damit, still und für mich zu sein und keine Eigenarten zu haben. Außerdem bin ich ein Mensch, der lieber mit anderen Leuten ausgeht, als allein meinen Kram zu machen. Ich war lieber draußen, als allein Musik zu hören. Auch wenn das Ausgehen keine besonders gute Auswirkungen auf mich hatte, und das war ein weiterer Grund dafür, dass die Direktorin von mir die Nase voll hatte. Wahrscheinlich habe ich mir im East End bei bassbetonter Tanzmusik, die den Boden zum Beben brachte und mir das Trommelfell zerfetzte, zu viele Nächte um die Ohren geschlagen.

Auf der Jacht konnte ich nicht mehr vor mir selbst fliehen, und es gab keinerlei Ablenkung. Ich saß mit meiner ganzen Gewöhnlichkeit fest, steckte wie eine Gefangene in meiner eigenen Haut und fragte mich unablässig, ob Farouz Gefühle für mich hatte.

Die Frage, welche Folgen dies haben mochte, stellte ich mir gar nicht erst. Kein Gedanke daran, dass ich möglicherweise, genau wie die warnenden Vorbilder in den Märchen, schrecklich büßen musste, wenn ich genau das bekam, was ich mir wünschte.

Jeden zweiten Tag erlaubten uns die Piraten zu duschen. Ich war froh, als ich am nächsten Tag an der Reihe war, weil ich mich verschwitzt und unwohl fühlte. Ich ging zuerst, nach mir kam die Stiefmutter und sagte, sie werde frühestens eine Stunde später wieder auftauchen. Ich fand, sie sollte sich beeilen, denn zur Warmwasseraufbereitung dienten Sonnenkollektoren, die nicht so lange mitspielen würden.

Während sie sich wusch, suchte ich das hintere Deck auf. Ich war überrascht, Dad dort zu finden. Er saß auf der Tauchplattform und ließ die Füße ins Wasser hängen. In einer Hand hielt er ein Glas mit einem dunklen Getränk, in dem getreideähnliche Flocken schwammen.

Gewöhnlich ging ich meinem Dad aus dem Weg, aber ich hatte wohl leichte Schuldgefühle, weil ich am vergangenen Abend mit Farouz gesprochen hatte, obwohl ja eigentlich gar nichts passiert war. Jedenfalls trat ich auf ihn zu. Mein Schatten fiel über ihn.

»Ich fürchte, ich sehe nicht richtig!«, rief ich.

»Was fürchtest du denn?«

»Den Kaffee«, antwortete ich. »Die Sorte, die die Piraten brauen. Halb Kaffee, halb Zucker und lauwarmes Wasser.«

Aus irgendeinem Grund entspannte sich Dads Gesicht, und seine Miene wurde weicher.

»Genau«, antwortete er. »Andere Länder, andere Sitten…« Er hob das Glas und prostete Ahmed zu, der über uns mit einer Waffe in der Hand vorbeischlenderte. Ahmed salutierte als Antwort.

So gewinnt mein Dad neue Freunde. Ich muss schon sagen, es ist wirklich bizarr. Aber ich sprach es nicht laut aus.

»Bäh, Dad!«, sagte ich stattdessen. »Das Zeug ist widerlich.«

Ich streifte die Sandalen ab und setzte mich neben ihn. Er trug Shorts, die Beine verschwanden im klaren warmen Wasser – oder vielmehr, sie verschwanden nicht, sondern bildeten an einer bestimmten Stelle an den Waden einen Knick und standen schräg, als wären sie auf der Höhe des Wasserspiegels gebrochen.

Ich hielt ebenfalls die Beine ins Wasser, und auch bei mir knickten sie ab. Über das seidige und recht kühle Wasser erschrak ich ein wenig. Seltsam, wie einfach die Bedürfnisse werden, wenn man in drückender Hitze sitzt, in der man kaum atmen kann.

Hitze verlangt Kälte. Mehr will der Körper nicht, das reicht schon.

»Das tut gut«, sagte ich. »Erfrischend.«

»Ja«, stimmte Dad zu.

Ich schloss die Augen. Die Piraten hatten die Maschine angelassen, um den Computer mit Strom zu versorgen. Der Lärm bildete einen Kontrapunkt zum Plätschern der Wellen. Der Ton war ähnlich, aber der Rhythmus war ganz anders als in der Barockmusik. Ich dachte rasch an etwas anderes, ehe ich mich an meine Geige erinnerte.

