4Vor unserer Reise war mir nie bewusst gewesen, wie lange eine Jacht brauchte, um eine bestimmte Strecke zurückzulegen. Von Southampton bis zum Suezkanal dauerte es anderthalb Monate. Sechs Wochen! In dieser Zeit konnte man dreißigmal um die Welt fliegen.

Die Strecke vom Ärmelkanal bis Gibraltar war schlimm. Die See war unruhig und rau, in der ersten Woche krümmte ich mich in meinem Bad und freundete mich mit der Toilette an. Es gab Augenblicke, da hätte ich mit Freuden meinen Dad erwürgt, weil er mir das angetan hatte.

Im Mittelmeer war es etwas besser. Manchmal war im Süden Marokko als dunstige Sandwüste zu erkennen, gelegentlich tauchten an den Hängen kleine Fischerdörfer mit gekalkten Häusern auf.

Wie Urlaub fühlte es sich allerdings nicht an. Die meiste Zeit waren wir weit von der Küste entfernt und krochen durch das Wasser. Es gab keine Orientierungspunkte, an denen sich ablesen ließ, dass wir überhaupt vorankamen. Es war wie ein unendliches Förderband aus Wasser und Schaum, das unter uns abspulte.

Ich hatte gehofft, Delfine zu sehen, aber es gab keine.

Die Zeit verzerrte und dehnte sich wie Knetgummi. Es war schon August, wir hatten um die dreißig Grad, ich hatte die Seekrankheit überwunden und lag meistens mit geschlossenen Augen auf dem Deck. Wenn die Sonne unterging, verzog ich mich nach unten, las in meinem Zimmer, sah fern oder verschickte E-Mails. Die Jacht hatte keine ständige Internetverbindung, sondern der Link war nur einmal am Tag um 18.00 Uhr Greenwicher Zeit aktiv. Was wir senden oder empfangen wollten, wurde bis zu diesem Zeitpunkt gespeichert. Also gewöhnte ich mir an, jeden Abend meine Mails abzurufen und herauszufinden, ob meine Freundinnen mir geschrieben hatten.

Abends saß ich meistens in meinem Zimmer, weil ich die Sterne nicht sehen wollte.

Damian beobachtete mich manchmal, wenn ich im Bikini draußen lag. Das war zugleich eklig und angenehm. Ich meine, ich bin keine Schönheit, das ist mir bewusst. Ich habe schmutzigbraunes Haar und ein Durchschnittsgesicht – abgesehen natürlich von den Metallteilen, aber die hatte ich ja noch nicht lange.

Was ich sonst noch tat?

Nicht viel.

Ich mochte abstrakte Tanzmusik, vor allem Dubstep. Also lag ich während der Fahrt durch das Mittelmeer auf dem Bett, hörte die laut aufgedrehte Musik und blendete die Welt aus. Diese Musik hat was: dumpfe Bässe, viel Nachhall, körperlose Stimmen. Es ist eine traurige Musik, aber die Trauer ist irgendwie auch tröstend. Ich denke dabei immer an die Lichter einer Stadt, die ich jenseits einer Wasserfläche sehe, wie beispielsweise New York am Hudson River. Ich fühle mich gleichzeitig einsam und geborgen.

Vor allem aber stelle ich mir bei dieser Musik vor, im Weltraum zu schweben. In keinem Weltraum voller Sterne, sondern in einem völlig schwarzen All, in einem kalten Vakuum, wo sich jedes Geräusch rasch verliert. Die Stimmen sind gebrochen und abgehackt, als höre man in weiter Ferne jemanden in das Funkgerät eines zerstörten Raumschiffs singen. Ich weiß genau, was mir daran gefällt: Diese Stimmen in der Dunkelheit und die tiefen Bässe erinnern an die Toten, die man einst geliebt hat.

Und noch etwas anderes mochte ich daran: Es war keine klassische Musik. Als Kind hörte ich dauernd dieses Zeug. Genau genommen war das aber keine richtige klassische Musik, sondern eher Barock. Eine Zeit lang war ich ganz versessen auf Bach.

