2An diesem und am nächsten Abend unternahm ich das Naheliegende: Ich ging auf die Rolle. Die Schulverwaltung hatte natürlich meinen Dad angerufen, und der hatte mir mindestens ein Dutzend Nachrichten hinterlassen und sogar eine SMS geschickt, war aber nicht von der Arbeit nach Hause gekommen, um persönlich mit mir zu sprechen.

Seine Nachrichten waren komisch.

Sie begannen mit:

Ich bin so enttäuscht von dir

Ich dachte, du seist klüger

Es ist deine Zukunft, die du wegwirfst

Dann folgte unweigerlich etwas wie:

Ich weiß ja, dass du es nicht leicht hast

Vielleicht kannst du die Prüfung nächstes Jahr wiederholen

Lass uns darüber reden

Ich ließ sie alle unbeantwortet.

Am dritten Abend nach der Prüfung kam ich spät und betrunken mit dem Taxi nach Hause – gerade so, wie die Stiefmutter achtzehn Monate zuvor in unser Leben getreten war.

Ich wusste, wie ich die Treppe hinaufsteigen musste, damit die Stufen nicht knarrten. In meinem Zimmer streckte ich mich auf dem Bett aus, während sich die Wände um mich drehten. Dann hörte ich ein Gemurmel. Schwerfällig stand ich auf und presste das Ohr an die Wand. Die Stiefmutter sprach.

»… wird immer selbstzerstörerischer«, sagte sie.

»Murmelmurmel«, antwortete mein Dad.

»Aber was ist, wenn… wenn es genetisch ist?«, fragte die Stiefmutter. »Meinst du nicht… etwas… eine Therapie vielleicht? Meine Güte, hast du die Scheußlichkeiten in ihrem Gesicht gesehen?«

»Murmel«, erwiderte mein Dad. »Nur zwei Teilprüfungen bestanden… Keine Aussichten mehr auf die Royal Academy…«

Ich zog mich von der Wand zurück, als hätte mich eine Wespe gestochen, und berührte den Stift in der Augenbraue. Ich zerstöre mich doch nicht selbst, dachte ich. Ich setze Zeichen.

Aber entsprach das auch der Wahrheit? Ich wusste, warum ich laute Musik, das Trinken und das Rauchen mochte: Dabei verschwand ich selbst, und sei es nur für einen kurzen Moment.

Bei Gott, dachte ich. Wenn es nun tatsächlich genetisch ist? Ich dachte an die Narben auf Moms Armen und meine Piercings.

In dieser Nacht schlief ich nicht.

Als ich am nächsten Morgen nach unten ging, saß die Stiefmutter am Küchentisch und wartete auf mich. Zuerst dachte ich, sie wolle mich wegen des vergangenen Abends zur Rede stellen, aber das tat sie nicht. Vielmehr deutete sie auf den Stuhl, der ihr gegenüberstand.

»Setz dich doch, Amy!«, sagte sie. »Wir müssen etwas besprechen. Dein Dad wollte es dir selbst sagen, aber er musste wegen einer dringenden Sitzung früh zur Arbeit.«

Ich betrachtete den Tisch, der mit Landkarten bedeckt war. Draußen lag die Allmende von Ham und glitzerte vor Tau. Mom hatte die Fenster gemocht, die die ganze Wand einnahmen, weil sie so viel Licht hereinließen.

»Was?« Ich betrachtete die Karten. »Wollt ihr mich wegschicken?«

»Nein«, antwortete sie mit gerunzelter Stirn. »Erinnerst du dich noch an die Jacht, die dein Dad erwähnt hat

Ich hatte einen Kater und fand die ganze Szene surreal.

»Was für eine Jacht

»Die Daisy May. Erinnerst du dich nicht

Mir fiel ein, dass Dad an einem der wenigen Abende, an denen wir gemeinsam zu Hause gewesen waren, ein Boot erwähnt hatte, das er vielleicht kaufen wollte, um rund um die Welt zu segeln.

»Ich glaube schon«, antwortete ich.

»Tja«, erklärte die Stiefmutter. »Er hat sie gekauft.«

»Er hat sie gekauft?«, wiederholte ich verwirrt.

