23. KAPITEL

 

Robby hob Olivia in seine Arme. Eine große Schuld lastete auf ihm. Er hätte ihr schon vor Wochen die Wahrheit sagen sollen. Aber gab es je den richtigen Augenblick, um jemandem zu sagen, dass man ein Blutsauger war? Das arme Mädchen war vor Schreck davongerannt, und jetzt hatte sie das Bewusstsein verloren.

»Einen Augenblick mal.« J. L. sah ihn misstrauisch an. »Warum hat sie etwas von Vampiren geredet?«

»Sie hat gerade einen kennengelernt.« Robby nahm den Duft des großen Mannes neben J. L. wahr. »Sie sind ein Formwandler?«

Der Mann erstarrte. »Sie wissen von Wandlern?«

»Aye. Sind Sie ein Wolf?«

»Wolfshund. Ich bin Patrick O'Shea Barker. FBI.«

»Sie sind Olivias Vorgesetzter. Sie hat mir von Ihnen erzählt. Nur Gutes, natürlich. Ich bin Robby MacKay, von MacKay Security & Investigation. Wir haben selbst einige Formwandler angestellt.«

»Wirklich? Das ist ja interessant.«

»Moment!« J. L. hob seine Hände. »Noch mal auf Anfang. Ich glaube, wir hatten die Vampirsache noch nicht ausreichend geklärt. Wollen Sie mir verdammt noch mal sagen, Vampire gibt es wirklich?«

»Aye.« Robby zog Olivia fest an sich und ging durch den Mais zurück auf die Farmgebäude zu.

»Wo bringen Sie Olivia hin?« J. L. folgte dicht hinter ihm.

Robby seufzte. Wahrscheinlich wollte sie ihn nicht sehen, wenn sie aufwachte. »Gibt es einen sicheren Ort, an den wir sie bringen können?«

»Wir haben Zimmer in einem Motel in der Stadt gemietet.« Barker musterte den Vampir immer noch eindringlich.

»Gut.« Robby erreichte den Garten. Die zwei Männer vom FBI flankierten ihn, und ihr Misstrauen war nicht zu übersehen. Robby ignorierte es.

»Sie sind doch einer von den Typen, die hier wie aus dem Nichts aufgetaucht sind? Wie zum Teufel haben Sie das gemacht?«, fragte J. L. neugierig.

Robby seufzte wieder. Dass sie beobachtet worden waren, hatten sie gar nicht gemerkt. Er folgte dem abgetretenen Pfad zwischen den zwei Farmen, und ging auf ein Auto zu. »Gehört das Auto in der Einfahrt einem von Ihnen?«

»Mir«, sagte J. L. »Harrison und der Sheriff sind abgehauen.«

»Was?« Barker sah J. L. fassungslos an. »Harrison ist weg? Warum?«

»Keine Ahnung.« J. L. starrte Robby wütend an. »Die beiden sind ein paar Männern in Kilts begegnet, und das Nächste, was ich gesehen habe, war, wie sie wegfuhren.«

Das mussten Connor und Angus gewesen sein. Sie waren als Erste angekommen. Sie hatten die Person am Telefon mit vampirischer Gedankenkontrolle davon überzeugt, den Sheriff auf seinem Funkgerät anzurufen. Dann hatten sie alle Erinnerungen daran gelöscht und das Funkgerät benutzt, um sich neben den Wagen des Sheriffs zu teleportieren.

»Man hat Ihren Begleitern nahegelegt, zu gehen«, gab Robby zu.

»Warum sollte Harrison tun, was irgendwelche Fremden ihm sagen?«, fragte Barker. »Ich bin sein Boss, und auf mich hört er nur die Hälfte der Zeit.«

»Vampirische Gedankenkontrolle.« Robby entdeckte seine Freunde, die sich nahe der Straße versammelt hatten. Es waren weniger geworden. Wahrscheinlich hatten sich einige von ihnen an einen anderen Ort teleportiert.

