10Bald nachdem uns die Piraten geentert hatten, trafen die ersten Vorräte und Verstärkungen ein. Wir hörten den Lärm und gingen nach draußen. Es war eine Erleichterung, das Kino verlassen zu können. Dort roch es inzwischen nach Schweiß, und es war warm und beengt. Ich konnte zwar nicht direkt beobachten, wie alle diese Körper vor Schweiß dampften, aber ich stellte es mir trotzdem so vor.

Auf Deck warteten die Piraten. Ein drittes kleines Boot näherte sich der Jacht. In diesem Boot saß nur ein Mann, aber er hatte zwei Ziegen dabei, was ich ziemlich abwegig fand. Andererseits freute ich mich über den Anblick. Es war schrecklich, mitten auf dem Meer auf einer Jacht zu sitzen, wenn sich ringsum diese blaue Fläche ausbreitete. Wie heißt das Wort? Agoraphobie? Ich glaube schon. Und dann, praktisch gleichzeitig, das genaue Gegenteil. Klaustrophobie. Einerseits hockten wir auf einem letztlich ziemlich kleinen Boot, wo sich an allen Ecken und Enden Piraten aufhielten. Andererseits gab es rings um uns bis zum Horizont nichts als Meer und Himmel.

Mir wurde schwindelig, wenn ich länger darüber nachdachte, und als das kleine Boot auftauchte, zuerst nur ein winziger Punkt in der Ferne, der sich langsam näherte, fühlte ich mich irgendwie besser verankert. Als folge das Boot einer Linie, die uns mit etwas anderem verband – mit einem anderen Schiff oder dem Festland.

Ich will damit sagen, dass ich das Boot beobachtete, aber dabei nicht nur das Boot im Auge hatte. Vielmehr dachte ich an den Ort, von dem es gekommen war. An das Land, an die Erde. Dort gab es einen Strand, einen Hafen. Es war nicht nur ein Boot, sondern deutete auch die Möglichkeit eines anderen Orts an.

Als ich die Ziegen entdeckte, verflogen diese philosophischen Gedanken, und ich starrte nur noch. Der Mann stand am Außenbordmotor und tuckerte bis zur Tauchplattform, vor ihm meckerten die beiden Ziegen mit den dunklen Fellen und den weißen Bärten die kleinen Wellen an. Hinter ihnen ging die Sonne unter, was die verrückte Szene noch unwirklicher machte. Rote Lava ergoss sich am Horizont ins Meer und setzte ihn in Brand.

Zwei Ziegen auf einem Boot, mitten im Meer. Das werde ich nie vergessen.

Außerdem brachte das neue Dingi Kisten mit allen möglichen Waren mit. Wie sich herausstellte, befanden sich auch auf den ersten beiden Booten zahlreiche Vorratskisten. Die Fracht stammte wohl vom Mutterschiff, wie Tony es genannt hatte.

Genauer gesagt, bestand die Lieferung aus:

– mindestens hundert Stangen Zigaretten

– großen Kartons mit gefriergetrockneten Nudelgerichten

– einem Gasofen

– Dosen mit französischen Etiketten

– vielen Flaschen Schnaps

– Tausenden – ich meine wirklich Tausenden – Litern Wasser in großen Flaschen.

Die Tatsache, dass der Proviant in so großen Mengen geliefert wurde, betrachtete ich als schlechtes Zeichen. Die Miene der Stiefmutter verriet mir, dass sie es ähnlich sah. Später erfuhr ich von Farouz, dass das ganze Zeug von einem französischen Containerschiff stammte, das die Piraten einen Monat vorher überfallen hatten. Es war natürlich klug, die Beute aus einem früheren Einsatz gleich für den nächsten zu verwenden. Eigentlich ist es aber überflüssig, dies besonders zu betonen, denn ich sollte sehr schnell lernen, dass die Piraten tatsächlich höchst raffiniert vorgingen. Und sie waren gut organisiert.

Also schön, sie waren clever. Mir wurde fast übel, denn die Vorräte bedeuteten, dass sie möglicherweise ziemlich lange bleiben würden.

Nun sah ich erst einmal den Piraten zu, wie sie Zigaretten – sie liebten Zigaretten – auf die Jacht schafften und die beiden Ziegen an Bord trieben und festbanden.

Man kann sich leicht vorstellen, dass es ein großes Chaos gab. Die Ziegen wollten nicht auf die Jacht und widersetzten sich den Versuchen der Piraten, sie an Bord zu treiben. Sie kreischten auf eine gespenstische, fast menschliche Weise und keilten aus. Als eine Ziege endlich auf der Tauchplattform stand, ging sie sofort durch und klapperte auf unsicheren Hufen durch die Tür ins Esszimmer. Ein Pirat musste hinterherlaufen. Ein paar Minuten später tauchte er, aus irgendeinem Grund aus der Nase blutend, wieder auf und stieß die klagende Ziege vor sich her. Es dauerte gut eine halbe Stunde, bis die Tiere endlich angebunden waren.

