16. KAPITEL

 

Während der Februar voranschritt, blieb Robby mit Olivia in Kontakt. Sie sprachen sich entweder am Telefon oder schickten sich E-Mails. Sie erzählte ihm alles von ihrem Job und ihren Ermittlungen in einem Fall von Adoptionsbetrug. Sie war so beschäftigt, dass sie Überstunden machen musste. Und dann, im März, nahm eine Reihe Entführungen und Morde, die mit Drogen zu tun hatten, all ihre Zeit in Anspruch.

Die Ermittlungen im Fall Otis mussten zurückstehen, aber da Olivia seit November keine Äpfel mehr erhalten hatte, war das in Ordnung, behauptete sie jedenfalls. Die Theorie ihres Vorgesetzten, Otis einfach zu ignorieren, dann würde er von selbst aufgeben, schien zu stimmen.

Sie musste zugeben, dass ihr Job sie manchmal bis aufs Äußerste erschöpfte. Die schmerzlichen Emotionen der Opfer und ihrer Familien bombardierten sie geradezu. Sie spürte sogar den Stress und die wütende Frustration ihrer Mitarbeiter. Da sie bei Robby nur auf ihre eigenen Gefühle hören konnte, waren die Gespräche mit ihm für sie wie Urlaub. Sie freute sich am Ende jedes Tages erneut darauf.

Mitte Februar installierten sie beide Webcams an ihren Laptops, damit sie einander sehen konnten, wenn sie sich unterhielten. Robby wusste, dass sie bei der Arbeit Stress hatte, deshalb tat er sein Bestes, um sie aufzumuntern. Er erzählte ihr von seinen Freunden- von Jack, der einen ausgelassenen Junggesellenabschied für einen Freund gegeben hatte, bis die Polizei kommen musste, und der die hübsche Polizistin jetzt heiratete. Von Phineas, der in ein Mädchen verliebt war, das ihm scharfe Soße in seinen Drink gekippt hatte. Olivia zu sehen und ihr Lachen zu hören war der Höhepunkt von Robbys Abend. Natürlich ließ er das ärgerliche Detail, dass einige seiner Freunde untot waren, aus.

Ein paarmal waren ihre späten Gespräche sehr intim geworden, aber Robby versuchte, das auf ein Minimum zu beschränken. Er nahm seinen Laptop und seine Kamera immer in einen der Konferenzsäle mit, weil er im Büro bei Romatech nicht ungestört sein konnte. Trotzdem machten sich die Jungs einen Spaß daraus, in den Raum zu platzen und ihn zu ärgern. Erregung konnte er sich wirklich nicht leisten, sonst blieb ihm nichts anderes übrig, als den Rest der Nacht seinem Job mit einer auffälligen Beule in der Hose nachzugehen.

Trotzdem fiel es ihm schwer, auf sie gelassen zu reagieren. Olivia war so verdammt schön. Mehr als einmal hatte sie sich nahe an den Monitor gebeugt und ihn gefragt, ob seine Augen rot wurden.

»Das liegt an der Kamera«, sagte er ihr dann. »Meine Augen sehen auf Fotos auch immer rot aus.« Glücklicherweise glaubte sie ihm diese Ausrede.

Noch ein guter Grund, wie er fand, eine Weile nur eine Fernbeziehung mit ihr zu haben. Wenn er sie besuchte, würden seine Augen in kaum drei Minuten rot aufglühen.

Nach seinen Recherchen waren sowohl J. L. Wang als auch Otis' Anwalt vertrauenswürdig. Als er erwähnte, dass er bei der Hochzeit von Jack und Lara im April Trauzeuge sein würde, wollte Olivia alles darüber erfahren.

