26Als ich am nächsten Tag zum Frühstück aufs Deck ging, war Farouz wieder da. Der Anblick versetzte mir einen Stich mitten ins Herz. In voller Lebensgröße hockte er da und zerteilte eine Wassermelone.

Als er den Kopf hob, keuchte ich auf.

Vom Ohr bis zur Augenbraue verlief ein Schnitt, als hätte ihm jemand das Auge zerhacken wollen und ihn nur knapp verfehlt. Die andere Wange war geschwollen, die Lippe aufgeplatzt. Beinahe wäre ich zu ihm gestürzt und hätte laut geschrien, um zu erfahren, was geschehen war. Aber ich beherrschte mich, weil zu viele andere Leute in der Nähe waren.

Vielmehr überwand ich mich, nahm mir ein Stück Wassermelone und wartete ab, bis niemand mehr lauschen konnte. Ich fühlte mich zerrissen. Einerseits wollte ich, dass die Zeit rasch verging, damit ich mit ihm reden konnte, andererseits wünschte ich, er wäre nicht zurückgekommen. Ich wollte es wissen und wollte es nicht wissen. Hatte er mit den anderen Piraten gekämpft? Hatte er jemanden getötet?

Damals war ich zu dumm, um auf meine eigenen Alarmsignale zu achten.

Endlich waren wir mehr oder weniger allein. Ich ging zu ihm und tat so, als wolle ich ihn um ein weiteres Stück Wassermelone bitten.

»Was ist passiert?«, fragte ich. »Wo bist du gewesen?«

»Nirgends«, antwortete er.

Dann ging er weg.

Ich stand einen Moment lang schweigend da. Ich konnte nicht glauben, was ich da gehört hatte. Es war so eine offensichtliche, lächerliche Lüge. Eine Lüge, wie Jugendliche sie vorbringen. Ich weiß, wovon ich rede, weil ich selbst zu dieser Gruppe gehöre. Manchmal lüge ich irgendjemanden an, aber hauptsächlich mich selbst.

»Warte!«, rief ich, als ich die Zunge wieder bewegen konnte. »Du kannst mich doch nicht einfach so…«

Er war längst fort.

Sie können sich vorstellen, dass ich nicht bester Laune war, als ich nach dem Abendessen ins Kino ging.

Deshalb war die Überraschung, die mich dort erwartete, umso größer.

Als ich die Tür öffnete, war es im Innern völlig dunkel. Ich tastete nach dem Lichtschalter, aber mir kam jemand zuvor und riss ein Streichholz an. Ich hörte es ratschen, sah die Flamme, das Gesicht und die wie Schalen zusammengelegten Hände meines Dads, die in der Dunkelheit zu schweben schienen.

Dann bewegte sich die Flamme, und eine Kerze erschien. Eine große Kerze… die in einem Kuchen steckte.

Happy birthday to you, sangen sie.

Sie zündeten weitere Streichhölzer an, und nach und nach erschienen die Menschen im Raum, die alle Kerzen in den Händen hielten. Jetzt erkannte ich auch, dass es die für Notfälle gedachten Kerzen der Jacht waren. Sogar im Kuchen steckte eine. Sie wirkte in dem kleinen dunklen Kuchen unmöglich groß.

»Ist… ist das Schokolade?«, fragte ich, als die anderen zu singen aufgehört hatten.

Es waren nur die Crew und meine Familie, nirgends war ein Pirat zu sehen.

»Ja, Amybärchen«, bestätigte mein Dad. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«

»Ist denn heute der sechste Oktober?«

»Ja, schon«, bestätigte er. »Offensichtlich.«

»Wow«, machte ich. »Wow. Ich bin achtzehn.«

Dann brach ich in Tränen aus.

Natürlich beruhigte ich mich bald wieder und aß ein Stück Kuchen. Ich fand ihn echt lecker. Ich meine, er war in der Mitte etwas pappig und schmeckte nicht ganz nach der Schokolade, an die ich gewöhnt war. Aber wenn ich bedachte, unter welchen Umständen er gebacken worden war, war er ziemlich gut.

