25. KAPITEL

 

Robby wusste, dass etwas nicht stimmte, sobald er sich in dem dunklen Zimmer materialisiert hatte. Er konnte Blut riechen. Mit einer Hand hielt er Olivia fest, und mit der anderen gab er die Nummer von Angus in sein Handy ein.

»Angus«, flüsterte er und wusste, sein Urgroßvater konnte ihn hören. Leider konnte auch Casimir ihn hören, falls er dort war. »Brauche Verstärkung. Beeilt euch.« Er reichte das Telefon an Olivia weiter. »Sag einfach irgendwas.«

»Was?«, flüsterte sie. »Was ist los? Ich kann nichts sehen.«

»Rühr dich nicht vom Fleck.« Robby zog sein Schwert. Seine Augen hatten sich schnell an die Dunkelheit gewöhnt.

Sie standen in einem kleinen Eingangsflur. Durch die halb geschlossenen Jalousien an den Wohnzimmerfenstern drang gerade genug Mondlicht, um die Leichen auf dem Wohnzimmerboden zu erkennen. Langsam ging er zu einer Lampe, die auf einem Beistelltisch neben dem Sofa stand.

»Hallo? Angus?«, flüsterte Olivia ins Telefon. »Robby, da ist niemand dran.«

»Ich bin hier.« Angus stand direkt neben ihr.

Fast hätte Olivia vor Schreck aufgeschrien.

»Ich bin auch hier«, fügte Connor hinzu.

Robby hörte das metallische Gleiten von gezogenen Schwertern. Er schaltete die Lampe ein.

Der Anblick ließ Olivia erstarren.

Robby schätzte, dass etwa zwölf Leichen dort auf dem Boden lagen.

»Hol's der Teufel«, murmelte Angus. »Durchsuchen wir das Haus und das Grundstück.« Er und Connor rasten in Vampirgeschwindigkeit davon.

»Das war schnell.« Olivia zog ihre Pistole. »Glaubst du, die Malcontents sind noch hier?«

»Das bezweifle ich. Sie hätten uns schon lange angegriffen.«

Robby deutete auf die Leichen. »Wir hatten recht. Es gab wirklich eine Party zum Gefängnisausbruch.«

Angewidert verzog Olivia das Gesicht. »Nicht meine Vorstellung von einer Party.«

Er nahm ihr sein Telefon ab und wählte noch eine Nummer. »Whelan, hier ist MacKay. Wir haben noch mehr Leichen gefunden.« Er gab die Adresse durch und legte auf.

Mitfühlend bemerkte Robby die leicht grünliche Gesichtsfarbe Olivias.

»Ich kann dich zurück ins Büro teleportieren, wenn du möchtest.«

Sie drückte ihre Schultern durch. »Es geht gleich wieder.«

Die Arbeit musste getan werden. Er ging ins Wohnzimmer, um sich die Opfer besser ansehen zu können. »Das ist eindeutig das Werk von Vampiren und Sterblichen gemeinsam. Einige der Toten sind ausgesaugt worden. Ihre Kehlen hat man durchgeschnitten, um die Bissspuren zu verdecken, aber es war kein Blut mehr in ihnen, das herausquellen konnte.«

Er zeigte auf einen Mann. »Der dort ist von einem Vampir getötet worden.«

»Das ist Joe Kitchner«, flüsterte Olivia.

»Einige der anderen wurden von Sterblichen ermordet - das müssen die ausgebrochenen Gefangenen gewesen sein.« Er deutete auf eine blonde Frau, der noch ein Messer aus der Brust ragte. »So viel vergossenes Blut. Ein Vampir würde nie so viel Blut verschwenden.«

Olivia legte eine Hand auf ihren Mund und wendete sich ab.

Es war kein Herzschlag festzustellen. Alle zwölf Opfer lebten nicht mehr. Robby schüttelte den Kopf. Auch nach fast dreihundert Jahren konnte er immer noch nicht fassen, wie ein Mensch solche Dinge tun konnte. Das waren keine Menschen. Das waren Monster.