Mir schoss ein verrückter Gedanke durch den Kopf: Dad hat sich schon wieder eine neue Frau gekauft. In gewisser Weise konnte man ja sagen, dass er auch die Stiefmutter mit dem Schmuck von Cartier und den Louboutin-Schuhen gekauft hatte.

»Die Jacht«, klärte sie mich auf. »Er hat sie gekauft.«

Ich setzte mich. Die Karten verschwammen mir vor den Augen. Eine Jacht. Na gut, das war normal.

»Und?«, fragte ich nach. Meine Stimme klang sogar noch mürrischer, als ich beabsichtigt hatte. »Er kauft dauernd irgendwelche Sachen.«

Ich sah sie scharf an, damit sie begriff, was ich meinte und dass ich über sie redete. Für den Fall, dass sie es immer noch nicht verstand, heftete ich den Blick anschließend auf ihr Cartier-Armband.

Sie ging nicht darauf ein. »Nun ja«, fuhr sie fort. »Dieses Mal hat er eine Jacht gekauft. Übrigens, im Ofen sind warme Bagel. Ich habe Frischkäse mit Schnittlauch gekauft, den du so gern isst.«

»Danke«, murmelte ich.

»Mach nur, nimm dir welche!«, forderte sie mich auf. »Sie schmecken lecker.«

Das war das Schlimmste an der Stiefmutter. Ich konnte im Grunde tun, was ich wollte – über Lehrer fluchen, Drogen nehmen, sie beleidigen, auf Partys gehen und erst am nächsten Tag zurückkommen –, sie tat immer, als wäre nichts weiter dabei. Danach fühlte ich mich noch schrecklicher, was wahrscheinlich genau ihrem raffinierten Plan entsprach.

Ich holte mir einen Bagel aus dem Ofen und legte ihn auf den Teller.

»Das verstehe ich nicht«, sagte ich schließlich. »Wieso reden wir über die Jacht? Ist das diejenige, die für dreißig Millionen Pfund im Web angeboten wurde?«

»Genau die«, antwortete die Stiefmutter. »Sie liegt in Southampton im Trockendock. Wir wollen aufbrechen, sobald wir einen Kapitän und eine Crew gefunden haben. Ich meine, falls du einverstanden bist.«

»Aufbrechen? Wohin denn?«

»Das ist egal.«

»Entschuldige, aber was redest du da?«

»Es wird eine Reise ohne bestimmtes Ziel. Dein Dad träumt schon lange davon, einmal rund um die Welt zu reisen, und das werden wir tun. In zwei Wochen geht’s los.«

Ich starrte sie an und hielt ihre Worte für einen Scherz, obwohl ich genau spürte, wie ernst es ihr war. Dad hatte schon immer eine Schwäche für Boote gehabt, auch wenn er nicht selbst segeln konnte. Schon vor dem Ereignis hatte er darüber geredet, mich für ein Jahr aus der Schule zu nehmen und eine lange, abenteuerliche Reise zu unternehmen. Mom hatte immer gesagt, das sei ein alberner Plan, und es werde nie dazu kommen, aber Mom hatte eine Menge Phantastisches erzählt. Jedenfalls hatte er wohl nach den Piercings und der Zigarette in der Turnhalle diesen Einfall gehabt. Die Stiefmutter hatte eine Therapie erwähnt, aber nach allem, was mit Mom passiert war, hasste Dad die Seelenklempner. Deshalb war die Jacht wohl seine Alternative. Seine Vorstellung von einer besser geeigneten Behandlung.

Ich betrachtete die Karten. Irgendjemand – vermutlich Dad – hatte dünne gepunktete Linien eingezeichnet, die um die ganze Welt führten: über den Atlantik und den Pazifik, hinunter nach Australien, an der indischen Küste entlang, durch die Karibik. Wirklich überall.

»Warum das?«, fragte ich.

»Warum? Es ist einfach ein Tapetenwechsel. Ein Neuanfang.«

»Willst du wirklich den ganzen Tag nur Klischees verbreiten?«, erwiderte ich.