Irgendwie kam es mir komisch vor, dass wir Geiseln unter uns waren. Aber wäre es nicht noch seltsamer gewesen, wenn die Piraten an meiner Geburtstagsfeier teilgenommen hätten? Alle waren leicht hysterisch. Tony machte einen Scherz über die Notfallkerzen, die wir wahrscheinlich nicht mehr brauchen würden, und alle lachten viel lauter als angebracht. Die Stiefmutter küsste mich auf die Wange, was mir sogar nichts ausmachte.

»Scharaden!«, rief Tony. »Das wird lustig. Kommt, macht alle mit!«

»Fangen Sie schon mal an«, erwiderte Dad. »Wir sind danach an der Reihe.«

Dann nahm Dad mich zur Seite und fuchtelte nervös mit den Händen herum.

»Ich wollte…«, begann er. »Ich meine, ich… das heißt…«

»Bekomme ich eigentlich kein Geschenk?«, fiel ich ihm ins Wort. Es sollte ironisch und witzig klingen, denn wie sollte er ein Geschenk besorgen, wenn wir von Piraten gefangen gehalten wurden? Offensichtlich hatte ich mich aber im Ton vergriffen, denn er wirkte betroffen.

»Ich hatte eins«, sagte er. »Ich hatte tatsächlich ein Geschenk, aber ich glaube, es war nicht so passend. Nur etwas Schmuck. Teurer Schmuck. Ich weiß nicht. Jetzt kommt es mir dumm vor.«

»O ja.« Ich lächelte. »Was du dir auch ausdenkst – schenk mir keinen teuren Schmuck! Das wäre schrecklich.«

»Ähm…«, machte er. »Ja, na gut. Wenn du willst, kann ich ihn natürlich holen. Ich habe ihn in meiner Kabine versteckt. Ich könnte…«

»Dad, ich mache Witze«, beruhigte ich ihn. »Du hast schon recht, im Augenblick brauche ich keinen Schmuck.«

»Oh, gut!« Dann errötete er. »Ich besorge dir ein anderes Geschenk, wenn wir wieder zu Hause sind. Etwas Besseres. Wenn wir wieder zu Hause sind, musst du mir nur sagen, was du willst. Ich kaufe es dir. Egal, was es ist.«

»Darauf komme ich gern zurück«, entgegnete ich.

Er erwiderte mein Lächeln.

Dann rief Tony uns zu sich, und der Augenblick war vorbei.

Wir spielten Scharade und bildeten eine kleine alberne Insel in dem allumfassenden Drama. Wie sich herausstellte, war Damian großartig. Er hätte Schauspieler werden sollen. Dad kam, was absehbar war, nicht sonderlich gut zurecht. Der Anblick, wie er umherflatterte, um Einer flog über das Kuckucksnest darzustellen, hat sich mir eingebrannt wie eine Tätowierung.

Als ich schlafen gehen wollte und gerade von der Toilette kam, begegnete mir die Stiefmutter.

»Es war nett, dich zusammen mit deinem Dad zu sehen. Ich meine, dass ihr mal miteinander geredet habt.«

»Äh, ja«, sagte ich. »Na gut.«

»Er liebt dich sehr, Amy.«

Ich zog die Augenbrauen hoch.

»Das weiß ich doch.«

»Wirklich? Weißt du auch, dass er für den Kuchen bezahlt hat

»Was meinst du damit?« Ich runzelte die Stirn. »Es gibt hier doch keine Bäckereien.«

Ich hatte nicht weiter über den Kuchen nachgedacht und angenommen, er habe aus Zutaten bestanden, die wir an Bord hatten.

»Eier«, erklärte mir die Stiefmutter. »Für einen Kuchen braucht man Eier. Und Milch.«

Eine Möglichkeit oder ein Gedanke bildete sich in meinem Kopf heraus wie ein Haus, das im Dunklen in einer Kurve von einem Autoscheinwerfer erfasst wird.

»Meinst du, er hat die Piraten bezahlt, um Eier zu bekommen?«

»Ja. Er hatte in einem Schuh oder anderswo noch fünftausend Dollar versteckt, die er Ahmed gegeben hat. Ahmed hat diesen Jungen geschickt, der…«

»Farouz«, warf ich ein. In meinem Kopf klickte es, als sich alles zusammenfügte.