Eine Frau in einem kurzen Rock hatte mehrere Einstichwunden im Bauchbereich. Ihre Beine waren das reinste Gemetzel. »Wer auch immer sie umgebracht hat, ist besessen von Messern.«

Beim Blick auf die Leiche entwich alle Farbe aus Olivias Gesicht. »Das ist das Werk von Otis. Er nimmt sich gern Souvenirs mit.«

Robby trat näher an sie heran. »Ich werde nicht zulassen, dass er dir zu nahe kommt.«

In ihren Augen glitzerten Tränen. »Ich hasse diese Bastarde.«

»Wir erwischen sie.«

»Sie waren schon als Sterbliche widerlich, aber wenn ich mir vorstelle, dass sie zu Vampiren werden und damit tatsächlich Superkräfte bekommen...« Sie schüttelte sich.

Er zog sie in seine Arme, und zu seiner Erleichterung wich sie nicht zurück. Er hielt sie fest.

»Sie sind fort.« Angus erschien genauso schnell im Zimmer, wie er es verlassen hatte.

»Aye.« Connor folgte ihm. »Wahrscheinlich haben sie irgendwo ein Versteck, wo sie die Gefangenen verwandeln können.«

Neugierig musterte Angus die Frau an Robbys Seite. »Sie sind es also, die Robbys Herz erobert hat.«

»Das ist Olivia Sotiris«, stellte Robby Olivia vor, ohne sie loszulassen.

Angus klopfte ihm auf den Rücken. »Sie ist wirklich sehr hübsch, Lad.«

»Sie kann dich hören.« Robby war die Situation etwas unangenehm.

»Sind Sie Robbys Großvater?«, fragte Olivia.

»Ururgroßvater, um genau zu sein. Ich bin sehr stolz auf Robby. Er ist ein anständiger junger Mann.«

»Du musst mich nicht anpreisen«, knurrte Robby.

»Aye, das ist alles sehr romantisch.« Connor bedachte sie mit einem zynischen Blick. »Besonders mit den ganzen Leichen im Zimmer. Habt ihr Sean Whelan benachrichtigt?«

»Ja«, antwortete Robby. »Er ist auf dem Weg.«

Connor betrachtete die Leichen mit ernster Miene. »Noch mehr Opfer von Whelans tödlicher Grippe. Der Idiot glaubt, er ist clever, aber er wird unter den Sterblichen noch eine Massenpanik auslösen.«

»Wenn ihr zwei bleiben könntet«, sagte Robby, »dann bringe ich Olivia zurück.«

»Bleib in Verbindung.« Angus klopfte ihm auf den Rücken. »Und gute Arbeit, ihr zwei.«

Olivia wehrte sich nicht, als Robby erneut seine Arme um sie schlang und sie zurück in Barkers Büro teleportierte. Als sie stolperte, fing er sie auf.

»Ist alles in Ordnung? Du bist furchtbar blass. Brauchst du etwas zu essen?«

»Liebe Güte, nein. Wie sollte ich nach dem Anblick essen?« Sie ließ sich in einen Stuhl fallen und rief Barker an, um ihn auf dem Laufenden zu halten. Dann legte sie den Hörer auf und schloss die Augen.

Robby nahm sein Claymore vom Rücken und legte es auf Barkers Schreibtisch. »Du bist müde.«

»Es waren ein paar anstrengende Tage. Ich habe nicht gut geschlafen.«

»Leg dich auf die Couch. Ich passe auf dich auf. Du bist bei mir vollkommen sicher.«

»Bei einem Vampir?« Sie lächelte. »Vielleicht ruhe ich meine Augen ein bisschen aus.« Sie schleppte sich zum Sofa.

Robby dimmte das Licht, und innerhalb weniger Minuten war Olivia eingeschlafen. Er setzte sich an Barkers Schreibtisch und betrachtete seine Angebetete. Fast war er sich sicher, dass sie ihn immer noch liebte. Wenn es ihm nur gelang, sie zu beschützen, dann konnte sie ihn vielleicht bald so nehmen, wie er war.

Ein plötzlicher Gedanke raubte ihm für einen Moment den Atem. Wenn Otis am nächsten Tag noch sterblich war, würde er zu ihr kommen. Er hatte vielleicht geplant, sie zuerst gefangen zu nehmen, damit sie in der nächsten Nacht gemeinsam verwandelt werden konnten.

Und Robby war tagsüber tot. Er konnte sie nicht beschützen. Oder vielleicht doch.

****

Olivia erwachte langsam aus einem tiefen Schlaf und streckte sich genüsslich in einem großen bequemen Bett aus.

Bett? Der Schreck durchfuhr sie wie ein Blitz. Sie setzte sich auf und sah sich im schwach beleuchteten Zimmer um. Das Licht kam aus einem Nebenraum, einem Badezimmer. Sie entdeckte ihr Waffenhalfter und ihre Jacke auf einem Tisch. Bis auf die Schuhe war sie noch angezogen.