»Wie sieht das Hochzeitskleid aus?«

Robby dachte nach. Lara hatte ihm ein Bild gezeigt. »Es ist... weiß.«

»Das ist eine ausgezeichnete Beschreibung. Ist es leuchtend weiß oder cremefarben? Ist es bodenlang? Hat es eine Schleppe? Perlenstickereien oder Spitze? Trägt sie einen Schleier?«

Robby legte die Stirn in Falten und versuchte sich an das Bild zu erinnern. »Es ist weiß.« Als Olivia stöhnte, sagte er schnell: »Ich schicke dir ein Bild.«

Letztendlich schickte er ihr alles Mögliche, worauf Olivia neugierig war, selbst das Menü, das die Sterblichen bei der Hochzeit serviert bekamen. Robby war schwer versucht, sie einzuladen, aber er verwarf diesen Einfall. Wie konnte er das Bubbly Blood - synthetisches Blut, mit Champagner versetzt - erklären, das seine Freunde beim Empfang trinken würden? Außerdem würde sie auch die Stadt sehen wollen, und dann musste sie sich fragen, warum er für eine Stadtführung tagsüber absolut keine Zeit hatte.

Die Wahrheit ließ sich nicht mehr lange verheimlichen, aber es würde das Beste sein, ihr unter vier Augen alles zu erklären. Eine Hochzeit war nicht der richtige Ort, um ihr seine Neuigkeiten zu überbringen.

Die Hochzeit fand Mitte April in der Kapelle bei Romatech statt. Während Robby zuhörte, wie das Paar seine Gelübde ablegte, kehrten seine Gedanken immer wieder zu Olivia zurück. Konnte sie einen Vampir heiraten? Es hatte mit mehr zu tun, als nur zu akzeptieren, dass er untot war. Wenn sie über die Jahrhunderte bei ihm bleiben wollte, musste auch sie ein Vampir werden.

Man hatte die Konferenzsäle wieder geöffnet, um einen Ballsaal für den Empfang zu schaffen. Die Braut und die anderen Sterblichen genossen ihre Gourmet-Mahlzeit, während die Vampire mit Bubbly Blood feierten.

Die High Voltage Vamps spielten zum Walzer auf, und Jack begleitete Lara auf die Tanzfläche. Robby blieb allein bei LaToya und den Gästen der Braut am Tisch zurück. LaToya war Laras Brautjungfer und zwei Tage zuvor eingeflogen worden.

Als der Walzer vorüber war, schlossen sich Jack und Lara auf der Tanzfläche weitere Paare an.

Plötzlich sprang LaToya auf und packte Robby am Arm. »Komm, tanz mit mir.«

»Wie es beliebt.« Er stand auf und bemerkte dann Phineas, der eilig auf ihren Tisch zukam.

»LaToya, tanzt du mit mir?«, fragte er.

»Tut mir leid. Robby hat zuerst gefragt.« LaToya zerrte an Robbys Arm. »Komm schon.«

Entschuldigend schaute er seinen Freund an und führte LaToya dann auf die Tanzfläche. Es war ein langsamer Tanz, bei dem es leicht fiel, sich zu unterhalten. »Du kannst ihm nicht den ganzen Abend aus dem Weg gehen.«

LaToya runzelte die Stirn, als sie ihre Hände auf Robbys Schultern legte. »Warum gibt er nicht einfach auf?«

»Er ist verrückt nach dir.«

Sie warf einen Blick zur Seite, wo Phineas stand und sie mit einem liebestollen Blick ansah. »Verrückt stimmt. Ich kann ihn einfach nicht loswerden. Ich habe ihn mit der scharfen Soße fast umgebracht. Als er mir nach New Orleans nachgekommen ist, habe ich gedroht, ihn über den Haufen zu schießen. Aus irgendeinem Grund fand er das romantisch.«

»Er glaubt an die Liebe. Er hat ein großes Herz.«

»Er hat ein totes Herz. Tot wie ein blutsaugender Moskito, der in eine Insektenfalle geflogen ist.«

Die Worte hatten gesessen. »Im Augenblick ist er lebendig.«

»Und was ist das überhaupt für ein kranker Mist? Ich meine, ihr lebt in der Nacht und seid tagsüber tot? Ehrlich, entscheidet euch mal. Seid entweder lebendig oder tot. Wie könnt ihr beides sein? Das ist einfach falsch.«