Aber nach Moms Tod wollte ich nichts mehr davon wissen.

Ich war also mit Musikhören und Sonnenbaden beschäftigt und hatte seit Moms Tod sowieso kaum noch auf die Welt ringsum geachtet. Deshalb nahm ich, bis wir den Suezkanal erreichten, meine Umgebung so gut wie gar nicht wahr. Die Tage waren ein verschwommenes Einerlei, zusammengepresst wie zerdrückte Bonbons in einer warmen Hosentasche.

Dann öffnete ich eines Tages die Augen, blickte zum Himmel hinauf und bemerkte ein Blitzen, das ich als Reflexion von Damians Fernglas erkannte.

Ich weiß nicht, was in diesem Moment in mich gefahren ist. Vielleicht wollte ich nur den Spieß umdrehen. Ihm das Gefühl geben, dass er beobachtet wurde. Oder ihm zu verstehen geben, dass ich seine Blicke bemerkt hatte.

Jedenfalls stand ich auf und stieg die kurze Treppe zur Brücke hinauf. Ich ging einfach so, wie ich war, zu ihm. Damian wandte sich von dem Ruder zu mir um und sah mich überrascht und nervös an.

»Was ist los?«, fragte er.

»Nichts«, antwortete ich. »Ich hab nur Langeweile.«

Der Mund stand ihm halb offen, aber ich muss ihm zugestehen, dass er sich rasch wieder fing. Er war immer noch ziemlich bleich, weil er die ganze Zeit vor der Sonne geschützt auf der Brücke gestanden hatte. Die Bartstoppeln hoben sich dunkel auf der Haut ab wie eine Schraffur auf Schreibpapier.

»Willst du mir helfen?«, fragte er.

»Klar«, sagte ich. »Warum nicht

Er kam mir entgegen, er kam mir sogar ziemlich nahe, und einen Sekundenbruchteil lang – es war wie auf der Straße, wenn ein entgegenkommendes Fahrzeug mit der Lichthupe vor einem Hindernis warnt – dachte ich, es sei ein unglaublich dummer Einfall gewesen. Dann war er an mir vorbei und nahm einige Papiere vom Tisch.

»Wir sind zwölf Stunden von Port Said entfernt«, erklärte Damian. »Wir müssen noch vieles vorbereiten. Vorab über Funk Informationen durchgeben, Dokumente einreichen, sobald wir den Suezkanal erreichen. Es geht viel schneller, wenn du hilfst.«

»O ja, gut«, sagte ich. »Ich will nur rasch…«

Rückwärts verließ ich den Raum und stolperte den Korridor zu meiner Kabine hinunter. Was konnte ich tun? Ich hatte versucht, ihn bloßzustellen, aber er war cool geblieben, und nun stand ich da wie eine Närrin. Himmel! Wahrscheinlich hatte ihm mein Auftritt den Eindruck vermittelt, ich hätte eine Schwäche für ihn, dabei war er mit seinem Fernglas eher der gruselige Typ.

Wie auch immer, ich konnte keinen Rückzieher machen. Nachdem ich ihm meine Hilfe angeboten hatte, musste ich Wort halten. Ich schnappte mir ein T-Shirt und Shorts, zog mich an und kehrte auf die Brücke zurück.

Damian hatte schon zwei Stühle an den Tisch geschoben.

»Also«, begann er, »du findest in diesen Papieren die Nutzlast und die registrierte Tonnage. Ich suche die Blätter zum Maschinenraum heraus.«

»Ja«, willigte ich ein. »Schön.«

Der Suezkanal ist verrückt. Man könnte glauben, dass man einfach so durchfährt, aber so funktioniert das nicht. Alles ist viel straffer organisiert, beinahe wie der öffentliche Nahverkehr, nur dass man auf der eigenen Jacht sitzt.