»Robby.« Sie atmete erleichtert auf, als sie ihn auf der anderen Seite des breiten Doppelbettes liegen sah. »Wo sind wir? Wohin hast du mich gebracht?«

Er lag einfach nur da, einen friedlichen Ausdruck auf seinem Gesicht. Er trug karierte Pyjamahosen und ein weißes T-Shirt. Anscheinend befanden sie sich in seinem Schlafzimmer, wo auch immer das war.

»Robby?« Sie klopfte ihm auf die Schulter. Keine Reaktion. »Komm schon, Robby, wach auf.« Sie stieß ihn an. Seine Brust bewegte sich nicht. Er atmete nicht. »Oh mein Gott!« Sie sprang hastig aus dem Bett. Sie hatte neben einem Toten geschlafen.

»Ms Sotiris?«, sagte eine dröhnende Stimme, und sie schreckte zusammen.

»Was?« Sie wirbelte herum, sah sich um und entdeckte dann eine Überwachungskamera in einer Ecke des Raumes.

»Ms Sotiris, regen Sie sich nicht auf. Hier spricht Howard Barr. Robby hat uns gebeten, ein Auge auf Sie zu haben.«

Erst nach einer Weile bemerkte sie einen Lichtschalter neben der Tür und ging eilig hin, um ihn zu betätigen. Das Zimmer war ein ziemlich normales Schlafzimmer. Kommode, Sessel, Tisch und Lampe, großes Bett mit einer Leiche darin. Armer Robby. Wenigstens würde ihn das Licht nicht beim Schlafen stören.

»Ms Sotiris, ich schicke Carlos nach unten, um Sie abzuholen«, teilte Howard Barr ihr mit.

Die Stimme des Mannes kam eindeutig aus einer Gegensprechanlage neben der Tür. Sie drückte auf den Sprechen-Knopf. »Wo genau bin ich hier?«

»Im Keller von Romatech Industries«, antwortete Howard.

Ihr Atem stockte. »Ich bin in New York City?«

»White Plains.«

Ein Blick auf ihre Uhr verriet ihr, dass es schon fast elf war. Sie erinnerte sich, um drei Uhr früh in Barkers Büro eingeschlafen zu sein. Robby musste sie teleportiert haben, während sie geschlafen hatte.

Über ihre Reaktion darüber war sie sich noch nicht im Klaren. Sollte sie verärgert oder dankbar sein? Wenn Otis noch am Leben war und nach ihr suchte, konnte er sie hier niemals finden. Aber Robby hätte es nicht ohne ihre Erlaubnis tun dürfen. Man brauchte sie bei der Arbeit.

Es klopfte an der Tür, und sie öffnete.

»Menina. » Carlos grinste sie an. »Es ist schön, Sie wiederzusehen.«

»Hallo, Carlos.« Sie trat auf den Flur und schob ihn dann kräftig gegen die Wand. »Ich weiß, dass du es gewesen bist, der mich ins Meer gejagt hat. Wage es nicht, mich noch einmal so zu terrorisieren.«

Seine bernsteinfarbenen Augen funkelten. »Dann ist die Katze wohl aus dem Sack.«

Olivia rümpfte die Nase und ließ ihn los.

Carlos führte sie nach oben ins Sicherheitsbüro von MacKay und stellte sie Howard Barr vor.

»Hier arbeitet Robby in der Nacht?« Olivia sah sich die Wand mit den Bildschirmen an und entdeckte die Kamera, die Robbys Zimmer zeigte.

»Normalerweise sehen wir ihm nicht beim Schlafen zu.« Howard saß auf seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch.

»Bestimmt nicht«, pflichtete Carlos ihm bei. »Ist auch nicht so, als würde er irgendetwas tun.«

»Er hat uns gebeten, die Kamera eingeschaltet zu lassen, damit wir sehen, wann Sie aufwachen.« Howard schob ihr eine Schachtel mit Donuts hin. »Sie müssen hungrig sein.«

Sie verspeiste eine Bärenklaue und rief dann Barker an.

Zu ihrer Überraschung war ihr Chef schon informiert. Robby hatte eine Nachricht auf seinem Schreibtisch hinterlassen.

»Ich bitte ihn, mich zurückzubringen, sobald er aufwacht«, versprach sie ihrem Boss.