Barker deutete auf die Gruppe. »Die Typen dort drüben sind alle Vampire?«

»Aye, aber keine Sorge. Sie werden Ihnen nichts tun.«

»Whoa.« J. L. blieb mit einem Ruck stehen. »Dann sind Sie auch ein Vampir?«

Robby stöhnte innerlich. »Aye.« Olivia regte sich in seinen Armen, deswegen beeilte er sich, zum Auto zu kommen.

Barker hielt mit ihm Schritt. »Sie beißen Menschen?«

»Nay. Ich trinke synthetisches Blut.«

»Und Sie haben sich hier materialisiert?«, fragte J. L.

»Wir haben uns teleportiert.«

»Was für Fähigkeiten haben Sie sonst noch?« Barkers Neugier kannte keine Grenzen.

»Außergewöhnliche Kraft und Geschwindigkeit, übermenschliches Gehör und Sehvermögen, eine längere Lebensspanne, wir können schweben und die Gedanken anderer kontrollieren.«

»Cool«, flüsterte J. L.

»Nay.« Robby blieb neben dem Wagen stehen. »Es ist nicht cool, wenn diese Fähigkeiten für das Böse benutzt werden. Die Malcontents haben Gedankenkontrolle benutzt, damit diese armen Sterblichen ihnen hilflos ausgeliefert sind. Sie sind voller Angst gestorben, nicht in der Lage, sich zu verteidigen.«

»Wer sind die Malcontents?«, fragte Barker.

Robby begann eine schnelle Erklärung von Malcontents, guten Vampiren, und dem Stake-out-Team der CIA. Er hielt inne, als Olivia stöhnte. »Beeilen Sie sich, öffnen Sie die Tür. Die Schlüssel liegen dort auf dem Boden.«

J. L. hob die Schlüssel auf, während Barker die hintere Tür öffnete. Robby legte Olivia auf dem Rücksitz ab.

»Im Grunde sind Sie hier also die guten Vampire und die Malcontents die bösen?« Barker vergewisserte sich, ob er alles richtig verstanden hatte.

»Aye.« Robby schloss die Wagentür.

»Und was ist mit den Röcken?«, fragte J. L. »Ich dachte, Typen wie Sie stehen eher auf Umhänge.«

Robby warf ihm einen genervten Blick zu, merkte dann aber, dass Olivia aufwachte. »Sie dürfen niemandem davon erzählen. Es ist lebenswichtig, dass die sterbliche Welt nichts erfährt.«

»Als würde mir irgendwer glauben.« Er setzte sich hinters Steuer.

»Sie können uns vertrauen.« Barker umrundete den Wagen, bis er an der Beifahrertür angekommen war. »Ich will auch nicht, dass jemand mein Geheimnis erfährt.« Dann stieg der Mann ein.

J. L. ließ den Motor an, und Robby trat einen Schritt zurück. Olivia setzte sich auf dem Rücksitz auf und sah sich verwirrt um. Als sie Robby erblickte, riss Olivia die Augen vor Schreck weit auf.

Sein Herz zog sich in seiner Brust zusammen.

Der Wagen fuhr rückwärts die Auffahrt hinab. Als er auf die Straße einbog, spähte Olivia aus dem Fenster nach ihm.

Er hob eine Hand. War das ein Abschied? Würde sie ihn je wiedersehen wollen? Sie musste. Er konnte sie nicht gehen lassen, ohne um sie zu kämpfen.

Der Wagen fuhr davon, und alles, was ihm blieb, war eine große Staubwolke.

»Ist alles in Ordnung, Lad?« Angus kam auf ihn zu.

Er musste schlucken. »Vielleicht habe ich sie verloren.«

»Sie kommt vielleicht noch zu sich.« Angus klopfte ihm auf den Rücken. »Lass ihr Zeit.«

»Was habe ich verpasst?« Es tat zu sehr weh, weiter an Olivias schreckverzerrten Gesichtsausdruck zu denken. Er musste seine Gedanken auf die Jagd nach Casimir konzentrieren. Und er wusste, dass er einen Teil ihrer Lagebesprechung verpasst hatte, während er Olivia nachgegangen war.