»Es macht dir also immer noch etwas aus, dass wir Vampire sind?«

»Ich habe versprochen, den Mund zu halten, falls du dir deswegen Sorgen machst. Ich will nicht, dass einer von euch Gruseltypen mir die Erinnerungen löscht, nicht wenn dabei auch meine Erinnerungen an Lara draufgehen.«

»Sie hat Glück, eine so treue Freundin wie dich zu haben.«

LaToya sah sich nach der Braut um, die vor Freude strahlte, während sie sich zur Musik in Jacks Armen wiegte. »Ich will, dass sie glücklich ist. Und das ist sie wohl, auch wenn ich nicht verstehe, wie das Ganze von Dauer sein soll.«

»Eine Garantie gibt es niemals.« Robby dachte an seine eigene fehlgeschlagene Ehe. Seine Frau Mavis hatte ihn zurückgewiesen, weil er ein Untoter geworden war. Nur weil Shanna, Heather, Toni und Lara in der Lage waren, ihre Vampirmänner zu lieben, bedeutete das nicht, dass alle Frauen es konnten. Würde Olivia es schaffen, damit umzugehen?

»Meine Mutter hat schon ihren dritten Ehemann«, gab LaToya zu. »Bei ihr hat eine Ehe noch nie mehr als fünf Jahre gehalten. Und ihr Vampire glaubt, jahrhundertelang verheiratet bleiben zu können? Ihr habt doch den halb toten Verstand verloren.«

»Vielleicht.« Lächelnd musterte Robby seine Tanzpartnerin.

LaToya kaute auf ihrer Unterlippe. »Ich muss allerdings zugeben, der Gedanke, ein paar Jahrhunderte lang zu leben, gefällt mir. Und für immer jung bleiben - das ist auch nicht schlecht.«

»Aye, es gibt ein paar Vorteile.« Vielleicht konnte sie doch lernen, mit ihnen zurechtzukommen. »Wir sind nicht so schlimm, wenn du uns erst einmal kennengelernt hast. Als ich letzten Sommer gefangen genommen worden bin, haben viele der Vampire hier im Saal ihr Leben riskiert, um mich zu retten.«

»Ja, davon hat Lara mir erzählt.«

»Phineas war einer von ihnen. Er kennt uns erst ein paar Jahre, aber er hat immer und immer wieder bewiesen, wie treu, mutig und vertrauenswürdig er ist.«

Was Phineas anging, war sie noch nicht überzeugt. »Er hat mit Drogen gedealt. Ich habe ihn überprüft, weißt du. Auf ihn steht noch ein Haftbefehl aus.«

»Er hat sich seitdem sehr verändert.«

»Das bedeutet nicht, dass er für sein Verbrechen nicht bezahlen sollte.«

»Er hat bezahlt«, wendete Robby ein, »mit seinem Leben. Er verdient eine zweite Chance.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich so etwas vergeben kann.«

Robby sah sich zu Marta Barkowski um, die mit Vanda und Phil an einem Tisch saß. »Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich vergeben kann. Aber manchmal hat es einfach keinen Zweck, alle Beteiligten noch weiter leiden zu lassen.«

Kaum hatte er das zu LaToya gesagt, merkte Robby, wie sehr er sich verändert hatte. Seine Zeit mit Olivia heilte sein Herz und linderte seine Wunden. Er wollte Casimir immer noch umbringen, aber es war nicht mehr seine oberste Priorität. Und ihm war jetzt klar, dass Vampire wie Marta oder Stanislav auch Opfer waren.

»Darf ich ablösen?« Phineas klopfte ihm auf die Schulter.

Robby ließ LaToya los und trat zurück. »Das liegt bei der Dame.«

Phineas streckte LaToya eine Hand entgegen. »Süße, tanzt du mit mir?«

Misstrauisch sah sie ihn an. »Diesen einen kann ich wohl mit dir zu Ende tanzen.«

»Super!« Mit einem Grinsen schlang Phineas seine Arme um sie.

