10. KAPITEL

Eine Woche später...

 

Olivia trat aus dem Aufzug in den ersten Stock des FBI-Gebäudes in Kansas City, um an ihren Arbeitsplatz zu gehen. Sie schritt an leeren Schreibtischen entlang. Die meisten Special Agents kümmerten sich unterwegs um ihre Aufträge. Nur wenige waren zurückgeblieben und erledigten ihren Papierkram. Sie sahen auf und lächelten.

Sie winkte ihnen zu und ging weiter, ehe jemand sie anhalten konnte. Die meisten von ihnen hassten Schreibtischarbeit und waren froh um jede Unterbrechung, aber sie war nicht in der Stimmung, sich zu unterhalten.

Wie war dein Urlaub?, würden sie fragen. Den hat mir ein Serienkiller ruiniert. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Beziehung zu Robby nicht auch ruiniert war. Von ihm getrennt zu sein tat mehr weh, als sie erwartet hatte. Ein tiefer Schmerz war ihr ständiger Begleiter geworden, als hätte sie ihren besten Freund verloren. Dazu kam noch die nagende Angst, ihn nie wiederzusehen.

Von ihrer Familienfeier in Houston war sie früher abgereist, weil es nicht gut gelaufen war. Ihre Eltern waren wütend auf sie und behaupteten, sie hätte einen psychopathischen Mörder in ihr Leben gelassen. Auch die Beteuerung, dass Otis Crump sich hinter Gittern befand, hatte sie nicht beruhigen können, zumal sein erfolgreiches Stalken nicht zu leugnen war.

Wenn es nach ihren Eltern ginge, hätte sie schon längst ihren Job kündigen müssen, aber wie konnte sie das? Sie liebte diesen Job. Und sie hatte hart daran gearbeitet, als Mitarbeiterin ernst genommen zu werden. Am Anfang hatte sie sich inmitten all der Special Agents etwas minderwertig gefühlt. Sie selbst erfüllte nicht die Anforderungen für ›spezial‹, weil sie direkt nach dem College angefangen hatte und nicht die nötige Erfahrung mitbrachte. Offiziell war ihre Bezeichnung »kriminalpsychologische Mitarbeiterin«. Das FBI gab natürlich nur ungern zu, dass man sie wegen ihrer paranormalen Fähigkeiten angestellt hatte.

Sie kam an ihren Schreibtisch, legte die Handtasche in die unterste Schublade und blickte dann über die Wand ihrer Kabine. Vielleicht war J. L. an seinem Platz. Nein, verschwunden. Mit ihm zu reden hätte ihr nichts ausgemacht. Er war ihr bester Freund bei der Arbeit. Im Gegensatz zu den meisten Special Agents, die früher als Anwälte oder Buchhalter gearbeitet hatten, war J. L. Wang aufgrund seiner linguistischen Talente eingestellt worden. Sie hatten sich beide wie Außenseiter gefühlt und deshalb schnell Freundschaft geschlossen.

Lächelnd betrachtete sie die Plakette, die neben ihrem Monitor hing. J. L. hatte sie ihr stolz zum vierundzwanzigsten Geburtstag geschenkt. Seine Liebe für Initialen war in die Gravur geflossen: Olivia Sotiris, APA, FBI, MLD, BFKMF. Er hatte den anderen die letzten zwei Akronyme übersetzt: »Menschlicher Lügendetektor«, »Beraterin für krass merkwürdige Fälle«.

Danach hatten alle im Gebäude es als normal empfunden, sich mit besonders merkwürdigen Vorkommnissen, die bei ihren Ermittlungen auftauchte, an sie zu wenden. Endlich hatte sie dazugehört.

Verdammt, sie wollte nicht kündigen.

»Olivia!« Yasmine Hernandez kam auf sie zugeeilt. »Was machst du denn hier?«

»Na, da fühle ich mich gleich wie zu Hause.« Olivia lächelte ihre Kollegin an.

Yasmine winkte ab. »Ich meinte nur, du solltest doch erst nach Weihnachten zurückkommen.«

Ihre Antwort fiel ausweichend aus. »Ist was dazwischengekommen.« Yasmine war als Büroleiterin ausgezeichnet, aber leider war sie auch genauso gut darin, in jedermanns Privatleben herumzuschnüffeln.

»Warst du nicht in Griechenland?«, hakte Yasmine nach.

»Doch.« Als Yasmine den Mund öffnete, um nach mehr Informationen zu bohren, sagte Olivia schnell: »Ich muss mit Barker reden. Ist er zu sprechen?« Sie sah zum verglasten Eckbüro ihres Vorgesetzten, Patrick O'Shea Barker. Die Tür und die Jalousien waren geschlossen, aber drinnen brannte Licht.