Den Rest des Tages verbrachte sie damit, sich Romatech zeigen zu lassen und im Sicherheitsbüro zu sitzen. Gegen Abend lernte sie sogar Shanna Draganesti und ihre Kinder kennen, die sie einluden, in der Kantine von Romatech mit ihnen zu Abend zu essen. Sie waren eine entzückende Familie, aber ihr war schmerzlich bewusst, dass der Vater nicht bei ihnen war. Er war gerade tot, genau wie Robby.

Eine Stunde später rief J. L. an. »Gute Nachrichten! Yasmine hat gestern Nacht gegen drei Uhr dreißig ihre Kreditkarte benutzt. Sie hat zwei Einheiten in einer klimaregulierten Lagereinrichtung gemietet.«

Olivia gab die Nachricht an Howard und Carlos weiter.

»Das scheint ein guter Ort zu sein, um Vampire tagsüber zu verstecken.« Carlos nickte. »Sie wären sicher verschlossen, und es gibt keine Fenster.«

»Barker und ich sehen uns die Sache an«, berichtete J. L.

»Seid bloß vorsichtig.« Olivia war unwohl bei der Sache. Sie sollte bei den beiden sein, aber sie steckte bei Romatech fest, bis Robby aufwachte. »Warum nehmt ihr nicht noch Harrison und Saunders mit?«

»Das hatten wir auch überlegt, aber wenn wir wirklich Vampire finden, wollen wir sie gleich pfählen, und das soll niemand aus dem Büro mitbekommen. Keine Sorge, Liv. Hier ist immer noch Tag. Die Vampire sind alle noch tot.« J. L. hatte sich ziemlich schnell der neuen Situation angepasst, schoss es Olivia bewundernd durch den Kopf.

»Okay.« Den beiden dürfte wirklich nichts passieren, solange noch Tag war. Die Sonne näherte sich in White Plains bereits dem Horizont, aber in Kansas City stand sie noch hoch am Himmel.

Sie merkte sofort, dass die Sonne untergegangen war. Auf dem Bildschirm sah sie, wie Robbys Körper zuckte und seine Brust sich dann mit einem tiefen Atemzug weitete. »Ich sollte zu ihm gehen.«

»Geben Sie ihm noch ein paar Minuten«, sagte Howard. »Die Vampire haben immer Hunger, nachdem sie aufgewacht sind.«

Glaubte er, Robby würde sie beißen? Sie betrachtete den Bildschirm, während Robby sich aufsetzte und die Stelle ansah, auf der sie geschlafen hatte. Dann stieg er aus dem Bett und ging schnell zu einem kleinen Kühlschrank. Er zog eine Flasche Blut heraus und stellte sie in die Mikrowelle.

»Wie viele Flaschen brauchen sie pro Nacht?«, fragte Olivia.

»Sie können mit zweien auskommen, aber mehr ist ihnen lieber.« Howard beantwortete all ihre Fragen freundlich und ausführlich.

»Manchmal trinken sie auch nur aus Spaß«, fügte Carlos hinzu. »Ich habe sie schon sehr viel Blissky und Blier trinken sehen.«

Als Howard Olivias verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte, musste er lachen. »Das ist synthetisches Blut, vermischt mit Whiskey oder Bier.«

»Oh.«

Robby kippte die ganze Flasche hinunter. Dann nahm er sich einige Klamotten und verschwand im Badezimmer.

»Ich gehe jetzt zu ihm.«

»Ich zeige dir den Weg.« Carlos führte sie in den Keller. »Da unten sind etwa zehn Schlafzimmer. Du willst nicht aus Versehen ins falsche gehen. Connor, Angus und Emma haben ebenfalls hier geschlafen.«

Das überraschte Olivia. »Wäre es nicht sinnvoller, wenn sie in der Nähe des Schauplatzes blieben?«

»Du meinst, Kansas City?« Carlos zuckte mit den Schultern. »Teleportation dauert nur wenige Sekunden, die Entfernung spielt also keine Rolle. Außerdem ist es ein strategischer Vorteil, hier zu schlafen. Dadurch, dass sie jetzt schon wach sind, werden sie satt, bewaffnet, und zum Aufbruch bereit sein, ehe unsere Gegner auch nur die Augen aufgemacht haben.«

Carlos öffnete eine Tür und spähte hinein. »Hier ist es.« Er zwinkerte. »Viel Spaß.«

»Wir werden uns nur unterhalten.«

Das schien Carlos nicht wirklich glauben zu wollen. Er schlenderte lachend davon.