Die Musik hörte auf.

»Ups. Tanz vorbei.« LaToya trat einen Schritt zurück.

»Nein, ist er nicht.« Phineas zog sie wieder an sich.

»Ist er doch!« Sie bohrte ihren Stilettoabsatz in seinen Fuß.

Mit einem Jaulen ließ Phineas sie los.

»Mach's gut, Blutsauger.« Sie schlenderte davon und warf sich die langen Locken über ihre Schulter.

Phineas versuchte seinen wunden Fuß zu belasten und zuckte zusammen. »Autsch.«

»Tut mir leid«, murmelte Robby.

So leicht ließ sich Phineas nicht entmutigen. »Ja, es tut weh, aber wenigstens mache ich nicht einen auf Emo und schlage ein Loch in die Wand.«

»Ich habe es repariert.« Wegen des Lochs hatte er schon viel einstecken müssen.

Phineas richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf LaToya, die sich an der Bar einen Drink bestellte. Er lächelte. »Es ist so weit, Alter. Sie gerät in meinen Bann.«

»Woran erkennst du das? Sie hat dich wieder angegriffen.«

»Ja, aber dieses Mal hat sie nicht gedroht, mich umzubringen.« Phineas strich mit einer Hand über sein kurzes schwarzes Haar. »Oh yeah, Baby, dem Love Doctor kann keine widerstehen.«

****

Es war Ende April, als es bei der Arbeit endlich weniger hektisch zuging. Olivia hatte den ganzen Morgen damit verbracht, ihren Papierkram zu erledigen. »Bist du fertig zum Mittagessen?«, rief sie J. L. über die Trennwand hinweg zu. »Fast«, antwortete er. »Gib mir fünf Minuten.« Das war die perfekte Gelegenheit, ihre privaten E-Mails zu checken. Sie grinste, als eine Nachricht von Robby erschien.

Guten Morgen, Liebes. Nachdem wir uns gestern Abend am Telefon unterhalten haben, ist eine Nachricht von Jack und Lara aus Venedig gekommen. Sie haben Bilder von ihrer Hochzeit geschickt. Ich habe sie für Dich angehängt.

Olivia klickte sich durch die Fotos. Sie freute sich, endlich Gesichter zu den Namen zu sehen, von denen sie die letzten zwei Monate so viel gehört hatte. Ihr Herz schwoll an, als sie ein Foto entdeckte, auf dem Robby zu sehen war. Er sah in seiner schwarzen Anzugjacke, dem weißen Hemd, der schwarzen Krawatte und dem passenden schwarz-weiß karierten Kilt umwerfend aus. In seinen grünen Augen lag ein Funkeln, und sein breiter Mund lächelte amüsiert. Sie hätte ihn stundenlang anstarren können, aber da waren noch mehr Fotos. Sie klickte weiter.

»Hey, Liv. Hier ist der Bericht, den du wolltest.« Yasmine legte eine Akte auf Olivias Schreibtisch und warf dann einen Blick auf den Bildschirm. »Sind das Hochzeitsbilder? Ich liebe Hochzeitsbilder!«

»Warte, bis du die Braut siehst.« Olivia klickte auf Laras Foto.

»Okay.« J. L. stützte seine Ellbogen auf die Trennwand. »Ich bin jetzt fertig zur Mittagspause.«

»Wow, ist die schön«, flüsterte Yasmine.

»Das finde ich auch. Stell dir vor, sie war Cop in New York!«

»Hallo?« J. L. winkte vor ihren Gesichtern. »Mittagessen?«

Yasmine ignorierte ihn. »Ich wusste nicht, dass du bei einer Hochzeit warst. Bist du mit der Braut befreundet?«

»Ich war nicht dort«, antwortete Olivia. »Ich bin nur mit dem Trauzeugen bekannt.«

»Nur bekannt?« J. L. verdrehte die Augen. »Du redest von nichts anderem mehr. Ich kann nicht einmal zu Mittag essen, ohne das Neueste von Robby zu erfahren.«

Das war gemein. Er hatte schließlich über die Geschichten gelacht.