»O Amy!«, rief sie. »Wir dachten, du freust dich.«

»Wir? Dad hat sich nicht mal die Mühe gemacht, es mir selbst zu sagen.«

»Das wollte er eigentlich, aber er ist…«

»Ja, schon gut. Jedenfalls gehe ich nicht weg. Meine Freunde leben hier. Ich will nicht auf eine blöde Jacht.«

»Amy, du bist noch nicht achtzehn«, erklärte mir die Stiefmutter. »Dir bleibt nichts anderes übrig.«

Ich hielt die Luft an, damit ich kein Feuer spie wie ein Drache.

»Ich werde im Oktober achtzehn«, antwortete ich. »Wo sind wir denn? In Indien oder Japan? Dann steige ich einfach aus und fliege nach Hause.«

»Wenn du das willst, dann tu’s«, erwiderte die Stiefmutter ungerührt.

Ich atmete mehrmals ein und aus.

»Es spielt sowieso keine Rolle«, fuhr ich fort, »weil es gar nicht dazu kommen wird. Dad wird einen Rückzieher machen. Du kennst ihn noch nicht lange genug, um das zu wissen. Es wird genau so kommen wie mit dem Urlaub auf Hawaii. Und in Goa. Und mit dem Nordlicht. Genau wie der Besuch beim Weihnachtsmann, als ich acht war. Ah, nein – warte! Da warst du ja noch nicht da. Das ist jedenfalls alles nie geschehen, und auch diese Reise wird nicht stattfinden.«

Die Stiefmutter schürzte die geschminkten Lippen und legte die Hände auf den Tisch. Sie holte tief Luft.

»Ich koch dann mal Kaffee«, erklärte sie.

Leider hatte ich vollkommen recht. Dad tat buchstäblich überhaupt nichts außer zu arbeiten. Wir fuhren nicht einmal mehr zum Strandhaus auf dem North Fork, wie wir es damals, als wir in New York lebten, manchmal noch getan hatten. Ich konnte gar nicht mehr sagen, bei wie vielen Ausflügen er gekniffen hatte. Deshalb bin ich schließlich auch allein mit Mom nach Mexiko gefahren, um die Schildkröten bei der Eiablage zu beobachten.

Dad bekleidete eine hohe Stellung bei einer Bank, deren Firmenschild man in London und New York an jeder Ecke sah, und er hatte immer sehr, sehr viel zu tun. Sicher, er hatte ein Vermögen verdient, aber er war auch ein Sklave seiner Firma. Die Menschen nahmen Dad wahr – er sah gut aus, das musste ich zugeben, und galt mit seinen perfekt frisierten grauen Haaren wohl als distinguiert. Aber wenn man ihn betrachtete, dann entdeckte man eher einen Wolf als eine Person. Man sah vor allem die Gier nach Geld und Erfolg. Er ging nicht über Leichen, so konnte man es wohl nicht ausdrücken, aber er war hungrig. Ich glaube, viele Menschen erkannten das. Es gefiel ihnen sogar, und deshalb gelang es Dad so leicht, alle anderen um den Finger zu wickeln.

Letzten Endes drehte es sich aber einfach nur um Geld und um seine Geldgier. Es war ausgeschlossen, dass Dad ein ganzes Jahr freinahm, um in der Weltgeschichte umherzuschlawinern. So drückte er sich aus, wenn er über Leute sprach, die weniger stark angetrieben waren als er selbst.

Wie sich herausstellen sollte, lag ich auch in dieser Hinsicht falsch.

Ein paar Tage später, es war ein Sonnabend, klopfte es an meiner Zimmertür, und Dad trat ein.

»Du solltest wirklich mehr Licht hereinlassen, Amy«, begann er. »Es ist schon fast Nachmittag.«

»Freut mich auch, dich zu sehen«, antwortete ich.

Er trat ans Fenster und zog die Vorhänge auf. Die Helligkeit überflutete den Raum.

Ich zuckte zusammen und blinzelte.

»Du brauchst neue Sachen«, erklärte er.

»Das hier sieht doch eigentlich ganz nett aus«, erwiderte ich, während ich meinen Schlafanzug mit den Enten betrachtete.