»Casimir ist eindeutig nach Süden unterwegs, aber wir wissen nicht, was genau sein Ziel ist. Phineas hat sich nach New Orleans teleportiert, um den Zirkel dort zu warnen, falls Casimir dorthin unterwegs sein sollte. Dougal ist zu Jean-Luc nach Texas, um ihn ebenfalls zu warnen.«

Robby nickte. »Maggie und Pierce leben auch in Texas. Wir sollten die beiden verständigen. Und dann sollten wir auch die Sicherheitsmaßnahmen bei Romatech in Texas verstärken.«

Casimir hatte die Fabrik im vorigen Sommer in die Luft gejagt, aber die Produktion dort war bereits wieder aufgenommen worden.

»Wir verbringen den Rest der Nacht damit, alle Sturmschutzkeller der Umgebung abzusuchen.« Angus seufzte. »Wahrscheinlich ist das bloß Zeitverschwendung. Sie sind bestimmt weit weg.«

Robby sah sich zu den Farmhäusern um. »Und die Menschen, die gestorben sind? Kümmert Whelan sich um eine Erklärung?«

»Aye.« Angus lachte leise. »Er droht dich wegen Körperverletzung verhaften zu lassen.«

»Soll er es doch versuchen, dieser Bastard.« Nachdem Olivia ins Maisfeld gerannt war, hatte Robby dem grinsenden Whelan mitten ins Gesicht geschlagen.

Seine Freunde hatten applaudiert.

»Er bekommt noch, was er verdient«, sagte Angus. »Irgendwann wird er herausfinden, dass seine Enkel Halbvampire sind.«

Robby lächelte. Wie konnte Roman seinen Schwiegervater Sean Whelan überhaupt ertragen? Doch sein Lächeln verblasste schnell. Vielleicht bekam er selbst bald ein paar wütende angeheiratete Verwandte, falls Olivia überhaupt je einwilligen sollte, ihn zu heiraten.

****

Olivia stellte sich unter die Dusche, aber der Schock wurde dabei nicht weggewaschen. Sie nahm zwei Aspirin, aber der Schmerz wurde nicht gelindert. Sie streckte sich in ihren Pyjamas auf dem durchgelegenen Bett in ihrem Motelzimmer aus und starrte ins Nichts. Der Fernseher war eingeschaltet, aber ohne Ton. Die alte, vertraute Sitcom, die dort lief, half ihr, zu glauben, dass die Welt immer noch normal war. Auch wenn sie das nicht war.

Vampire. Das Wort kreiste in ihren Gedanken. Vampire gab es wirklich. Und Robby war einer von ihnen.

Erst jetzt erinnerte sie sich, wie viel Aufmerksamkeit er ihrem Hals geschenkt hatte, als sie sich liebten. Zwei riesige rote Knutschflecke unter jedem Ohr. Aber die Haut hatte er nicht verletzt. Stattdessen hatte er seine Zähne in ihrem Zierkissen versenkt. Sie schauderte, als sie sich an die zwei Löcher erinnerte. Robby hatte Fangzähne.

Er war tagsüber nie zu erreichen. Robby war tot. Oder untot. Es war alles ein wenig verwirrend.

In der Villa auf Patmos hatte sie ihn dabei erwischt, wie er etwas getrunken hatte. Es hatte wie ein Glas Wein ausgesehen, aber jetzt wusste sie es besser. Es musste Blut gewesen sein.

Das war alles zu viel. Sie wollte nicht mehr an Vampire denken. Sie griff nach der Fernbedienung und suchte im Fernsehen nach einem Film. Heute gab es im Programm... einen Vampirfilm. Ganz toll. Sie schaltete auf einen anderen Sender. Dort lief eine Serie mit Vampiren. Weiter zum History Channel. Eine Dokumentation über die Geschichte der... Vampire.

»Verdammt noch mal!« Sie schaltete den Fernseher aus und ließ sich auf ihr Bett fallen. Das war die reinste Verschwörung.