Beispielsweise muss man zum richtigen Zeitpunkt in Port Said festmachen. Man muss am vorhergehenden Abend um 19.00 Uhr dort sein, sonst darf man nicht mehr durch, so einfach ist das. Laut Damian lag das daran, dass im September in südlicher Richtung viel Betrieb ist. Es hat mit Strömungen oder dem Wind oder so etwas zu tun.

Außerdem mussten wir alle Dokumente übergeben, bei deren Zusammenstellung ich Damian geholfen hatte. Es war ein Witz: Ich hatte am wenigsten Spaß an dieser Reise und wusste wahrscheinlich – außer dem Kapitän – mehr über die Jacht als alle anderen. Dad war ziemlich überrascht, dass Damian mich zu sich winkte, als der Vertreter der Agentur an Bord kam, die uns beim Papierkram mit den Behörden helfen sollte.

Schließlich übergaben wir folgende Dokumente, die für die Fahrt durch den Kanal notwendig waren:

– Schiffszertifikat

– Ladeliste

– Besatzungsliste

– Tiefgang

– Frachtdeklaration

– Plan des Maschinenraums

– Bescheinigung der Bruttoregistertonnen

– Bescheinigung der Ladekapazität

– Und zu guter Letzt… eine Hundertdollarnote.

Von sich aus hätte Damian wahrscheinlich nicht daran gedacht. Verwundert starrte er die immer noch ausgestreckte Hand des Agenten an, dem wir längst alle erforderlichen Papiere ausgehändigt hatten. Ich musste ihm einen Knuff versetzen, Daumen und Zeigefinger aneinanderreiben und ihm so verdeutlichen, was zu tun war.

Wie auch immer, wir bekamen die erforderliche Genehmigung. Das hieß aber noch nicht, dass es losging. Es hieß nur, dass wir zu den anderen Schiffen unseres Konvois stoßen durften. Wir würden an diesem Tag sowieso nicht mehr an die Reihe kommen. Die Durchfahrt sollte in der folgenden Nacht um ein Uhr beginnen.

Ich muss zugeben, dass ich eigens dafür lange aufblieb. Auch wenn Sie das vielleicht komisch finden, es war interessant. Wir waren eine von insgesamt nur drei Jachten inmitten verschiedener Frachtschiffe. Eins davon war grotesk, es erinnerte an eine schwimmende Stadt. Ich schwöre, die Brücke oder was auch immer befand sich vier Stockwerke über dem Deck. Wir fuhren nacheinander hinter einem offiziellen Lotsen her. Die Daisy May befand sich irgendwo in der Mitte. In der Dunkelheit konnten wir gerade noch die Lichter der beiden Schiffe vor und hinter uns erkennen.

Als wir ungefähr die Mitte des Kanals erreicht hatten, ging die Sonne auf. Ich stand, mit Pullovern und Halstüchern ausgerüstet, bibbernd auf dem Deck. Zu beiden Seiten erstreckte sich eine flache, schmutzig gelbe Wüste, und wir fuhren einen großen blauen Streifen hinunter, der so aussah wie jeder andere Kanal, nur viel größer. Groß genug für das riesige Frachtschiff direkt vor uns. Das ganze Ding wirkte surreal.

Wir kamen an militärisch aussehenden Gebäuden am Ufer vorbei, was ich beunruhigend fand, und dann wurde es ziemlich eintönig – nichts als Wüste und Kanal. Ich ging in meine Kabine und schlief sofort ein.

Als ich das nächste Mal an Deck kam, fuhren wir schon an der ägyptischen Küste entlang. Und so konnte ich eine echte Küstenlinie statt des monotonen Landstrichs am Suezkanal betrachten. Damian sagte mir, dies sei die Sinaihalbinsel. Sie bestand anscheinend aus rotem Sand und verdorrten Bäumen, deren Namen ich nicht kannte. Im Hintergrund erhoben sich Berge. Ich hielt ihren Anblick für schön – sie flimmerten in der Hitze, und der blutrote Sand bildete einen starken Kontrast zum blauen Meer.