»Wer ist Robby?«, fragte Yasmine.

»Er war der Trauzeuge. Hier, ich zeige ihn dir.« Olivia klickte auf ein Gruppenbild.

»Wer ist der riesige Kerl im Rock? Und was soll das da sein? Seine Handtasche?«

»Das ist Robby.« Olivia blickte ihre Kollegin empört an.

»Er trägt einen Rock? Das muss ich sehen!« J. L. spähte über Yasmines Kopf hinweg auf den Monitor und lachte dann spöttisch.

»Robby ist Schotte. Deshalb trägt er einen Kilt und einen Sporran.«

»Wo in aller Welt hast du einen Schotten kennengelernt?« Yasmine wollte natürlich gleich alles wissen.

»Hört zu, Leute«, unterbrach J. L. sie. »Ich bin am Verhungern. Wenn ihr weiter über die Fotos sabbern wollt, bringe ich euch etwas mit.«

Olivias wütende Miene verwandelte sich in ein Lächeln. »Das wäre großartig. Ich nehme ein Truthahn-Sandwich.«

»Ich auch«, sagte Yasmine.

J. L. ging davon und murmelte etwas von der weiblichen Begeisterung über Hochzeiten und die armen Kerle, die bloß ihr Leben lang in Fesseln gelegt wurden.

»Und? Wo hast du den schicken Schotten kennengelernt?«

»Auf Patmos, letzten November.«

»Ein Schotte auf einer griechischen Insel?« Yasmine lachte und wurde dann plötzlich ernst. »Du liebe Zeit, aber du hast nicht seinetwegen so schrecklich geweint, oder?«

Olivias Wangen wärmten sich vor Scham. »Das war nur ein Missverständnis. Jetzt geht es uns gut.«

»Seid ihr zusammen?«

»Irgendwie schon. Wir reden jeden Tag und schreiben uns E-Mails. Ich wünschte, ich könnte ihn besuchen, aber ich habe keine Urlaubstage mehr übrig.«

Yasmine schüttelte langsam den Kopf. »Ich hatte keine Ahnung, dass du mit jemandem zusammen bist. Wie ernst ist es?«

Mit ihrer ständigen Neugierde über das Privatleben anderer konnte Yasmine einem ganz schön auf die Nerven gehen, aber andererseits brannte Olivia auch darauf, jemandem ihre Neuigkeiten zu erzählen. »Letzte Nacht hat Robby mir erzählt, dass er im Juni Urlaub nimmt, damit er mich besuchen kann. Er hat gesagt, er will etwas wirklich Wichtiges mit mir besprechen und dass er es persönlich tun muss.«

»Du meinst, er wird dir einen Antrag machen?« Yasmine wurde ganz aufgeregt.

Olivia grinste. Es war so spannend, dass sie letzte Nacht kaum geschlafen hatte. »Klingt ganz so, findest du nicht? Ich meine, er würde nicht den ganzen Weg fahren, nur um mit mir Schluss zu machen, oder?«

Eine Aura der Besorgnis wirbelte um Yasmines Gestalt. »Ziehst du das ernsthaft in Betracht? Du kannst ihn doch gar nicht so gut kennen.«

»Wir haben uns sehr lange unterhalten. Ich kann ihm alles erzählen, und er versteht mich. Er bringt mich zum Lachen. Ich bringe ihn zum Lachen.«

»Mädchen, letzten Dezember hat er dich noch zum Weinen gebracht. Du hast wirklich gelitten. Vielleicht solltest du dir das Ganze noch einmal überlegen. Oder es wenigstens langsamer angehen.«

Das Letzte, was sie hören wollte, war etwas Schlechtes über Robby. Er war der liebste, zärtlichste Mann, den sie je kennengelernt hatte.