Es klopfte an ihrer Tür, und sie setzte sich mit einem Ruck auf. Bitte, sei nicht Robby. Damit konnte sie jetzt noch nicht umgehen.

»Liv, ich bin es!«, rief J. L. »Ich habe Pizza mitgebracht!«

Als würde sie nach einem Abend voller Leichen und schockierender Entdeckungen noch Appetit haben. Aber sie wollte auch nicht allein sein. »Einen Augenblick.« Sie betrachtete ihre langen Flanellpyjamahosen und ihr weites Sweatshirt und fand, sie hatte genug an. Sie öffnete die Tür.

»Wie geht es dir?« J. L. kam hereinspaziert, in den Armen eine Pizzaschachtel und eine Plastiktüte mit weiterem Proviant. Er stellte alles auf den Tisch neben dem Fenster ab. »Komm, lass uns feiern.«

Sie schloss die Tür und verriegelte sie. »Was gibt es zu feiern?«

Er griff in die Tüte, zog eine Cola light heraus und reichte sie ihr. »Wir sind noch am Leben. Das ist doch was.«

»Wahrscheinlich hast du recht.« Olivia schraubte die Flasche auf.

»Ja. Es könnte schlimmer sein.« Auch J. L. öffnete eine Cola und trank einige Schlucke. »Wir könnten tot sein.«

»Oder untot«, murmelte sie und setzte sich auf einen der zwei Stühle, die am Tisch standen.

»Und rate, was noch?« J. L. öffnete den Pizzakarton. »Harrison ist den ganzen Weg zurück nach Kansas City gefahren, wir müssen also unser Essen nicht mit ihm teilen. Wenn das kein Glück ist.«

»Was macht er in Kansas City?«

J. L. suchte sich ein Stück Pizza aus und setzte sich dann in den anderen Stuhl, um es zu verspeisen. »Barker hat ihn zu Hause angerufen. Er erinnert sich nicht einmal mehr daran, hier gewesen zu sein. Er weiß nichts mehr von diesem Fall. Komisch, oder?«

Olivia nippte an ihrer Flasche. »Wie konnte das passieren?«

»Die Vampire haben ihn mit etwas Gedankenkontrolle geblitzt.« J. L. nahm einen großen Bissen von seiner Pizza.

Auch Whelan hatte Gedankenkontrolle bei ihr angewendet, und das war ziemlich frustrierend gewesen. »Was ist mit diesem Typen von der CIA? Er hat versucht, meine Gedanken zu kontrollieren, damit ich auch verschwinde.«

J. L. nickte mit vollem Mund. »Die Leute von der CIA gehören alle zum Stake-out-Team. Robby hat uns von ihnen erzählt. Sie haben alle übersinnliche Fähigkeiten, mit denen sie der Gedankenkontrolle der Vampire widerstehen können.«

»Wann hat Robby euch das erzählt?«

»Während wir zum Auto gegangen sind.« J. L. nahm noch einen Bissen. »Du warst da gerade ohnmächtig. Robby hat dich getragen.«

Wie hatte ihr das eigentlich passieren können? Sie wurde niemals ohnmächtig. Aber normalerweise verbrachte sie ihre Abende auch nicht inmitten von Mordopfern und erfuhr dann noch, dass ihr Freund ein Vampir war und ihr Boss ein Hund.

Sie nahm noch einen Schluck. »Wo ist Barker?«

»Er ist in seinem Zimmer. Hat gesagt, du willst ihn wahrscheinlich noch nicht sehen.«

»Es ist alles so seltsam. Ich hatte keine Ahnung. Ich meine, sein Name bedeutet vielleicht Beller, aber schließlich gibt es auch Leute, die Wood heißen, ohne sich in ein Kantholz verwandeln zu können.«

»Ja.« J. L. stopfte sich noch mehr Pizza in den Mund. »Aber es erklärt einiges.«

»Zum Beispiel? Seine Zuneigung zu Straßenlaternen?«

J. L. lachte. »Nein. Ich meine, dass er deine Gabe nie infrage gestellt hat. Als alle im Büro noch gedacht haben, du bist verrückt oder eine Betrügerin, hat er an dich geglaubt. Er war es sogar, der dich angefordert hat.«