»Dort ist Moses auf den Berg gestiegen«, verkündete die Stiefmutter, als sie zu mir an Deck kam. Sie deutete in die entsprechende Richtung. »An der Stelle soll er den brennenden Dornbusch gesehen haben, ehe er mit den Zehn Geboten vom Berg herabkam«, fuhr sie fort.

»Na gut.«

»Nein, ehrlich«, beharrte sie. »Als ich noch jünger war, habe ich den Berg Sinai bestiegen. Dies ist natürlich das Rote Meer, das Moses geteilt hat.«

Ich sah mich um. Seltsam, dass sich alle diese Ereignisse genau hier abgespielt hatten. Ich meine, ich glaubte nicht wirklich an das Teilen des Roten Meers, aber natürlich kannte ich die Geschichte seit meiner Kindheit. Es war nur komisch, dass es dabei um einen realen Ort ging, an dem ich mich auf einmal befand. Als hätte jemand zum Horizont gedeutet und gesagt: Schau mal, dort liegt Nimmerland.

Später erteilte Dad Damian die Anweisung, Anker zu werfen und das Tauchdeck hinunterzulassen. Er hatte sich im Internet Karten oder sonst etwas angesehen und war der Meinung, unmittelbar unter uns befinde sich ein erstaunliches Korallenriff. Er wollte unbedingt tauchen, aber die Stiefmutter wollte lieber schnorcheln, daher holten sie sich nur zwei Masken und die Schwimmflossen.

»Komm schon, Amy!«, drängte mich Dad, während er das T-Shirt auszog. »Lass es dir doch mal gut gehen und nimm für eine Weile die Kopfhörer ab!«

Ich betrachtete seine teigige weiße Haut und die Stiefmutter, die neben ihm auf dem Deck saß und die Schwimmflossen anlegte.

»Lieber nicht«, antwortete ich.

»Die Korallen haben erstaunliche Farben, Amybärchen«, sagte Dad.

»Na gut«, antwortete ich. »Dann genieß sie.« Ich schlug eine Zeitschrift auf und steckte mir die Kopfhörer wieder in die Ohren.

»Lass sie nur, James!«, hörte ich die Stiefmutter undeutlich sagen. Dad, der schon ein Stück auf mich zugekommen war, hielt inne. »Sie muss selbst wissen, was sie verpasst.«

Miststück, dachte ich und schloss die Augen, als Dad sich wieder entfernte. Als ob es mich gestört hätte, wenn ich etwas verpasste. Ich war nicht einmal auf ihrer Hochzeit gewesen. Sie hatten in irgendeinem Büro in Richmond geheiratet, und ich war lieber mit meinen Freunden ausgegangen und hatte mich betrunken.

Ich ging zwar nicht schnorcheln, aber ich mochte das Rote Meer und sah mich von diesem Augenblick an sogar aufmerksam um. Fast einen ganzen Tag lang hielt ich Ausschau, ob eine Schule Delfine auftauchte, die der Jacht folgten, in die Luft sprangen, sich überschlugen und das glitzernde Wasser in den Himmel spritzten.

Noch eine verrückte Sache: Ich begriff, warum Dad uns auf diese Fahrt mitgenommen hatte. Es hatte mit der Bewegung zu tun, wenn man sich auf dem Vorderdeck befand. Das unendliche Meer kam dort auf einen zu, andererseits konnte man sich umwenden und hinten das Kielwasser beobachten. Die Jacht bewegte sich immer in die Zukunft und ließ das Vergangene hinter sich zurück. Es war hypnotisierend. Das blaue Meer und das rote Land zogen vorbei.

Da verstand ich, was die Jacht war. Sie war kein Boot, sondern eine Maschine, durch die die Vergangenheit in Vergessenheit geriet. Schließlich gefiel mir diese Vorstellung sogar.

Dann hörte ich zum ersten Mal von den Piraten.