»Hier, ich zeige dir die restlichen Fotos.« Während sie sich durchklickte, wurden ihre Augen immer wieder von Robby angezogen, wenn er sich auf einem der Bilder befand.

Hatte er wirklich vor, ihr einen Antrag zu machen? Sie konnte sich nicht vorstellen, was er sonst Wichtiges mit ihr besprechen musste.

Es gab allerdings etwas Wichtiges, das sie ihm sagen musste. Sie hatte es ihm schon früher sagen wollen, aber der richtige Augenblick war nie gekommen.

Wie war dein Tag?, fragte er vor seiner Webcam.

Super. Wir haben einen Entführer gefasst, und übrigens, ich bin noch Jungfrau. Das wäre einfach zu seltsam gewesen.

Aber sicherlich machte es Robby nichts aus, von ihrem Geheimnis nichts zu wissen. Warum sollte irgendein Mann etwas dagegen haben?

****

Zwei Wochen später, an einem Samstagnachmittag, kehrte Olivia nach einigen Besorgungen in ihr Apartment zurück. Sie ließ ihre Handtasche und ihre Schlüssel auf die Ablage neben der Tür fallen und trug dann ihre Tüte mit den Einkäufen in die Küche.

Als sie an der Frühstücksnische vorbeikam, bemerkte sie etwas auf dem Esstisch. Einen braunen Karton. Das Logo darauf war unverwechselbar.

Äpfel.

Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Der Karton stand in ihrem Apartment. Nicht vor der Tür im Treppenhaus, wo der Lieferant ihn abgestellt hatte. In ihrem Apartment.

Sie stellte die Einkaufstasche auf den Boden und ging leise zu ihrem Schlafzimmer. All ihre Sinne waren angespannt. Vielleicht war sie nicht allein in ihrer Wohnung. Sie war gut in Selbstverteidigung ausgebildet, aber sie würde sich noch sicherer fühlen, wenn sie ihre Waffe in der Hand hatte. Als sie ihren Nachtschrank erreichte, zog sie ihre Pistole aus der obersten Schublade.

Mit einem schnellen Blick versicherte sie sich, dass die Pistole geladen war. Sie entsicherte die Waffe und sah dann in Badezimmer und Wandschrank nach. Dann durchsuchte sie ihr Schlafzimmer noch einmal gründlich und sah auch unter ihr Bett und hinter die Vorhänge. Danach schaute sie sich in Wohnzimmer und Küche um. Leer. Der Karton auf dem Tisch tickte nicht wie eine Bombe, aber sie riskierte es trotzdem nicht, ihn zu öffnen.

Sie untersuchte die Eingangstür. Kein Anzeichen von gewaltsamem Eindringen. Sie rief beim Hausmeister an und fragte, ob er jemanden in ihre Wohnung gelassen hatte. Nein.

Jemand hat einen Schlüssel. Ihr Herz hämmerte in ihren Ohren.

Sie rief J. L. an. »Der Karton war in meiner Wohnung. Der Bastard ist im Haus gewesen!«

»Beruhige dich. Ich bin gleich da.«

Beruhige dich? Irgendwer konnte in ihre Wohnung kommen, wann immer er wollte. Sie war in ihren eigenen vier Wänden nicht mehr sicher.

Dieser verfluchte Otis. Wie lange sollte sie seine dummen Spielchen noch ertragen? Barker hatte empfohlen, ihn in Ruhe zu lassen und sich von Leavenworth fernzuhalten. Wenn Otis erst merkte, dass sie bei seinem Spiel nicht mehr mitmachte, würde er sie schon in Ruhe lassen. Aber es funktionierte nicht. Otis gab nicht auf.

Wieder überlegte Olivia sich, ihm ein für alle Mal klarzumachen, dass er sich verziehen sollte. Natürlich war das genau, was er wollte. Er wollte, dass sie ihn besuchte. Er wollte die Verbindung zwischen ihnen aufrechterhalten.