Wir blieben so weit auf Abstand wie nur möglich. Eine der Ziegen hatte bereits auf die Mahagonibretter geschissen. Ich konnte sie auch riechen: Es war dieser säuerliche, muffige Geruch von Grasfressern.

»Aus Ziegenfleisch kann ich ein gutes Currygericht kochen«, erklärte Felipe, der bis zu diesem Zeitpunkt nicht viel von sich gegeben hatte.

»Aus Ziegenfleisch?«, fragte die Stiefmutter.

»Ja. Wenn man richtig darüber nachdenkt, ist es sogar sehr vernünftig«, erklärte Dad. »Sie müssen sich keine Gedanken machen, dass das Fleisch verdirbt, und die Ziegen geben Milch und…«

»Ach, halt den Mund, James!«, sagte die Stiefmutter.

Später an diesem ersten Abend, als wir wieder drinnen waren, hatte niemand einen Plan, und niemand hatte eine Ahnung, was wir nun tun sollten. Wir fragten Farouz, ob wir schlafen gehen könnten, worauf er mit den Achseln zuckte und sich entfernte, als sei es ihm völlig gleichgültig, was wir taten. Selbst beim Achselzucken bewegte er sich geschmeidig – nicht gerade anmutig, denn mit einem Tänzer konnte man ihn nicht vergleichen. Eher so, als fühle er sich wohl in seiner Haut.

Das fiel mir auf, weil er sich darin sehr von den Jungs in der Schule unterschied, die sich noch nicht an ihre postpubertären Körper gewöhnt hatten. Die Leute nannten solche Typen gern schlaksig, aber viele waren überhaupt nicht schlaksig. Einige waren sogar ziemlich stämmig oder von normaler Statur. Sie bewegten sich allerdings, als seien sie mit ihren Körpern nicht sonderlich gut vertraut. Oder als wären ihre Körper für ein ganz anderes Bewusstsein geschaffen. Farouz dagegen bewegte sich, als sei sein Körper der Handschuh und sein Bewusstsein die Hand.

Tony hatte darauf bestanden, nach draußen zu gehen und die Ereignisse zu beobachten, auch wenn er sich dabei auf Dad und Damian stützen musste. Er schwebte nicht in Lebensgefahr, doch es ging ihm auch nicht gut. Inzwischen war er leichenblass. Als wir ins Kino zurückkehrten und er wieder auf dem Sofa lag, tippte ich Dad auf die Schulter.

»Wir sollten ein Schmerzmittel für ihn auftreiben«, schlug ich vor.

Dad nickte. Er sagte der Stiefmutter, sie solle mit Damian, Felipe und Tony warten, und dann suchten wir Ahmed.

Unterwegs kamen wir an unseren Kabinen vorbei. Zu meinem Erstaunen klebten kleine Zettel mit Geldbeträgen an den Türen. Anscheinend hatten die Piraten sie dort befestigt.

$ 500 stand an meiner Tür.

$ 1000 stand bei Dad und der Stiefmutter.

An der Tür der Brücke stand $ 5000.

Ich wies Dad darauf hin, der die Finger beider Hände spreizte. Er begriff es auch nicht.

Ahmed stand auf der Brücke und beobachtete den Radarschirm. Anscheinend wussten er oder Farouz, wie man das Gerät bediente, denn Damian hatte es heimlich ausgeschaltet, als die Piraten an Bord gekommen waren. Ein hübscher großer piepsender Punkt hielt aus östlicher Richtung auf uns zu. Ich dachte, es sei die Marine, und freute mich darüber. Anscheinend kam die Kavallerie, um uns herauszuhauen. Im Rückblick finde ich diesen Gedanken ziemlich dumm. Wenn eine Jacht von Männern mit Gewehren übernommen wird, schickt man kein Kommando, um die Geiseln zu befreien. Die Gefahr von Kollateralschäden ist zu hoch. Das ist eine höfliche Umschreibung dafür, dass ich, Dad, die Stiefmutter, Damian, Tony und Felipe möglichst nicht von Kugeln durchsiebt werden sollten.

»Nummer Eins«, begrüßte uns Ahmed, als wir eintraten. »Nummer Drei. Was wollen?«

Ahmed war der einzige Pirat, der sich keine Kleidung von uns angeeignet hatte. Er hatte den anderen sogar befohlen, unsere Sachen zurückzugeben, was aber wohl eine Weile zu dauern schien. Vielmehr trug er einen somalischen Kapuzenmantel, anscheinend eine Dschellaba, die bis zu den Knien reichte. Er schien auch keine Schuhe zu besitzen, sondern ging überall barfuß. Trotzdem waren seine Füße erstaunlich sauber.