»Haha«, machte er. »Für die Reise. Du brauchst Sachen für die Reise.«

»Die Reise?«

»Ja, du weißt schon – die Weltreise. Mit der Jacht.«

Ich starrte ihn an. Seit dem Zwischenfall mit der Zigarette hatte ich Dad nicht mehr gesehen. Er war dauernd im Büro gewesen, und ich hatte angenommen, die Reise sei mehr oder weniger vergessen. Seit der seltsamen Unterhaltung mit der Stiefmutter hatte ich nicht mehr darüber nachgedacht.

»Hast du das wirklich vor?«, fragte ich. »Du machst Witze, oder?«

Er runzelte die Stirn.

»Nein, ich mache keine Witze. Warum sollte ich über so etwas Witze machen?«

Da hatte er natürlich recht. Dad machte keine Witze. Er hielt davon so viel wie von allem anderen, das nicht zu verkaufen war.

»Aber… wann fahren wir ab?«

»Am fünfzehnten Juli.«

»Das sind ja nur noch drei Wochen!«

»Ich weiß«, bestätigte er. »Deshalb musst du dir ein paar Sachen kaufen.«

»Wie lange sind wir denn unterwegs?«

»Sechs Monate, vielleicht auch acht. Wir haben die Route noch nicht endgültig geplant.«

»Aber was ist mit deinem Job?«

»Ich lege ein Sabbatical ein«, antwortete er.

»O Jesus! Du meinst es wirklich ernst.«

»Ja, natürlich. Wie ich schon sagte, kauf dir Kleidung. Wir fahren durch verschiedene Klimazonen und müssen auf See auch mit schlechtem Wetter rechnen. Ich habe dir eine Liste zusammengestellt.«

Er kam zu mir ans Bett, wo ich, an die Kissen gelehnt, ferngesehen hatte, und reichte mir ein Blatt liniertes Papier. Ich betrachtete die lange Aufstellung. Es waren nicht nur Kleidungsstücke, sondern auch Toilettenartikel, ein Moskitonetz, Sonnenbrillen

»Komm schon, steh auf!«, drängte er. »Wir haben viel zu tun. Ich habe dich schon für die Impfungen angemeldet.«

»Impfungen?«, fragte ich.

»Schutzimpfungen gegen Cholera, Hepatitis und so weiter. Sarah und ich haben das bereits erledigt. Und dann steht die Oxford Street auf dem Programm, um die Reisekleidung zu kaufen.«

Unversehens regte sich nun doch ein wenig Aufregung in meiner Magengrube. Nicht wegen der Reise – ich glaubte immer noch nicht, dass es wirklich so weit kommen würde –, sondern weil ich den Tag mit meinem Dad verbringen würde. Es war lange her, dass wir etwas zusammen unternommen hatten. Ich glaube, seit dem Ereignis nicht mehr.

»Na gut«, willigte ich ein. »Ich dusche nur noch rasch. Wann fahren wir?«

»Wir?«, fragte er verblüfft.

Mein Magen stürzte ab.

»Wir… ich und du. Einkaufen. Zum Impfen. Um alles zu erledigen, was du mir gerade aufgezählt hast.«

»O nein, ich komme nicht mit!«, erwiderte Dad. Erst jetzt – warum eigentlich nicht schon vorher? – bemerkte ich, dass er einen guten Anzug und blank geputzte Schuhe trug. »Ich muss in die Firma«, sagte er. »Vorstandssitzung.«

Natürlich, dachte ich.

Er schob die Hand in die innere Jackentasche, zog etwas heraus und warf es vor meinen Füßen aufs Bett. Eine schwarze Kreditkarte.

»Da, bitte«, sagte er. »Bedien dich! Wenn dir noch etwas gefällt, dann kauf es dir, auch wenn es nicht auf der Liste steht.«

Ich antwortete nicht, weil ich meiner Stimme nicht traute. Beinahe hätte ich geweint, und dann wäre ich mir wie ein kleines Mädchen vorgekommen. So senkte ich nur den Blick.

Als ich den Kopf wieder hob, war er längst weg.