»Wirklich? Das wusste ich nicht.«

»Er wusste eben schon, dass es krass merkwürdige Fälle wirklich gibt.«

Nachdenklich nahm Olivia eine Olive von der Pizza und steckte sie sich in den Mund. »Du hast auch immer an mich geglaubt.«

»Ja, sicher, aber ich bin auch ein wirklich kluger Kerl.«

Sie lächelte. »Ja, das bist du.«

Plötzlich klingelte ihr Handy. War das Robby? Sie starrte das Telefon an. Sie hatte es auf dem Nachttisch zwischen den zwei Doppelbetten liegen lassen.

J. L. stand auf. »Soll ich rangehen?«

»Eher nicht.« Das Telefon klingelte erneut.

»Was, wenn es Robby ist?« J. L. ging zu ihrem Handy.

»Ich will nicht mit ihm reden.«

»Weil er ein Vampir ist?«

»Ja.«

»Ach komm schon, Liv. Niemand ist perfekt.«

»Ich erwarte keine Perfektion. Ich finde nur, ein Herzschlag gehört irgendwie dazu.« Das Telefon klingelte weiter.

Mit gerunzelter Stirn sah J. L. sie an. »Es könnte wirklich schlimmer sein, weißt du. Er könnte zum Beispiel ein... Zombie sein, der dein Gehirn fressen will.«

»Das ist nicht hilfreich.«

Ohne noch mal zu fragen, nahm J. L. den Anruf entgegen. »Hallo? Oh, hi, Robby.« Er warf Olivia einen eindringlichen Blick zu. »Wie geht es Ihnen? Sind Sie unterwegs, um Leute zu beißen?«

Es folgte eine kurze Pause, dann bedeckte J. L. das Telefon mit seiner Hand. »Er sagt, er trinkt synthetisches Blut aus der Flasche, das Zeug, das sie bei Romatech herstellen.«

Romatech. Sie schüttelte den Kopf. Dort mussten Vampire sich ja wohlfühlen.

»Okay.« J. L. blickte zu Olivia. »Er sagt, er will mit dir sprechen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich will nicht mit ihm reden. Noch nicht. Vielleicht in ein paar Tagen. Oder Wochen.«

»Tut mir leid, Mann. Sie will noch nicht wieder mit Ihnen reden.«

Wie aus dem Nichts erschien Robby mitten im Raum. »Sie kommt darüber hinweg.«

Vor Schreck verschüttete Olivia Cola über ihr ganzes Sweatshirt. »Verdammt!«

»Whoa!« J. L. klappte das Handy zu. »Alter, was für ein Auftritt.«

Olivia stellte ihre Flasche auf den Tisch. »Ich bin noch nicht so weit. Ich nehme an, du kannst genauso wieder verschwinden, wie du gekommen bist?«

So schnell ließ sich Robby nicht abfertigen. »Wir müssen reden.«

J. L. legte das Handy zurück auf den Nachttisch. »Ich sollte euch zwei wohl lieber alleine lassen.«

»Nein!« Olivia sprang auf. »Lass mich nicht allein.«

»Glaubst du, ich würde dir etwas tun? Hast du vergessen, wie sehr ich dich liebe?«

»Ich weiß es nicht.« Sie verschränkte die Arme. »Ich weiß auch noch, dass wir uns monatelang unterhalten haben und du nie die Wahrheit über dich erwähnt hast.«

»Ich wollte es dir morgen Abend sagen.«

»Das ist ein wenig spät, findest du nicht? Du hättest es mir sagen müssen, bevor wir zusammen im Bett waren!«

Er trat auf sie zu. »Ich habe gezögert, weißt du nicht mehr? Du dachtest, es ist, weil ich dich nicht begehre, aber es war, weil ich wusste, dass du zuerst die Wahrheit verdienst. Aber du wolltest nicht warten! Du hast mich gezwungen.«

»Ich habe dich gezwungen, mit mir zu schlafen?«

»Ich verschwinde jetzt wirklich.« J. L. schnappte sich den Pizzakarton. »Es geht in Ordnung, wenn ich die mitnehme, richtig? Barker wollte etwas abhaben, und ich nehme an, Sie stehen auf andere Dinge.«

»Ist schon gut«, murmelte Robby.