»Ja. Den, der so gut Englisch spricht. Er hat sich zum Strand aufgemacht und hat die Eier besorgt. Gott allein weiß, was er anstellen musste, um sie zu beschaffen. Er hatte überall Blutergüsse.«

»Nicht zu fassen«, murmelte ich.

»So sehr liebt dich dein Dad«, bekräftigte die Stiefmutter. »Er wollte unbedingt, dass du einen Kuchen bekommst.«

»Gut«, sagte ich und schluckte schwer. »Danke, dass du es mir gesagt hast.«

Glauben Sie mir, es fiel mir nicht leicht, diese Worte auszusprechen. Dies umso mehr, weil die Stiefmutter so begeistert war. Sie sonderte ihr Entzücken ab wie Feenstaub.

»Gern geschehen, Amy«, antwortete sie.

Damit wandte sie sich um und kehrte ins Kino zurück.

Aber ich war eine undankbare Göre. Sie hatte völlig recht – was Dad getan hatte, war nett. Ich dagegen dachte vor allem an Farouz und stellte mir vor, wie er losgezogen war, um die Zutaten für meinen Kuchen zu besorgen, und wie er dabei verletzt worden war.

Davon bekam ich Magenschmerzen.

Nun ja, letzten Endes könnte man vielleicht einwenden, ich hätte genau das bekommen, was ich verdient hatte.

Am nächsten Tag fühlte ich mich seltsam. Ich war achtzehn. Volljährig. Das sollte eigentlich ein großes Ereignis sein, einer dieser Geburtstage, die man nie vergisst. Natürlich würde ich diesen Geburtstag nie vergessen, aber eben leider aus den falschen Gründen.

Ich fand keine Ruhe, konnte aber auch nicht einfach auf Farouz zugehen und ihn fragen, warum er sich beim Einkauf der Eier solche Schnittwunden und Prellungen zugezogen hatte. Schließlich verzog ich mich in mein Zimmer und hörte eine Weile Musik. Wir durften ja unsere Kabinen betreten, nur nicht dort schlafen. Ich war aber nicht mit dem Herzen bei der Sache.

Dann bemerkte ich aus den Augenwinkeln etwas Hölzernes.

Es war meine Geige. Die Piraten hatten sie anscheinend aus dem Koffer geholt und den Eindruck gewonnen, sie sei nicht nützlich, denn sie lag halb drinnen und halb draußen auf dem Samtpolster in meinem Schrank, der ein Stück offen stand.

Ich zog die Tür ganz auf, um die Geige aufzuheben.

»Spielst du?«, fragte jemand hinter mir.

Ich wandte mich um. Es war Farouz.

»Du solltest besser draußen bleiben«, warnte ich ihn. »Mein Dad erlaubt nicht, dass ich mit dir spreche.«

Warum sagte ich das? Eigentlich war es mir doch egal, was mein Dad erlaubte oder nicht erlaubte. Aber ich wollte Farouz wehtun, denn er hatte mir wehgetan, indem er mich in Angst versetzt hatte. Ich glaubte, alle Jungs hätten vor den Vätern der Mädchen Angst. Das stimmt wohl auf der ganzen Welt, und das schließt auch Somalia mit ein.

Gleichzeitig wollte ich natürlich auch, dass er blieb. Ich war mir selbst die schlimmste Feindin.

»Dein Vater spricht mit Ahmed auf der Brücke«, antwortete er.

Seufzend legte ich die Violine weg.

»Wie ich hörte, hast du zu meinem Geburtstagskuchen beigetragen.«

»Ein wenig.« Er hob die Schultern. »Dein Vater hat bezahlt.«

»Ich bin froh, dass du geholfen hast. Er hat gut geschmeckt. Danke.«

»Damit habe ich nichts zu tun«, antwortete er. »Deine Stiefmutter hat ihn gebacken.«

»Oh, wirklich?«

Ich hatte gar nicht darüber nachgedacht, wer den Kuchen gebacken hatte – das verzogene reiche Mädchen eben. Typisch. Aber wenn mich jemand gefragt hätte, dann hätte ich auf Felipe getippt.