Olivia schlüpfte durch die Tür und schloss sie hinter sich. Sie konnte die Dusche im Badezimmer hören.

Sie saß im Sessel, als Robby aus dem Badezimmer kam. Sein Haar war nass und offen. Er hatte Jeans an, die er nicht zugeknöpft hatte, und trocknete sich die nasse Brust mit einem Handtuch ab.

Erinnerungen an die Nacht, in der sie ihre Unschuld verloren hatte, kamen ihr in den Sinn. Er übertraf jeden Liebhaber, den sie sich je ausgemalt hatte. Er war sanft gewesen, aber auch stark, hatte gegeben, aber auch verlangt.

Als er Olivia sah, zuckte Robby kurz zusammen. »Guten Abend.«

»Guten Abend«, flüsterte sie.

»Hast du gut geschlafen?« Er ließ das Handtuch fallen und knöpfte dann langsam seine Jeans zu. In seinen Augen schimmerte ein Hauch von Rot.

»Warum werden deine Augen rot?«

Er blickte zur Überwachungskamera und machte mit der Hand eine abschneidende Bewegung. Das Licht ging aus. Er setzte sich an den Rand des Bettes. »Die Augen eines Vampirs glühen rot, wenn er erregt ist.«

»Machst du Witze? Deine Augen sind andauernd rot.«

Das hatte sie ganz richtig bemerkt. »Stimmt.«

Eine leichte Röte breitete sich über ihrem Gesicht aus. »Dann war alles über die Webcam, Sand in deinen Augen oder den gespiegelten Kamin... alles gelogen?«

»Olivia, ich wollte dich nie belügen. Ich wusste nur nicht, wie ich dir diese Dinge erklären sollte, ohne dich zu verängstigen. Je näher ich dir gekommen bin, desto mehr wusste ich, dass ich dir die Wahrheit sagen muss, aber je mehr ich mich in dich verliebt habe, desto weniger konnte ich es ertragen, dich zu verlieren.«

Nachdenklich senkte sie ihren Blick. »Das ist eine schwerwiegende Entscheidung für mich. Ich kann sie nicht leichtfertig treffen.«

»Das verstehe ich.«

Sie betrachtete einen Moment lang ihre Hände in ihrem Schoß, unsicher, was sie als Nächstes sagen sollte. Als sie zu ihm aufblickte, beobachtete er sie mit einem roten Funkeln in den Augen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Er wollte sie.

Er war verlockend, so unglaublich verlockend.

Ihr Handy klingelte. Das war knapp. Sie stand auf und zog es aus ihrer Jeanstasche. »Hallo?«

»Olivia.« Barker klang gehetzt. »Haben Sie von J. L. gehört?«

»Nein, ich dachte, er wäre bei Ihnen.« Sie winkte Robby, zu ihr zu kommen und zuzuhören.

»Verdammt. Er muss zurückgegangen sein.«

»Was ist passiert?« Olivia wurde zusehends nervöser.

»Wir waren bei den Lagereinheiten, um uns die beiden anzusehen, die Yasmine gemietet hat. Wir haben hinter einer Tür Weinen gehört, also haben wir sie aufgemacht und - stellen Sie sich vor - die Kinder gefunden.«

»Gott sei Dank!« Olivia war hocherfreut. »Geht es ihnen gut?«

»Sie waren sehr schwach. Wir haben Krankenwagen gerufen und sie ins Krankenhaus gebracht. Alle elf. Ich hatte sechs von ihnen in einem Zimmer, wo ich sie befragt habe. Sie standen unter der Gedankenkontrolle der Vampire, deswegen erinnern sie sich an kaum etwas.«

»Das dürfte ein Segen sein.« Olivias Herz tat beim Gedanken an diese Kinder weh. Sie wussten wahrscheinlich noch nicht, dass ihre Eltern gestorben waren.

