16Damian stand im Korridor, als ich am nächsten Abend von der Toilette kam.

»Pass auf dich auf!«, sagte er.

»Wie bitte?«

»Du und dieser Junge. Das wird mit Tränen enden.«

»Ich wüsste nicht, was…«

»… mich das angeht

Gott, ich hasste es, wenn Damian meine Sätze beendete! Er konnte es einfach nicht lassen.

»Ja«, antwortete ich etwas lahm.

»Natürlich blickst du nicht durch. Du bist eben ein junges Mädchen.«

Na gut, hätte ich beinahe gesagt. Das hat dich aber nicht davon abgehalten, mir in den Ausschnitt zu starren. Ich schwieg, weil sowieso schon eine seltsame Spannung in der Luft lag.

»Und du bist ein armseliger Seemann. Sag mir nicht, was ich tun und lassen soll!«

Er verdrehte die Augen. Wirklich, er machte eine völlig übertriebene Bewegung mit den Augäpfeln. So etwas hatte ich noch nie gesehen.

»Du bist nicht die Einzige, die verletzt wird, wenn etwas schiefgeht«, sagte er.

»Es wird nichts schiefgehen, weil nichts passieren wird«, antwortete ich. Noch während ich sprach, zweifelte ich an meinen Worten.

»Gut.« Damit entfernte er sich.

Das machte mich wirklich sauer, weil er das letzte Wort behalten hatte und damit gewonnen zu haben schien.

Ich stieg auf das Vorderdeck hinunter und hoffte insgeheim, Farouz zu treffen.

Und wie das Leben so spielt – tatsächlich stand er dort.

»Farouz.« Ich errötete schlagartig, denn wenn Sie seinen Namen aussprechen, kommt die zweite Silbe langsam und gedehnt heraus: Farooouuz. Wie ein Seufzer.

Versuchen Sie es mal.

Sehen Sie?

In seinen Namen war die Sehnsucht eingebaut.

»Nummer Drei.« Farouz erwiderte meinen Gruß und schien meine Verlegenheit nicht zu bemerken. Er rauchte wie meistens, und die Pistole baumelte am Hosenbund. Nur dass er eine neue Hose von Armani trug, die Dad gehörte. Die meisten elektrischen Geräte und die besonders wertvollen Sachen hatten uns die Piraten inzwischen zurückgegeben, aber sie trugen immer noch unsere Kleidung.

Ich holte tief Luft. Wenn sie mich schon töteten, dann sollte wenigstens einer der Täter meinen Namen kennen.

»Amy«, widersprach ich. »Nicht Nummer Drei, sondern Amy.«

Farouz schwieg eine Weile.

»Amy. Ein hübscher Name«, sagte er schließlich.

Ich atmete aus und setzte mich auf eine Sonnenliege. Ich glaube, in diesem Augenblick hoffte ich zum ersten Mal, die Geiselnahme zu überleben. Er kannte meinen Namen. Da musste er doch zögern, bevor er abdrückte.

»Nun, Amy«, fuhr er fort, »wie ist es denn, reich zu sein?« In seiner Stimme lag eine Schärfe, die ich noch nie bemerkt hatte. Er blies den Rauch aus, der sich um die Hörner des Steinbocks ringelte.

»Es… ich weiß nicht.«

Ich musste auf meine Worte achten, nachdem Tony behauptet hatte, die Jacht gehöre der Bank. Trotzdem war kaum zu übersehen, wie wohlhabend wir waren. Die Piraten nahmen wohl an, wir seien zahlende Passagiere oder so. Im Hinterkopf fragte ich mich unterdessen: Sind wir immer noch reich?

Ich war ziemlich sicher, dass wir noch immer reich waren. Ich wusste genug über das Finanzwesen in großen Firmen. Man ließ Dad nicht ohne einen riesigen goldenen Fallschirm gehen – oder wie man es auch nannte.

»Ich glaube, nicht das Geld macht die Menschen glücklich«, behauptete ich. »Geld ist nicht das Wichtigste. Nicht wichtiger als Familie, Freunde und so weiter. Geburtstagspartys. Manchmal denke ich, ich würde gern mit jemandem tauschen, der nur einen Bauernhof und ein paar Hühner hat, den ganzen Tag das Meer betrachtet und sich um nichts kümmern muss… Dabei weiß ich, wie dämlich das klingt. Ich sollte den Mund halten.«

Ich hielt den Mund.

Wir blickten beide zum dunklen Meer hinunter, auf dem sich die funkelnden Sterne spiegelten, damit wir einander nicht ansehen mussten. Das war beunruhigend und befreiend zugleich.

»Geld ist wichtig in Somalia«, erklärte er nachdenklich. »Wenn du keine Arznei, keine Lebensmittel und kein Wasser hast, ist Geld wichtig.«

»Natürlich. Ich…«

»Wir können mit keinem anderen tauschen. Deine Worte habe ich nicht mal zur Hälfte verstanden. Siehst du das ein? Du denkst: Oh, mein Leben wäre besser, wenn dieses oder jenes so wäre oder nicht so wäre. Solche Überlegungen stellt in Somalia niemand an, weil es nichts Besseres gibt.«

Seine Stimme war kälter und klang älter, als er tatsächlich war. Damals kannte ich sein Alter nicht und schätzte ihn auf siebzehn oder achtzehn. Seine Stimme jedoch war hundert Jahre alt.