»Ja«, bestätigte Farouz. »Ich glaube, es war ihr wichtig.«

Ich blinzelte.

»Oh«, machte ich noch einmal wie eine gesprungene Schallplatte. Seltsam, dass wir immer noch dieses Bild benutzen. Ich meine, ich hatte noch nie eine Schallplatte in der Hand gehabt.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte Farouz. »Du scheinst so… entfernt.«

»Wir sagen, jemand ist abwesend«, berichtigte ich ihn.

»Ah, danke. Also, du siehst so abwesend aus.«

»Das bin ich wohl auch.«

Ich hob die Hand und berührte auf meiner Wange die Stelle, die bei ihm verletzt war.

»Was ist passiert

»Nichts«, wehrte er ab.

»Du machst Witze, oder?«

»Die andere Gruppe der Küstenwache«, erklärte er. »Sie haben mich entdeckt.« Er hob die Schultern. »Es gab einen Kampf. Aber das war nicht so schlimm, denn keiner besaß eine Pistole. Und ich hatte ein paar Freunde.«

Verschwinde aus diesem Raum!, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Verschwinde sofort aus seiner Nähe! Er ist gefährlich.

Aber ich blieb.

Er näherte sich meiner Geige.

»Spielst du?«, fragte er.

Sein Tonfall machte mir klar, dass das Gespräch über sein Gesicht beendet war.

»Nein«, antwortete ich. »Nicht mehr.«

»Ich spiele Oud«, erklärte Farouz.

»Oud?«

»Ein Saiteninstrument, das einer Gitarre oder einer Lyra ähnelt. Es hat einen großen Korpus. Man zupft die Saiten, man kann aber auch auf den Korpus schlagen, um einen Rhythmus zu erzeugen.«

Ich war überrascht, dass Farouz überhaupt wusste, was eine Lyra war.

»Ich bin überrascht – du weißt, was eine Lyra ist.«

»Mein Vater hat an der Universität Musik unterrichtet.«

»Oh, na gut.« Ich wusste bereits, dass sein Vater Professor gewesen war, nur die Fachrichtung hatte er mir nicht genannt.

»Er hat für mich auf der Oud gespielt, als ich geboren wurde«, fuhr Farouz fort. »Im Islam soll der Vater für das Kind ein Gebet sprechen. Ein Gebet soll das Erste sein, was der Säugling hört, das Erste, was ihm der Vater sagt. Aber mein Vater spielte für mich ein altes Lied auf der Oud.«

»Das ist schön«, sagte ich.

»Ja. Aber meine Mutter war wütend. Sie sagte, Musik sei kein Gebet. Mein Vater richtete sich neben meiner Wiege groß auf. O doch, sagte er. Musik ist ein Gebet. Musik ist das schönste aller Gebete. Diese Geschichte hat er mir oft erzählt.«

Ich lächelte und malte mir die verrückte Szene aus, wie man es eben tut, wenn man eine Geschichte hört. Ich war seinen Eltern nie begegnet, wusste nicht, wie sie aussahen, aber ich hatte ein Bild im Kopf, das ich in Wirklichkeit nie erblickt hatte – die Wiege, den Mann und die Frau im Streit, aber vielleicht trotz aller Wut voller Zuneigung. Und Farouz hatte von der Begebenheit natürlich auch nur durch seine Eltern erfahren.

»Mein Vater liebte die Oud«, fuhr Farouz fort. »Es ist ein sehr altes Instrument, aber natürlich gibt es auch junge Menschen, die darauf spielen. In London lebt ein Mann, der ganz Erstaunliches damit zustande bringt. Wir sehen ihn auf YouTube. Er heißt Aar Maanta. Hast du von ihm gehört

»Leider nicht.« Ich schüttelte den Kopf.

»Nun ja, vielleicht spiele ich dir mal eins seiner Lieder vor«, versprach Farouz. »Natürlich habe ich jahrelang nicht mehr geübt, nachdem ich mit meinem Bruder Mogadischu verlassen hatte.«

In seiner Stimme lag ein Unterton, den ich noch nicht gehört hatte. Sehnsucht, würde ich sagen.