»J. L. sollte die anderen Kinder befragen«, fuhr Barker fort. »Ich bin zu ihm gegangen, um zu sehen, was er macht, aber er war verschwunden. Die Kinder hat er bei einer Krankenschwester gelassen. Ich habe versucht, ihn anzurufen, aber er geht nicht an sein Handy.«

»Er muss zurückgegangen sein, um sich die andere Einheit anzusehen. Ist dort noch Tag?«

»Ja, aber die Sonne geht gerade unter. Ich fahre zurück zu den Lagereinheiten.« Barker seufzte. »Wir haben hier Rushhour, bei dem Verkehr brauche ich eine Weile.«

»Rufen Sie an, wenn Sie da sind.« Olivia legte auf und sah Robby an. »Ich hoffe, J. L. hat nichts Dummes angestellt.«

»Er wollte wahrscheinlich ein paar Vampire pfählen. Sie können ihm nichts tun, solange sie tot sind.« Robby zog sich ein T-Shirt an. »Aber er sollte lieber nicht in ihrer Nähe sein, wenn sie aufwachen.« Er zog sich Socken und Schuhe an.

Olivia legte ihr Halfter um und schlüpfte in ihre Jacke.

Fünf Minuten später war sie wieder im Büro des Sicherheitsteams. Dieses Mal waren Robby, Connor, Angus und Emma ebenfalls dort, zusammen mit Howard und Carlos.

»Es ist vielleicht so weit.« Robby klärte die anderen auf. »Casimir und seine Anhänger könnten sich in der zweiten Einheit befinden.«

»Und die geflohenen Gefangenen auch«, fügte Olivia hinzu.

»Wenn wir direkt bei Sonnenuntergang dort sind, können wir sie vielleicht überraschen«, meinte Connor.

Sie schmiedeten Pläne. Howard sollte bleiben und für die Sicherheit bei Romatech sorgen. Robby lud die Kontaktdaten von fünf weiteren Vampiren in Olivias Handy, damit sie Verstärkung rufen konnten, wenn es nötig wurde. Sie bewaffneten sich. Robby steckte ihr ein paar Holzpflöcke in die Jackentaschen und schob einen langen Dolch in ihren Gürtel.

Sie riefen Barker per Lautsprecher an, damit alle Vampire seine Stimme als Leitfaden benutzen konnten.

»Ich verlasse gerade den Freeway«, sagte Barker zu ihnen. »Verdammt, die Sonne geht schon unter.«

»Lassen Sie uns sofort wissen, wenn Sie bei der Anlage angekommen sind«, sagte Angus.

Alle warteten angespannt.

»Es ist jetzt dunkel«, berichtete Barker. »Ich bin noch etwa eine Meile entfernt.«

Olivia machte sich Sorgen um J. L. Hoffentlich ging es ihm gut. Die Minuten schienen sich wie Stunden dahinzuziehen.

»Okay! Ich biege auf den Parkplatz ein. Ich sehe J. L.s Wagen.«

Olivia hielt sich an Robby fest, und alles um sie herum wurde schwarz, und gleich darauf stand sie auf einem dunklen Parkplatz. Connor hatte Carlos mitgebracht. Angus und Emma kamen gemeinsam an. Barker stieg aus seinem Wagen und ging zu ihnen.

»Gehen wir.« Angus raste los.

Olivia rannte zusammen mit den beiden Formwandlern, um mit den Vampiren Schritt zu halten. Aus der Anlage drangen entsetzte Schreie. Die Vampire zogen ihre Schwerter und rasten auf die Geräusche zu.

In der Ferne hörte sie das Klirren von Schwertern. Die Schlacht hatte begonnen. Mit gezogener Waffe erreichte Olivia die Lagereinheit. Es war ein riesiger Raum, in dem zu viel Bewegung und Aufruhr war, um freie Bahn zum Schießen zu haben. Sie erkannte die Gesichter der geflohenen Gefangenen. Einige von ihnen zischten mit langen Fangzähnen, während sie ungeschickt ihre Schwerter schwangen. Die Vampire machten mit ihnen kurzen Prozess und stachen ihnen direkt ins Herz. Sie verwandelten sich zu Staub.

Andere Gefangene schrien und winselten um Gnade, als man auf sie einstach. Sie fielen zu Boden und wanden sich vor Schmerzen. Bissspuren an den Hälsen der Männer deuteten darauf hin, dass man sie sterblich gelassen hatte, um als Nahrung zu dienen.

»Olivia, Hilfe!«

Sie entdeckte Yasmine an der Rückwand der Einheit. Die arme Frau sah vollkommen verängstigt aus. Aus den Bisswunden an ihrem Hals tropfte Blut.

»Halt durch!« Olivia zog ihren Dolch und rannte auf Yasmine zu.