»Wir brauchen Schmerzmittel«, erklärte Dad. »Für… äh, Nummer Vier.«

»Schmerzen?«

Dad dachte einen Moment lang nach. Dann tat er so, als hätte er Schmerzen im Bein, hielt es fest, stöhnte und schien anschließend eine Pille zu schlucken. Dann seufzte er erleichtert.

»Oh!«, sagte Ahmed. »Gut. Haben wir aber nicht.«

»Nein, schon gut«, sagte Dad. »Wir haben so etwas.«

»Ihr habt

»Ja, im Medizinschrank. Wenn wir das Mittel einfach herausnehmen dürften…«

Dad dachte wohl, Ahmed lasse uns zum Medizinschrank gehen und zusammensuchen, was wir brauchten. Vielleicht wollte er bei der Gelegenheit auch gleich über Funk um Hilfe rufen. Ich sah es ihm genau an, er wollte den Helden spielen. Aber Ahmed war kein Dummkopf. Er hob den Hörer des Funkgeräts ab und sprach einige Worte hinein. Jemand antwortete, dann legte er auf.

»Gut«, sagte er. »Zeig mir.«

Wir führten Ahmed durch den Flur und die Treppe hinunter zum hinteren Deck. An der Schranktür, die mit der Wand glatt abschloss, blieben wir stehen. Wenn man nicht genau wusste, wonach man suchte, war sie leicht zu übersehen. Das war der Medizinschrank. Mom als Amerikanerin hatte manchmal Aua-Schrank gesagt. Ich fand, das passte gut. Wir waren die Gefangenen von Leuten, die uns wehtun konnten.

Dad öffnete den Schrank und betrachtete das ordentlich einsortierte Erste-Hilfe-Material: Flaschen mit Pillen, Verbände, Pflaster, sogar Spritzen. Dad nahm eine Flasche heraus, las das Etikett und steckte sie sich in die Tasche, außerdem Jod, Nadel und Faden und einen Verband.

»Wofür?«, fragte Ahmed.

»Infektion«, erklärte Dad. »Zum Säubern. Ja?«

Ahmed nickte und schnitt eine seltsame Grimasse. War es Staunen? Trauer? Er hob eine Hand und berührte die Vorräte im Medizinschrank, als wären sie heilige Reliquien.

»Was ist los?«, fragte Dad.

»Sind Medizinsachen«, erwiderte Ahmed betont langsam, als sei Dad begriffsstutzig.

»Nein, ich meine, was wollen Sie? Geht es Ihnen nicht gut

Ahmed schloss den Schrank, runzelte die Stirn und konzentrierte sich.

»Meine Kinder… wenn krank, kann nichts geben. Keine Medizin. Hier auf Jacht ist einfach.«

Mir drehte sich der Magen um. Hatte er tatsächlich Kinder? Dieser Mann mit der Narbe im Gesicht und dem AK-47? Doch, natürlich hatte er Kinder. Er war sicher schon vierzig. Erst jetzt wurde mir wirklich bewusst, wie diese Jacht auf ihn wirken musste. Für einen Mann, der seinen Kindern keine Arznei geben konnte. Der keine Schuhe trug.

Dann verhärtete sich Ahmeds Miene wieder wie ein gebranntes Stück Ton aus dem Ofen.

»Sagst du Kapitän, wir fahren morgen«, befahl er.

»Fahren?«, fragte ich. Ich dachte an das Schiff auf dem Radarschirm, an den hellen Fleck, der sich stetig näherte. Hoffentlich die Marine, die uns retten würde.

»Fahren weg. Nach Eyl.«

»Wo liegt Eyl?«, fragte Dad.

»Kleine Stadt in Puntland. Somalia.«

Mir sank das Herz. Ich hatte mich nach dem Land gesehnt, weil es mir Angst machte, auf dem weiten, offenen Meer zu treiben, und mir vorgestellt, wie schön es wäre, einen Strand zu sehen. Aber ich hatte mir einen sicheren Strand vorgestellt. Keine Gegend, in der wir ganz und gar ohnmächtig waren, sondern einen Ort, zu dem wir… vielleicht fliehen konnten. Mir wurde klar, dass ich unbewusst auch an Robinson Crusoe gedacht und mir vorgestellt hatte, wir würden in der Nacht wegschwimmen und später unter Palmen sitzen und Kokosnüsse knacken.

Somalia war nicht sicher. Somalia war die Heimat der Piraten. Vielleicht konnten wir wegschwimmen, aber ganz bestimmt nicht weit genug.

Das Radar schien mir zu zeigen, dass ein Schiff kam und uns retten wollte, aber – das war die Ironie – wir zogen uns vor ihm zurück. Wir fuhren nach Somalia.