Es musste einen Weg geben, die Sache zu beenden. Sie war am Verzweifeln. Stattdessen rief sie Robby an. Da er nachts arbeitete, war sein Telefon tagsüber, während er schlief, abgestellt, aber sie konnte ihm wenigstens eine Nachricht hinterlassen.

»Robby, ich habe wieder eine Schachtel mit Äpfeln bekommen. Ich war unterwegs, um einige Sachen zu erledigen, und bei meiner Rückkehr waren sie in meiner Wohnung! Mitten auf dem Küchentisch. Der Komplize will mir zeigen, dass er in mein Haus kommen kann, wann immer er Lust dazu hat. Und weißt du was? Dieses Mal laufe ich nicht davon. Mir reicht es! Ich bleibe hier, und wenn dieser Bastard es wagt, zurückzukommen, werde ich...«

Ein Signalton zeigte an, dass die Zeit für ihre Nachricht abgelaufen war.

Sie klappte ihr Telefon zu. Ihre Gedanken laut auszusprechen hatte ihr Kraft gegeben. Sie machte da nicht mehr mit.

Ein Klopfen erklang an ihrer Tür, und sie griff sofort nach ihrer Waffe. Reiß dich zusammen. Ihr Verfolger musste nicht klopfen. Er hatte entweder einen Schlüssel oder wusste, wie man Schlösser knackte, ohne Spuren zu hinterlassen.

»Olivia!«, rief J. L. durch die Tür. »Bist du da?«

»Ja.« Sie öffnete die Tür.

Er schlüpfte herein und sah sich schnell um. »Hast du vor, mich zu erschießen?«

»Nein.« Sie legte die Waffe auf die Ablage. »Tut mir leid.«

»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich habe meine auch dabei.«

Olivia schloss die Tür ab und stöhnte dann auf. »Warum mache ich mir überhaupt die Mühe? Der Bastard kann hereinkommen, wann er will.«

»Wir besorgen dir heute noch ein neues Schloss.« J. L. trat an den Küchentisch. »Das ist sie also. Die berüchtigte Schachtel mit Äpfeln. Kein Porto und keine Stempel. Hast du dir den Rest der Wohnung angesehen?«

»Ja, sonst ist alles wie immer.«

»Sieh auch in deinem Wandschrank und den Schubladen nach. Er hat vielleicht ein Souvenir mitgenommen.«

Bei dem Gedanken daran wurde Olivia übel. »Okay.« Zwischen den Kleidern schien alles normal zu sein. Sie kontrollierte die Schubladen und bemerkte, dass etwas fehlte - ein roter Spitzenslip. Verdammt, jetzt fühlte sie sich wirklich missbraucht.

»Dieser Dreckskerl hat einen meiner...« Sie hörte abrupt auf zu sprechen, als sie in die Küche kam. J. L. stand auf Armeslänge entfernt von dem Paket und benutzte einen Pfannenwender aus ihrer Küche, um es zu öffnen.

»Bleib zurück«, warnte er sie.

Dann hatte er sie also absichtlich aus dem Zimmer geschickt, während er die Schachtel öffnete. Das war heldenhaft von ihm, aber nicht sehr klug, wenn er wirklich vermutete, dass die Schachtel beim Öffnen explodieren würde.

»An den Äpfeln ist nie etwas gefährlich gewesen«, versicherte sie ihm. Trotzdem hielt sie den Atem an, als er die Schachtel öffnete. Nichts.

Er nahm einen Apfel heraus, und er fiel auf den Tisch und rollte dann über den Rand bis auf den Boden. »Hast du die Äpfel je auf Chemikalien testen lassen?«

»Beim ersten Mal, ja. Sie waren harmlos.« Sie sah zu, wie ein zweiter und dritter Apfel auf den Boden fielen. »Sie sollen bloß meinen Seelenfrieden stören. Das ist ein psychologisches Spiel.«

»Ja.« J. L. warf auch den Rest der Äpfel mit seinem Pfannenwender aus der Schachtel. »Aber kriminelles Verhalten kann mit der Zeit eskalieren, wenn die Dreckskerle einen größeren Kick brauchen.«