Ein Vampir griff nach ihr, und sie hieb mit dem Dolch nach ihm. Er zischte und sprang zurück, dann wurde er zu Staub, als Robby ihn mitten ins Herz traf.

Obwohl sie fast schon neben Yasmine war, kam ihr ein Vampir zuvor, der die Frau von hinten packte und sie mit sich teleportierte.

»Olivia, mein Schatz.«

Die Stimme hatte sie schon erkannt, und als sie sich umdrehte, kam Otis auf sie zu. Er lächelte. Seine spitzen Fangzähne waren blutbefleckt.

»Nein!« Robby zog Olivia hinter sich.

»Ach, hallo, Robby.« Ein Vampir mit schwarzen Augen trat neben Otis. »Wie nett, dich wiederzusehen.«

»Casimir.« Hasserfüllt richtete Robby sein Schwert auf ihn. »Zeit für dich, zu sterben.«

»Wenn du mir nachkommst, greift mein neuer Freund hier diese Frau an«, gab Casimir zu bedenken.

»Sie ist es, von der ich erzählt habe«, flüsterte Otis Casimir zu. »Sie wird mein sein, für alle Ewigkeit.«

Robby richtete sein Schwert auf Otis. »Du wirst sie nie bekommen.«

»Das wirst du, mein Freund.« Casimir packte Otis am Arm.

»Aber nicht heute Nacht.« Er verschwand und nahm Otis dabei mit sich.

Robby stürzte vor, doch es war zu spät. »Verdammt. Verdammt noch mal!«

Olivia sah sich um. Auf dem Zementboden lagen Staubhaufen zwischen den verwundeten Sterblichen, die sich vor Schmerzen wanden. Die anderen Vampire kämpften noch, aber die übrig gebliebenen Malcontents traten offensichtlich den Rückzug an, indem sie sich teleportierten. Sie entdeckte Barker und Carlos in einer Ecke und ging auf die beiden zu.

Mit großer Erleichterung stellte sie fest, dass die anderen J. L. gefunden hatten. Er lag bewusstlos und mit Seilen gefesselt auf dem Boden. Carlos durchtrennte sie mit seinem Messer.

Olivia kniete sich neben J. L. und griff sein Handgelenk, um seinen Puls zu fühlen. Normalerweise überprüfte sie den Pulsschlag am Hals, aber der Hals von J. L. war von Bisswunden durchlöchert und mit Blut verschmiert. Noch mehr Blut gerann an seiner Schläfe, wo man ihn niedergeschlagen haben musste.

»Wahrscheinlich ist er davon ausgegangen, dass nur die Vampire hier sind«, flüsterte Barker. »Er dachte, er ist nicht in Gefahr, solange die Sonne scheint.«

»Die Sterblichen werden ihn angegriffen haben«, fügte Carlos hinzu. »Sie haben ihn gefesselt, damit die Vampire von ihm trinken konnten, sobald sie wach waren.«

»Er lebt noch. Ruft einen Krankenwagen.« Doch Olivia wusste insgeheim, dass es zu spät war.

Robby kniete sich neben sie. »Es tut mir so leid.«

»Er ist noch nicht tot.«

Jetzt hockte Connor sich an J. L.s andere Seite. »Er hat kaum noch Blut in sich. Er wird es nie bis ins Krankenhaus schaffen.«

»Wir müssen etwas tun.« Olivias Hände zitterten, als sie J. L.s schlaffe Hand in die ihre nahm. Heiße Tränen brannten in ihren Augen. »Wir können ihn nicht einfach sterben lassen.«

»Wir könnten ihn verwandeln.« Angus war zu ihnen getreten.

»Nay.« Robby schüttelte den Kopf. »So eine Veränderung können wir ihm nicht ohne seine Erlaubnis einfach aufzwingen.«

»Er hätte nichts dagegen.« Olivia war überzeugt, dass sie die richtige Entscheidung traf. »Er bewundert eure Fähigkeiten.« Sie griff Robbys Arm. Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Bitte. Du musst ihm helfen.«

Robby wurde blass. »Ich... ich habe so etwas noch nie getan.«

»Wenn du es nicht tust, mache ich es«, sagte Angus. »Wir brauchen jeden guten Mann, den wir bekommen können.«

»Dann mach lieber schnell«, sagte Connor. »Wir verlieren ihn bald.«

Olivia drückte Robbys Arm. »Bitte. Du musst ihn retten.«

In seinen Augen standen Zweifel und Angst. »In Ordnung.«