In diesem Moment roch ich Dads Getränk.

»O mein Gott, Dad!«, stieß ich hervor.

»Was ist

»Das ist nicht nur Kaffee.«

Er betrachtete das Glas, als hätte es ihm gerade erst jemand in die Hand gedrückt.

»Nein, ist es nicht.«

»Aber du hasst doch Alkohol.«

»Wirklich?«

»Als Mom getrunken hat oder als ich es getan habe…«

»Ich hasse es, wenn meine Tochter trinkt. Du bist siebzehn.«

»Fast achtzehn.«

Dad seufzte.

»Ich will nicht darüber streiten, Amy«, sagte er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.

»Nein, so leicht kommst du mir nicht davon…«

»Ich habe meinen Job verloren, Amybärchen.«

Ich wandte mich so abrupt zu ihm um, dass er beinahe den Drink verschüttet hätte. Die Kälte in mir wurde stärker und kam nicht mehr nur aus dem Wasser. Er sah immer noch gut aus mit dem ergrauten Haar. Er hatte auch Krähenfüße, aber die grünen Augen waren unverändert. Scharfe, kluge Augen, immer in Bewegung. Was beweist, dass sich an den Augen nicht unbedingt ablesen lässt, was in einem Menschen vorgeht. Die grauen Augen meiner Mom blickten stets ruhig, obwohl ihr Geist so aufgewühlt war.

»Machst du Witze?«, fragte ich.

»Ganz bestimmt nicht.«

»Aber…«, begann ich. »Warum?«

Er holte tief Luft.

»Das Finanzsystem ist in Turbulenzen geraten«, erklärte er. »Es kam auch schon in den Nachrichten, aber es wird noch viel schlimmer. Unsere Bank… wir sind Risiken eingegangen. Und ich war… man könnte wohl sagen, ich war derjenige, der am meisten riskierte.«

Ich beobachtete das sich ewig verändernde Meer und verdaute Dads Worte.

»Risiken?«, fragte ich. »Bist du… ich meine, bekommst du Ärger mit der Polizei?«

»Nein«, widersprach Dad sofort. »So ist das nicht. Es waren nur Maßnahmen, die auch andere Banken vornahmen, vor allem Hypothekenderivate. Man nennt sie auch Collateralized Debt Obligations. Wir haben sie gekauft und verkauft, und jetzt fallen die Rückzahlungen aus.«

»Sind diese Derivate so etwas wie die Ableitungen in der Differenzialrechnung?«, fragte ich.

Das kannte ich aus der Schule. Die Ableitung von x2 + 4x ist 2x + 4.

»Nein«, antwortete Dad. »Das ist etwas anderes. Derivate sind Finanzprodukte, die auf Hypotheken beruhen. Wie sich jetzt herausstellt, waren es die falschen.« Er sah mich an. »Man könnte sagen, wir haben es vermasselt.«

»Was wird die Bank tun? Ist sie pleite?«

»Wahrscheinlich nicht. Vermutlich wird sie weiterverkauft. Aber einige Mitarbeiter… dort mussten Entscheidungen fallen, Amy. Sie misten aus.«

»Was heißt hier, sie misten aus? Du bist… was weiß ich. Du bist doch der Direktor des Investmentbanking oder so. Du hast das Sagen.«

»Nicht mehr.«

»Oh.«

Anscheinend war das eine neue Gleichung: Die Ableitung von Hypotheken war die Arbeitslosigkeit.

Ich hatte das Bedürfnis, seine Hand zu halten, aber ich hielt mich zurück. Nach Moms Tod war er nie für mich da gewesen. Er hatte immer nur gearbeitet. Nun hatten sie ihn hinausgeworfen. Warum sollte ich plötzlich für ihn da sein?

»Du hast doch gesagt, die Bank habe die Jacht versichert«, überlegte ich. »Deshalb ist Tony mitgefahren.«

»Genau, Amy. Es ist kompliziert. Ich halte Geschäftsanteile. Sie können mich wegrationalisieren, aber sie können mich nicht in den Tod schicken.«

»Na gut«, meinte ich. »Juchhu!«

»Hm«, machte Dad. »Das ist also mein Geheimnis. Und was ist mit dir? Willst du die Abschlussprüfungen wiederholen?«

»Falls du es noch nicht bemerkt hast, Dad, wir sind Geiseln.«

»Das weiß ich«, antwortete er. »Aber wir dürfen den Kopf nicht hängen lassen.«

»Nein? Wer sagt das?«

»Weiß ich nicht. Ich sage es.«

»Oh, na ja, wenn das so ist…«

Dad streckte sich verdrossen.