»Bisher hat nichts darauf hingedeutet, dass er mir schaden will.« Olivia näherte sich dem Küchentisch. »Er will mich nur manipulieren und die Verbindung zwischen uns aufrechterhalten.«

»Weil es euer Schicksal ist, für immer zusammen zu sein.« J. L. wiederholte, was Otis zu seiner Mutter gesagt hatte. »Wenn er je merkt, dass du mit dem Plan nicht einverstanden bist, wird er sich in Sekundenschnelle gegen dich wenden.«

»Ich weiß.«

J. L. wühlte mit dem Pfannenwender in dem grünen Plastikgras, das die Apfel polsterte. »Scheint alles in Ordnung, aber wir sollten es trotzdem noch in der Forensik vorbeischicken, vielleicht finden die noch Fingerabdrücke. Dieses Ekel will dir offensichtlich Angst machen, indem er die Schachtel in deine Wohnung legt, aber vielleicht hat er den großen Fehler gemacht, sie selbst zu liefern.«

»Ich glaube, er beobachtet die Wohnung. Er wusste, dass ich nicht zu Hause bin.«

»Guter Einfall.« J. L. klopfte mit dem Pfannenwender auf die Tischplatte, während er nachdachte. »Warten wir doch, ob er zurückkommt.«

Olivia und J. L. verließen mit viel Aufwand die Wohnung, schlossen die Tür ab und fuhren in seinem Wagen davon. Dann, einige Blocks entfernt, stieg Olivia aus, und J. L. ging in den nächsten Eisenwarenladen, um ein neues Schloss zu besorgen.

Unterdessen rannte Olivia zurück und versteckte sich hinter einer Mülltonne, um ihr Apartment zu beobachten. Niemand näherte sich. Wahrscheinlich hatte der Komplize nur seinen Job erledigt und war längst verschwunden.

J. L. kehrte zurück und baute das neue Schloss ein, und Olivia räumte endlich ihre Einkäufe weg. Mit Latexhandschuhen legte sie die Äpfel zurück in die Schachtel und verpackte alles in einem Müllbeutel. Sie brachten es in die Gerichtsmedizin und holten auf dem Weg nach Hause eine Pizza. Selbst mit dem neuen Schloss weigerte J. L. sich, Olivia allein zu Hause zu lassen.

Sie saßen auf ihrem Sofa, aßen Pizza und gingen ihre Möglichkeiten durch. Als die Sonne unterging, hatte Olivia endlich einen Entschluss gefasst, der J. L. allerdings nicht gefiel, weil sie dazu nach Leavenworth fahren und Otis besuchen musste. Er gab endlich nach, als sie sich bereit erklärte, sich von ihm begleiten zu lassen.

»Dir ist klar, dass du genau das tust, was er von dir will«, warnte J. L. sie und stopfte sich den letzten Bissen Pizza in den Mund. »Er schickt dir die verdammten Äpfel, um dich anzulocken.«

»Ich kann ihn nicht einschüchtern, ohne ihm gegenüberzustehen.« Olivia zuckte vor Schreck zusammen, als es an der Tür klopfte.

»Erwartest du jemanden?« J. L. trat an die Tür, während er das Schulterhalfter öffnete, in dem sich seine Pistole befand.

»Nein.« Mit einer Serviette wischte sich Olivia das Öl von den Fingern und eilte dann an die Ablage, wo sie ihre Waffe gelassen hatte.

J. L. spähte durch den Spion in der Tür. »Ich fasse es nicht.«

»Was? Wer ist es?« Sie stellte sich einen Lieferanten mit fünfzig Schachteln voller Äpfel vor. Oder vielleicht war es der wütende Bruder von Otis mit einer Schrotflinte. Sie richtete ihre Waffe auf die Tür.

»Begrüßt man so seinen Freund?«

Fragend schaute sie J. L. an »Meinen was?«

Er grinste. »Robby MacKay steht vor der Tür.«