»Abgesehen von meinen Eltern war der Verlust der Oud das Schlimmste.«

»Aber jetzt hast du eine neue?«

»Ja«, bestätigte er. »Ich habe sie mir gleich nach meinem ersten Einsatz gekauft. Damals war mein Anteil klein, aber er reichte aus, um eine Oud zu kaufen.« Er blickte mich an. »Warum spielst du nicht mehr?«

Ich hob nur die Schultern, weil ich keine Lust hatte, ihm zu erklären, dass es ein Vorher und ein Nachher gab und dass die Geige zum Vorher gehörte. Ich meine, ich hatte ihm ja schon von meiner Mutter erzählt, und er hatte seine Eltern verloren, so viel wusste ich. Deshalb hätte er eigentlich verstehen müssen, warum ich nicht mehr Geige spielte und dass der Gedanke daran unerträglich war, weil ich schon beim Anblick des Instruments an meine Mom denken musste.

Aber wie erklärt man ein solches Gefühl? Das ist nicht möglich. Ich glaube, ich kann es heute immer noch nicht richtig schildern. Falls Sie mich verstehen, falls Sie so etwas selbst erlebt haben, dann tut es mir leid.

Ich will nicht weiter ausführen, wie mich der Selbstmord meiner Mutter veränderte. Ich will nur Folgendes dazu sagen, und vielleicht verstehen Sie dann ein bisschen mehr.

Es geschah ungefähr drei Wochen danach. Ich war in Kingston im Einkaufszentrum. Es ist ein modernes Gebäude mit gläsernen Aufzugkabinen. Wenn man hinauf- oder hinunterfährt, sieht man die Geschäfte auf den einzelnen Ebenen.

Ich fuhr nach unten, und dort unten beim KFC, auf der Seite von WH Smith, dort sah ich sie in ihrem Sommerkleid mit den grünen Pflanzenmotiven. Sie wartete auf mich. Ja, ich glaube, sie wartete darauf, dass ich mit dem Lift unten ankam. Ich wollte, dass der Aufzug schneller fuhr, und drückte noch einmal auf den Knopf für das Erdgeschoss. Aber dann hielten wir im ersten Stock an, weil eine Frau mit einem Kinderwagen einsteigen wollte, in dem ein lockenköpfiges Baby schrie. Ich drehte mich um, und eine Sekunde lang war die Frau da unten am KFC immer noch meine Mom.

Dann wandte auch sie sich um, und sie war um zwei Jahrzehnte und mehrere Hauttöne ganz sicher nicht meine Mom, ganz zu schweigen von den tätowierten kleinen Sternen am Hals.

Dann passierte etwas mit mir. Direkt vor der Frau mit dem Kinderwagen knickten meine Beine ein, als hätte mir jemand die – wie heißt das noch? – Sehnen und Bänder durchgeschnitten. Mitten in der gläsernen Aufzugkabine, mitten in dem Einkaufszentrum, wo ungefähr achtzig Prozent der Einwohnerschaft von Kingston versammelt waren, gar nicht so weit von meiner Schule entfernt, klappte ich zusammen.

Es klingt vielleicht blöd, aber erst in diesem Augenblick wurde mir wirklich durch und durch bewusst, dass Mom tot war. Es ist mir nur ein einziges Mal passiert, aber vielleicht können Sie es sich vorstellen.

Diese umfassende Einsicht traf mich nur ein einziges Mal, aber den Verlust spüre ich jeden Tag. Wenn jemand stirbt, denkt man eben: Jetzt ist es passiert, etwas Schreckliches ist geschehen. Man denkt, man könne trauern, und dann gehe das Leben weiter. Aber so ist es nicht. Ich hatte meine Mom mein ganzes Leben lang gekannt. So ist das nämlich, wenn man eine Mom hat. Ich erinnere mich an sie, an die Wochenenden, an die Ferien und die Geburtstage, an die Kinobesuche, an die Suche nach Würmern im Garten. Alles, was ich sehe, könnte mich an sie erinnern, wenn ich nicht aufpasse. Es könnte ein Bild von ihr oder einen Film in meinem Kopf heraufbeschwören. Sogar ihren Geruch.