»Hör mal, beantworte doch einfach meine Frage! Was ist mit deiner Abschlussprüfung?«

»Nein«, antwortete ich.

»Also, das ist wirklich eine reife Entscheidung…«

»Nein, ich wiederhole die Prüfungen nicht. Ich überlege mir, ob ich mir einen Job suche. Vielleicht in einer Bar.«

Dad seufzte.

»Was denn, ist das nicht gut genug für dich?« Die Verärgerung sprang so rasch in mir auf, als hätte in meiner Brust ein Funke gezündet.

»Nein, ich bin nur nicht sicher, ob…«

»Ob deine Tochter einer so primitiven Beschäftigung nachgehen sollte? Als wäre sie arm?«

Dad atmete tief durch.

»Meine Eltern waren Polsterer, Amy.«

»Genau. Und jetzt bist du reich und hast reiche und berühmte Freunde. Wie peinlich wäre es da, wenn deine Tochter als Bedienung arbeiten würde.«

»Mir ist es gleich, was andere denken«, antwortete Dad. »Ich denke an dich. An deine Lebensplanung. Was ist, wenn du in fünf Jahren immer noch hinter der Theke stehst? Du hast eine Begabung, Amy. Du kannst Geige spielen, und das Talent solltest du einsetzen. Du könntest dich immer noch an der Yehudi Menuhin School bewerben.«

»Sag mir nicht, was ich tun soll!«

»Ich meine ja nur. Schau mich an. Ich habe mein halbes Leben in dieser Bank verbracht und frage mich inzwischen, was ich die ganze Zeit getan habe. Deshalb wollte ich fort. Ich habe die Jacht gekauft, um etwas Neues zu entdecken.«

»Also ging es vor allem darum?« Der Funke in mir brannte lichterloh, so als erwache ein Gasofen zum Leben. Hätte ich mir die Hand bis zu den Lungen in den Hals gesteckt, dann hätte ich Feuer gespien.

»Amy.«

»Also hatte es gar nichts damit zu tun, dass du Zeit mit der Familie verbringen wolltest«, warf ich ihm vor. »Du hast dich in der Bank eingesperrt gefühlt und brauchtest Ablenkung.«

Dad zuckte zusammen, seine Augen bekamen einen seltsamen Schimmer. Er hatte Schuldgefühle.

»Nein, so war es nicht«, widersprach er.

»Was hast du dort eigentlich wirklich getan?«, fragte ich. »Was sind Hypothekenderivate? Hast du den Leuten das Geld gestohlen und ihnen die Häuser weggenommen?«

»Nein! Wir sind Risiken eingegangen. Wir haben von einer anderen Firma, die den Hausbesitzern Geld geliehen hat, die Hypotheken aufgekauft. Dann haben wir daraus ein großes Paket geschnürt und es anderen Leuten als Investition verkauft. Das ist alles. Im Rückblick war es nicht sehr klug, weil die Hausbesitzer ihre Hypotheken nicht weiter abgetragen haben. Also können wir die Zinsen nicht mehr bezahlen. Außerdem haben wir zum Einkauf Geld verwendet, das… das uns genau genommen eigentlich nicht gehörte.«

»Du liebe Güte!«, rief ich aus. »Du bist ein Pirat. Kein Wunder, dass du dich so gut mit Ahmed verstehst.«

»Amy, ich bin leitender Direktor eines höchst angesehenen internationalen…«

»Du warst ein leitender Direktor.«

»Verzeihung?«

»Du warst ein leitender Direktor. Das ist vorbei.«

»Ja.«

Schweigen. Ich stand auf und zog die Sandalen wieder an, die vom Meerwasser glitschig geworden waren.

»Viel Spaß mit deinem Wodka«, sagte ich. »Oder was du da trinkst.«

Dad betrachtete das Meer und hob nicht einmal den Kopf, als ich ging. In diesem Moment kam die Stiefmutter mit einem Sonnenhut heraus.

»Das verdammte warme Wasser ist alle«, erklärte sie. »Ich konnte nicht einmal mehr die Haarspülung benutzen.«