So seltsam es klingt, ich glaubte ihn zumindest teilweise zu verstehen.

Außerdem kam ich mir dumm und unbeholfen vor, als wäre ich gerade aufgewacht und versehentlich in einen Körper geschlüpft, der mir zu groß war und der sich anfühlte wie die Kleidung eines anderen Menschen. Zu schwer und zu klobig für meine Knochen.

»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich wollte nicht… ich meine, auch reiche Leute machen üble Erfahrungen.«

»Und welche üblen Erfahrungen hast du gemacht?«, fragte er herausfordernd.

»Gib mir auch eine!« Ich deutete auf seine Zigarette.

Er hob die Brauen, kam meinem Wunsch jedoch wortlos nach und gab mir seine eigene, damit ich meine Zigarette anzünden konnte. Der Tabak zischte und knackte, als er Feuer fing. Ich inhalierte den Rauch tief in die Lungen und hatte das Gefühl, er breite sich in mir aus und verwandle meinen ganzen Körper ebenfalls in Rauch, bis ich nur noch aus Luft und Rauchpartikeln und nicht mehr aus Fleisch und Blut bestand.

Ich atmete aus und sandte mich und meine Partikel in die Nachtluft hinaus.

Und dann erzählte ich es ihm.

Doch kaum hatte ich begonnen, stockte ich schon wieder.

»Ich…«, setzte ich an und hielt inne. »Ich meine… äh.«

»Schon gut«, sagte Farouz. »War ich zu… neugierig?«

»Ja, neugierig, so heißt es«, antwortete ich.

»Tut mir leid.«

»Nein. Also, ja, das Wort ist richtig, aber du warst nicht neugierig.«

»Oh.«

Ich holte tief Luft.

»Meine Mutter… sie…«

Er blickte mir in die Augen, und es kam mir auf einmal gar nicht mehr seltsam vor.

»Die Frau auf der Jacht ist nicht deine Mutter«, erwiderte er sanft.

»Nein«, bestätigte ich.

»Diese Frau, die mit den roten Fingernägeln, ist deine Stiefmutter.«

»Ja.«

»Verstehe«, sagte Farouz.

»Nein, du verstehst es nicht«, widersprach ich. Vieles hatte ich noch niemandem erzählt. Nicht einmal meinem Vater.

Farouz hielt sich an der Reling fest und blickte ins Meer hinab. Er drängte mich nicht.

»Eines Tages rief Mom mich an, als ich eigentlich im Unterricht sein sollte«, erzählte ich. »Damals ging ich in Surbiton in London zur Schule. Ich hätte das Gespräch eigentlich nicht annehmen dürfen, aber ich hatte eine Freistunde und war im Gemeinschaftsraum, also meldete ich mich. Mom freute sich. Sie hatte ein neues Antidepressivum bekommen, das recht gut anschlug, und ein neues Antipsychotikum. Das bestärkte sie endlich in der Überzeugung, dass Gott sie nicht für ihre Schlechtigkeit bestrafen wollte.«

»Entschuldigung?«, fragte Farouz.

»Schon gut«, beschwichtigte ich ihn. »Es ist nicht so wichtig.«

»Gut«, antwortete Farouz. Er schwieg und sah mich einfach nur an, so als sei ihm klar, dass die Geschichte noch nicht zu Ende war.

»Sie sagte mir, falls ihr etwas zustoßen sollte, müsse ich mich um meinen Dad kümmern.« Meine Stimme brach beinahe. Diesen Teil hatte ich meinem Dad nicht erzählt, ich hatte bisher mit niemandem darüber gesprochen. »Ich beruhigte sie, dass ihr schon nichts passieren werde«, fuhr ich fort. »Sie beharrte darauf, dass ich mich um meinen Dad kümmern müsse, wenn sie starb.«

Farouz nickte bedächtig.

»War sie krank?«, fragte er.

»Ja, sie war krank. Hier drinnen.« Ich berührte meinen Kopf und ging davon aus, dass er die Geste verstand.

»Ja«, sagte Farouz.

Ich umklammerte die Reling, meine bleichen Finger lagen auf dem glatten Metall neben seinen dunklen Händen.

»Nach dem Anruf fuhr meine Mom zur Arbeit«, erzählte ich. »Sie stieg aufs Dach des Gebäudes. Sie stand auf dem Dach und… und…«

Farouz berührte meine Hand. Die Berührung war warm. Seine Finger waren warm.

»Verstehe«, sagte er. »Ich verstehe. Ist schon gut. Ich verstehe es. Du musst nichts mehr erzählen.«

Ich nickte und zog die Hand weg. Das Meer unter uns war so schwarz, dass es mir vorkam wie ein Loch in der Existenz.

Jemand stürzte durch die Schwärze von den Sternen auf die Erde herab.