Also kann ich sagen, dass sie nicht nur ein einziges Mal starb. Sie stirbt jeden Tag, immer wieder. Ein Mensch ist nicht nur Kopf, Rumpf, Beine und Arme. Er breitet sich auch in Raum und Zeit aus und macht sich in Habseligkeiten, Bankkonten, E-Mail-Adressen und Erinnerungen bemerkbar. Ein Mensch ist zu groß, um mit dem Wort tot völlig erfasst zu werden. Die Beine, der Kopf, der Körper – das mag alles verschwinden. Aber das andere bleibt. Ein Mensch ist zu groß und bringt sich immer wieder in Erinnerung, wenn man auf etwas stößt, das ihm gehörte, das er einem geschenkt hat oder wenn unerwartet jemand anruft, der nichts von seinem Tod weiß.

Das alles ging mir durch den Kopf, als ich mit der Geige in der Hand dastand. Außerdem war ich immer noch wütend auf Farouz, weil er praktisch zugegeben hatte, dass er mich im Ernstfall erschießen würde. Dann stellte ich mir die Frage, wie er eigentlich anders handeln sollte. Farouz war ein Pirat. Zuallererst war dies sein Job, mit dem er seinen Lebensunterhalt verdiente. Zudem lebte sein Bruder noch, und Farouz hatte die Möglichkeit, ihn freizukaufen. Hätte sich mir die Gelegenheit geboten, meine Mom zurückzubekommen, dann hätte ich doch auch alles Menschenmögliche getan, um sie zu retten.

Vielleicht waren Farouz und ich doch nicht so unterschiedlich.

Im Übrigen

Im Übrigen war es gar nicht so schwer, ihm begreiflich zu machen, warum ich nicht mehr spielte. Ich legte die Geige weg.

»Meine Mutter hat mir gern beim Spielen zugehört«, erklärte ich. »Sie ist tot, deshalb spiele ich nicht mehr.«

Da, so einfach war das.

»Verstehe«, sagte Farouz.

Und wissen Sie was? Ich suchte seinen Blick und sah, dass er es wirklich verstand.

Ich ging auf ihn zu. In meiner Kabine gab es ein Bullauge, durch das ich das dunkle, tief im Wasser liegende Schiff der Royal Navy erkennen konnte. Es starrte vor Kanonen.

»Hast du keine Angst vor denen?« Ich deutete mit dem Daumen zum Bullauge.

»Vor der Marine? Nein. Machst du Witze?«

»Aber das ist die Royal Navy! Die haben Hubschrauber, Raketen und große Kanonen…«

»Und wenn sie mit den großen Kanonen schießen, töten sie auch dich. Wir in Somalia sagen: Dabagaalle ar diley ma aragteen.«

»Was?«

»Es heißt, das Eichhörnchen besiegt den Löwen. Wir haben keine Angst vor dem großen Schiff. Wir sind das Eichhörnchen.«

»Ahmed sagt, ihr seid der Fuchs.«

»O nein«, widersprach Farouz. »Wir sind das Eichhörnchen. Wir sind klein, und die Kriegsschiffe sind groß, aber wir gewinnen immer.«

»Was ist denn so besonders an dem Eichhörnchen?«, fragte ich, aber Farouz machte eine geringschätzige Geste, als sei das unwichtig.

»Ich erzähle es dir«, versprach er, »ein andermal.«

Ich beobachtete immer noch das Schiff der Royal Navy und fragte mich, was sie da drüben dachten und ob sie die Verhandlungen mithören konnten. Ich nahm es an. Wahrscheinlich würden sie auch bei der Übergabe helfen.