J. L. sah Olivia an. »Wenn du mich brauchst, ruf mich.«

»Na schön.« Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen und starrte den abgetretenen Teppich finster an.

Die Tür schloss sich, und sie war mit Robby allein. Tief in ihr brodelte Wut, versetzt mit Schmerz.

Vorsorglich nahm er gegenüber von Olivia Platz. »Mir ist klar, dass du unter Schock stehst.«

»Ich glaube, mit Schock und Verleugnen bin ich durch.«

»Das ist gut.«

Ihre Augen blitzten vor Wut. »Ich bin auf direktem Weg in die richtig wütende Phase.«

»Wie lange wird die dauern?«

»Solange ich will.« Sie stand auf und ging in dem kleinen Raum auf und ab. »Du hättest es mir sagen müssen. Du weißt, wie wichtig mir Ehrlichkeit ist. Du hättest von Anfang an ehrlich zu mir sein müssen.«

»Sei ehrlich mit dir selbst, Olivia. Wenn ich dir von Anfang an die Wahrheit gesagt hätte, hättest du dich doch geweigert, mich je wiederzusehen.«

»Wir haben uns monatelang nur unterhalten, und du hast es mir nie gesagt. Du hast mich absichtlich hintergangen.«

»Ich habe mich in dich verliebt. Das war kein Hintergehen.«

Über Liebe wollte sie jetzt überhaupt nicht reden. Es war auf Patmos alles so schnell gegangen, wie durch Magie. Sie hatte geglaubt, sich in den perfekten Mann zu verlieben, aber jetzt wurde ihr klar, dass sie ihn überhaupt nicht kannte. »Wer... was bist du wirklich? Bist du tot oder lebendig oder irgendwas dazwischen?«

»Jetzt gerade bin ich lebendig. Mein Herz pumpt mein Blut. Mein Verstand denkt, wie schön du bist. Meinen Augen ist aufgefallen, dass du nichts anhast unter deinem T-Shirt.«

Sie verschränkte die Arme und erschrak, als sie fühlte, wie feucht und klebrig ihr Sweatshirt war. »Und tagsüber, als du nie angerufen oder deine E-Mails beantwortet hast, hast du da geschlafen, oder warst du bewusstlos?«

»Ich bin dann tot.«

Sie sah ihn skeptisch an. »So richtig... tot?«

»Aye.« Er nickte langsam. »Das ist einer der großen Nachteile meines Zustands.«

»Kann man wohl sagen.«

»Wenn ich tagsüber nicht auf deine Nachrichten reagiere, dann nicht aus Unhöflichkeit oder weil ich dich vernachlässige.«

»Richtig. Du vernachlässigst mich nicht. Du bist bloß tot.« Sie rieb sich die Stirn. »Soll ich mich dadurch irgendwie besser fühlen?«

Wie konnte Robby sie nur überzeugen? »So schlimm ist es nicht, Vampir zu sein. Es gibt auch Vorteile. Wir leben länger...«

»Wie alt bist du?«, unterbrach sie ihn.

»Ich bin 1719 geboren worden.«

Ihre Knie gaben nach, und sie musste sich auf die Bettkante setzen. Er war fast dreihundert Jahre alt. Er wurde nicht älter.