Als meine Mutter mich in der Schule anrief, ging ich im Geist die Chaconne von Bach durch und stellte mir die Bewegungen der Finger vor. Dieses virtuose Stück wollte ich spielen, wenn ich in die Endausscheidung des Menuhin-Wettbewerbs kam. Ich gehörte zu den weltweit einundzwanzig Auserwählten, die an dieser wirklich großen Ausscheidung teilnehmen durften. Sobald ich mich am Handy meldete und ihre Stimme hörte, brach die Musik ab, und seitdem hat sie nicht wieder eingesetzt.

Die ganze Zeit, während meine Mutter sprach, betrachtete ich die Kaffeemaschine im Gemeinschaftsraum. Der Apparat war von Gaggia, was zu der Schule passte. Auf der rechten Seite hatte sie einen Kratzer. Sie glänzte silbern und konnte aus zwei Düsen Espresso sprühen. Auf dem Fenster hinter der Maschine zeichnete sich ein handtellergroßer Schmierfleck ab. Jenseits des Glases wuchs eine Kastanie, unter der ein Mädchen mit bunten Bällen jonglierte. Auf einem Resopaltisch stand eine halb geleerte Tasse Kaffee. Rechts war eine Ecke vom Tisch abgeblättert.

Auf der äußeren Fensterbank spazierte eine Taube hin und her. Es war 11.16 Uhr, behauptete die Uhr der Mikrowelle neben der Kaffeemaschine. Die Mikrowelle war von Samsung, von innen klebte verkrustete Tomatensoße am Glas. Die Beschriftung der Knöpfe war abgenutzt. Ich erkannte nur noch die Einstellung 360 Watt.

Bis heute sehe ich dieses Bild völlig klar vor mir. Seitdem kann ich keine Kaffeemaschine von Gaggia in einem Café und kein Gerät von Samsung betrachten, ohne daran zu denken, was als Nächstes geschah. Es ist, wie wenn Sie das eigene Handy oder den eigenen Mantel sehen. Es ist nur ein Handy oder ein Mantel. Nur ein Gegenstand, der keine große Bedeutung hat. Aber weil er Ihnen gehört, scheint er eine Aura zu besitzen. Er ist wichtig, es gibt eine Verbindung, und er scheint von innen heraus zu strahlen, weil diese Verbindung besteht.

So wirken diese Herstellernamen auf mich. Für andere ist es nur eine Gaggia-Kaffeemaschine, nur eine Samsung-Mikrowelle, aber für mich erstrahlen die Gegenstände immer und immer wieder, gleichgültig, ob in einem Café in London oder in der Werbung. Sie haben für mich eine Bedeutung bekommen, sie haben diese starke Ausstrahlung, die sie nie verlieren werden. Wenn Sie Ihr Auto verkaufen und es später auf der Straße wiedersehen, strahlt es immer noch und unterscheidet sich von allen anderen Fahrzeugen. Dieser Glanz, den ich sah, war jedoch nicht schön.

Sogar Farouz erkannte es, sogar er. Als ich ihm die Geschichte erzählte, wusste er schon vorher, was passiert war, nachdem meine Mutter mir aufgetragen hatte, mich um meinen Dad zu kümmern. Zeigt das nicht, welch entsetzlicher Trottel ich bin?

Ich bin erbärmlich, denn selbst Farouz, der Pirat aus Somalia, der meine Mutter nicht kannte, wusste genau, welche Wendung die Ereignisse nehmen würden.

Nach dem Gespräch mit mir, nachdem sie mir mehrmals gesagt hatte, ich solle auf meinen Dad aufpassen, nachdem sie mir deutlich erklärt hatte, was sie vorhatte, fuhr meine Mom zur Arbeit. Nachdem ich nicht zugehört und nichts verstanden hatte, betrat sie das moderne Gebäude, in dem ihre wissenschaftliche Zeitschrift beheimatet war, betrat aber nicht ihr Büro, sondern fuhr mit dem Aufzug bis ganz nach oben und ging über das Dach – es ist mit Dachziegeln belegt, ich war dort und habe es mir angesehen – und stürzte sich hinunter

Einen Moment lang flog sie.

Hatte sie Angst? Fürchtete sie sich und hätte ihren Entschluss gern rückgängig gemacht? Ich weiß es nicht.

Dann schlug sie unten auf und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte übertrugen ihr 5,7 Liter Blut und versuchten, die gebrochenen Rippen, das Schlüsselbein, das Bein und die Hüfte zu richten, unternahmen drei Versuche, mit Druckmassagen und Elektroschocks unter steigender Stromspannung ihr Herz wieder in Gang zu bringen – ich habe den ärztlichen Bericht gelesen, er lag auf Dads Schreibtisch, und ich kann es nie, nie mehr vergessen –, bis sie nach dem letzten Stromstoß mit dem Defibrillator aufgeben mussten und die Zeit notierten. Um 14.01 Uhr und 45 Sekunden am 22. Juli 2006 starb meine Mutter, bezeugt von Dr. Hafaz mit beinahe unleserlichem Gekrakel auf dem Totenschein.