»Wie viel von den vier Millionen bekommst du?«, fragte ich. »Wie wird es aufgeteilt

»Dreißig Prozent sind für den Sponsor«, erklärte er. »Die Entführer erhalten fünfzig Prozent. Dies wird zwischen Ahmed, Mohammed und den anderen Männern aufgeteilt, die das Boot geentert haben. Ahmed und Mohammed bekommen etwas mehr als die anderen. Ahmed ist Offizier Eins, Mohammed ist Offizier Zwei. Ich erhalte auch etwas mehr, weil ich der Dolmetscher bin. Der Mann mit der Bazooka ist Militärtechniker. Falls der Hubschrauber angreift, schießt er ihn ab. Er hat schon drei Leute getötet. Also kriegt er auch etwas mehr. Das alles arbeiten Nyesh und Ahmed in allen Einzelheiten aus. Die Wächter vom Strand nicht zu vergessen. Sie haben sich schichtweise abgewechselt und bekommen insgesamt zwanzig Prozent.«

»Was ist mit Nyesh?«

»Er bezieht ein Gehalt von unserem Sponsor. Er geht bei der Entführung kein Risiko ein, führt aber die Bücher. Er bekommt viel Geld und manchmal einen Bonus.«

»Also… wart mal. Ihr wart zehn, als ihr die Jacht gekapert habt.«

»Neun, denn einer ist tot.«

»Also von vier Millionen die Hälfte, geteilt durch neun. Das ist… verdammt, das ist eine Menge Geld.«

»Ja«, sagte Farouz. »Minus fünfzigtausend für meinen Bruder. Die Befreiung meines Bruders ist das Wichtigste.«

»Ich weiß«, antwortete ich und hoffte, es auch glauben zu können. Ich wollte es unbedingt glauben.

»Also…«, begann er.

»Was?«

»Also du.«

»Also ich? Was?«

Er berührte meine Hand, und wieder sprang ein Funke über. Ich sah fast einen blauen Flammenbogen.

»Du bist mir auch wichtig«, sagte er.

»Oh«, antwortete ich. Meine Stimme klang belegt, als spräche eine eingeschüchterte kleine Person in mir.

»Du hast mich gefragt, was ich täte, wenn ich dich auf Ahmeds Befehl hin töten sollte. Dies täte ich: Ich brächte vorher Ahmed um.«

»Dann erschießen dich die anderen Piraten«, wandte ich ein.

»Und?«, antwortete er. »Ich sterbe lieber, als dir wehzutun.«

Ich starrte ihn an.

»Ist das nicht leicht übertrieben?«

»Ich bin ein Pirat«, antwortete er. Dann lächelte er.

Ich erwiderte das Lächeln und tat einen Schritt auf ihn zu, um ihm impulsiv einen Kuss auf die Wange zu geben, aber ich trat unglücklich auf und stolperte. Er fing mich auf. Mir fiel auf, wie stark seine Arme waren und wie er nach Sand und Benzin und Sonnenschein roch. Auf einmal waren unsere Gesichter sehr dicht voreinander, die Wellen schwappten rhythmisch an den Rumpf, vor dem Bullauge schimmerten die Sterne.

Und dann, als ich dachte, Farouz werde ausweichen, küsste er mich, nahm mich in die Arme und zog mich an sich.

Wie kann ich den Kuss beschreiben?

Es war

Es war wie ein Gerät… sagen wir mal ein Fernseher, der noch nie angeschlossen gewesen war. Jetzt war ich angeschlossen und verbunden, und der Strom floss durch mich hindurch. Oh, dafür lebe ich also, dachte ich. Mir war, als würde ich von innen erstrahlen, als hätte mein Körper seinen Sinn gefunden. Ich hatte ein wenig Angst, aber zugleich fühlte ich nur seine Arme und seine Lippen. Vorher hatte ich nicht geatmet, sondern nur kleine Portionen Luft in die Lungen eingesogen.

Nach einem Moment zog Farouz sich zurück.

»Wenn ich erwischt werde, muss ich tausend Dollar Strafe zahlen.«

»Ha«, antwortete ich. »Damit hättest du noch Glück gehabt. Wenn mein Dad uns sieht, bringt er mich um.«

Farouz lächelte leicht.

»Du bist auf allen Seiten von Gefahr umgeben«, meinte er.

Es klang scherzend, und ich lachte. Aber erst danach, als ich im Kino lag und schlafen wollte und immer noch das Kribbeln seines Munds auf den Lippen spürte, wurde mir wirklich bewusst, was er gesagt hatte. Er hatte völlig recht.

Ich schwebte tatsächlich in Gefahr. Vielleicht machte ich alles nur noch schlimmer, wenn ich mich mit Farouz anfreundete – oder wie man es nennen wollte.