Sie schon. Das war schrecklich. »Und was gibt es noch für... Vorteile?«

»Ich bin übermenschlich schnell und stark. Meine Sinne sind verstärkt. Ich kann schweben, mich teleportieren und Gedankenkontrolle benutzen.«

Jetzt kochte ihre Wut wieder hoch. »Einige deiner Freunde haben Gedankenkontrolle benutzt, damit Harrison und der Sheriff verschwinden.«

»Aye.«

»Harrison ist den ganzen Weg nach Hause gefahren und erinnert sich nicht einmal daran, hier gewesen zu sein.«

Robby nickte. »Wir können Erinnerungen löschen, wenn es nötig ist.«

»Ihr manipuliert uns einfache Sterbliche also, wie es euch gerade passt?« Ihre Stimme überschlug sich.

»Wir tun es nur, wenn wir einen guten Grund haben.«

Zum Beispiel, wenn man will, dass eine Frau sich unglaublich schnell in einen verliebt?

Wütend funkelte sie Robby an. »Hast du deine Gedankenkontrolle je an mir benutzt?«

»Aye.«

»Du Bastard!«

»Lass mich erklären.« Robby musste jetzt einfach alles sagen, es durften keine Lügen und Geheimnisse mehr zwischen ihnen stehen.

»Nein! Ich habe mich viel zu schnell in dich verliebt. Du... du warst es, der...«

»Nay! Ich habe dich nur ein einziges Mal kontrolliert. Du warst im Meer und halb erfroren. Ich habe dich zum Schlafen gebracht, damit du nicht siehst, wie ich dich auf den Innenhof teleportiere...«

»Du hast mich teleportiert?«

»Aye. Damit ich dich in den heißen Whirlpool legen konnte. Ich habe versucht, dich zu retten.«

Und sie war so dankbar gewesen, so beeindruckt, so bereit für diese Liebe. Was aber, wenn er alles nur manipuliert hatte? »Hast du alles so eingefädelt? Wusstest du von dem Panther?«

»Ich wusste nicht, dass Carlos vorhatte, dich zu erschrecken.«

»Carlos?«

Es tat ihm so leid, sie ständig von Neuem zu schockieren. »Carlos Panterra. Er ist ein Formwandler.«

Olivia stolperte einen Schritt zurück. »Carlos war der...?«

»Panther, aye.«

»Er ist eine Katze?« Und ihr Boss war ein Hund. Sie schüttelte den Kopf. War ihr Nachbar vielleicht ein Goldfisch? »Er hat mich zu Tode erschreckt. Warum?«

»Er wollte uns verkuppeln. Er dachte, wenn ich dich rette...«

»Was?« Wieder explodierte sie vor Wut. »Ich war nie in Gefahr? Ich dachte, du hast mir das Leben gerettet. Du hast mich hereingelegt!«

»Ich habe dich gerettet. Du warst halb erfroren.«

War nichts so, wie sie gedacht hatte? Sie wirbelte zu ihm herum. »War irgendetwas echt? Kannst du mir schwören, dass du meine Gedanken und Gefühle nie manipuliert hast?«

»Nie. Ich würde deine Liebe nicht wollen, wenn sie falsch wäre. Deine Gefühle waren immer deine eigenen. Und sie waren immer echt.«

Tränen standen in ihren Augen. »Was weißt du schon von meinen Gefühlen? Ich bin durch die Hölle gegangen wegen meiner Gefühle für dich!«

Auch Robbys Gesichtsausdruck war schmerzverzerrt. »Das bin ich auch. Ich liebe dich, Olivia. Ich habe dich von Anfang an geliebt.«

Damit ihr kein Schluchzen entkam, legte sie eine Hand auf ihren Mund. Dieser verdammte Kerl. Sie wendete sich von ihm ab und ging auf den Spiegeltisch ihres Motelzimmers zu. Sie sah sich selbst im Spiegel, die Augen vor Tränen feucht, der Mund vor Schmerz verzerrt.

Mit einem Ruck blieb sie stehen. Robby war nirgends zu sehen. Sie wirbelte herum. Da war er. Sie sah wieder in den Spiegel. Er hatte kein Spiegelbild. Er war kein echter Mensch.

Als wäre sie in den Bauch gestochen worden, krümmte sich Olivia zusammen. Sie hatte sich in ein Trugbild verliebt. Sie konnte mit Robby nie ein normales Leben führen. All ihre Träume von einer gemeinsamen Zukunft zerplatzten gerade.

»Olivia, Liebes.« Er legte ihr die Hände auf die Schultern.

»Nein.« Sie löste sich von ihm, und Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Ich wollte, dass es echt ist. Ich wollte dich ewig lieben.«

»Das kannst du. Liebes, wir finden einen Weg.«

Sie brach auf dem Bett zusammen und vergrub ihr Gesicht in den Händen.

Robby setzte sich neben sie. »Wir kommen schon zurecht, Olivia.«

»Ich bin nicht mehr wütend.«

»Dann hast du mich akzeptiert?«

Traurig schüttelte Olivia den Kopf. »Nein, ich... trauere. Ich habe die Zukunft verloren, an die ich für uns beide geglaubt habe.«

Sie setzte sich auf und zog an ihrem klebrigen Sweatshirt. »In dem Ding kann ich nicht schlafen. Und ich habe kein zweites eingepackt.«

»Kein Problem.« Robby verschwand.

An diese seltsame Gewohnheit musste sie sich erst noch gewöhnen. »Verdammt.« Sie sah sich im Zimmer um. Er war wirklich verschwunden.

Und sie war wirklich in einen Vampir verliebt. Wie konnte das je funktionieren? Einige Minuten später tauchte er wieder auf und hielt etwas in der Hand.

»Warst du in meiner Wohnung?«

»Aye. Ich habe dir etwas zum Anziehen mitgebracht.«

Es war das Nachthemd, das sie in der Nacht, in der er ihre Unschuld genommen hatte, angezogen und gleich wieder ausgezogen hatte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Was sollte sie jetzt tun? Es war nicht richtig, ihn einfach zurückzuweisen. Sie musste mehr über ihn erfahren.

Gut, dann sollte er seine Chance bekommen. »Erzähl mir alles.«

Er erzählte ihr von seinem Job und wie er und seine Freunde gegen die bösen Malcontents kämpften. Ein Vampir namens Casimir war ihr Anführer, und er war es auch gewesen, der Robby gefoltert hatte.

»Hat Casimir die Menschen in den Farmen umgebracht?«

»Aye. Er und seine Anhänger.«

»Wie viele... Anhänger hat er?«

»Nur eine Handvoll, glauben wir zumindest. Er muss seine Armee stärken. Entweder, er findet weitere Vampire, oder er erschafft sie.«

Olivia überlegte. »Warum hat er die Menschen in den Farmen nicht in Vampire verwandelt?«

»Das waren wahrscheinlich gute Menschen. Gute Menschen werden zu guten Vampiren.«

»So wie... du?«

Robby nickte. »Der Tod verändert die Natur des Menschen nicht.«

Einen Augenblick dachte sie darüber nach, doch dann fiel ihr plötzlich etwas ein. »Die Kinder! Du liebe Zeit, bei all der Aufregung habe ich es einfach vergessen.«

»Was für Kinder?«

»In den Farmen haben Kinder gelebt. Sie sind verschwunden.«

Entsetzt starrte Robby sie an. »Verdammt noch mal. Casimir muss sie entführt haben.«

»Warum? Was soll er mit unschuldigen Kindern?«

»Sie sind leichter, man kann sich einfacher mit ihnen teleportieren. Sie sind eine praktische Nahrungsquelle.«

Olivia keuchte entsetzt auf. »Sie sind Proviant?«

Robby stand auf. »Ich muss gehen.«

Auch Olivia erhob sich. »Kannst du sie finden?«

»Wir tun unser Bestes.« Zärtlich berührte er ihre Wange. »Nicht. Bitte. Ich habe für eine Nacht viel erfahren müssen. Ich bin nicht sicher, ob ich es ertragen kann.«

Hoffnungsvoll blickte er Olivia an und wagte einen Scherz. »Du kommst darüber hinweg.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?« Ihr Herz fühlte sich so schwer an, so voller Schmerz.

»Weil du mich liebst.« Er verschwand.