»Er ist gerade in einem Meeting. Mit Special Agent Harrison.«

Die Wut, die aus Yasmines Richtung kam, entging Olivia nicht. Zweifellos war Harrison der Grund dafür, der aufdringlich und unhöflich sein konnte. Yasmines Gefühle waren normalerweise gleichbleibend fröhlich, und Olivia hatte immer gespürt, dass ihre Fragerei nichts mit Bosheit zu tun hatte, sondern mit Neugierde und dem ehrlichen Wunsch, zu helfen. Harrison dagegen machte es einfach Spaß, idiotische Dinge zu tun.

»Warum musst du zu Barker?«, fragte Yasmine. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Wir müssen nur etwas besprechen.« Zum Beispiel, wie in aller Welt Otis Crump sie auf Patmos gefunden hatte. Sein Stalking musste aufhören. Es war schlimm genug, wenn es nur um sie selbst ging, aber jetzt musste Olivia sich auch noch Sorgen machen, dass er es auf ihre Familie abgesehen hatte, besonders auf ihre Großmutter, die die meiste Zeit allein lebte. Otis war hinter Gittern, aber was, wenn es einen Komplizen gab, der sich auf freiem Fuß befand und ihren Angehörigen Schaden zufügen konnte?

Die Wut war verflogen. Jetzt sendete Yasmine Angst aus. »Du hast doch nicht vor, dich versetzen zu lassen, oder? Wir haben sowieso nicht genug Frauen im Büro. Du kannst nicht gehen.«

»Ich will auch nicht gehen.« Olivia behielt ein Auge auf Barkers Tür gerichtet und fragte sich, wie lange sein Meeting dauern würde.

Yasmine kam plötzlich ein Gedanke. »Ich weiß, was dich aufheitern wird! Heute Morgen ist ein Paket für dich gekommen.«

Starr vor Schreck fixierte Olivia ihre Kollegin. »Nicht schon wieder Apfel.«

»Nein, nein, natürlich nicht.« Yasmine winkte ab und senkte dann dramatisch die Stimme. »Wir nehmen hier keine Post von Du-weißt-schon-Wem mehr an.«

»Schickt er immer noch Post hierher?«, fragte Olivia.

Yasmine schüttelte den Kopf. »Schon seit ein paar Monaten nicht mehr. Er hat aufgegeben, nachdem alles zurück an den Absender geschickt worden ist.«

»Erinnerst du dich, welchen Absender genau er benutzt hat?« Darauf achtete Olivia immer. Die letzten Male, als sie Äpfel bekommen hatte, war es ein Postfach gewesen, das es nicht gab.

Yasmine legte die Stirn in Falten. »Ich glaube, es war seine Adresse in Leavenworth. Aber das ist Monate her.« Eine Welle der Aufregung durchfuhr sie. »Bekommst du immer noch Sachen von ihm?«

Olivia wollte nicht weiter darüber reden. »Du hast gesagt, da ist ein Paket für mich?«

»Oh, richtig. Ich hole es.« Yasmine eilte davon, und ihre flachen Pumps klickten dabei auf dem Holzfußboden.

Olivia fuhr ihren Computer hoch und sah nach ihren E-Mails. Zum hundertsten Mal ärgerte sie sich darüber, dass sie in ihrer Nachricht an Robby nicht auch ihre E-Mail-Adresse vermerkt hatte. Oder ihre Handynummer. Die Insel schien ihr jetzt in weiter Ferne zu liegen. Die Erinnerung an ihre Zeit mit Robby war wie eine Illusion. Nicht echt.

Auch wenn sie es nur ungern zugab, wahrscheinlich wollte ein Teil von ihr es ihm nicht zu leicht machen. Sie hatte ihre Zweifel gehabt, ob zwei Menschen sich in weniger als einer Woche verlieben konnten, vielleicht wollte sie jetzt den Beweis. Sie wollte wissen, ob er sich die Mühe machen würde, sie zu finden und mit ihr Kontakt aufzunehmen.

Olivia blickte auf, als Barkers Tür sich öffnete und ihr Vorgesetzter mit Harrison herauskam. Mit seinen eins achtundneunzig war Barker nicht zu übersehen. Er murmelte etwas und klopfte dem Special Agent dann auf die Schulter. Harrison lachte, ehe er wieder an seinen Arbeitsplatz ging.

Olivia sprang auf und näherte sich ihrem Vorgesetzten. »Entschuldigung, Barker. Haben Sie eine Minute?«

»Sotiris. Ich wusste nicht, dass Sie schon wieder zurück sind.« Barker kniff seine braunen Augen zusammen. »Sollten Sie schon zurück sein?«

»Eigentlich erst nach Weihnachten, aber es gab etwas Wichtiges, das ich mit Ihnen persönlich besprechen wollte.«

»In Ordnung.« Er bedeutete ihr, in sein Büro zu kommen. »Setzen Sie sich.«

Am äußersten Rand des Chromstuhls aus schwarzem Leder nahm sie Platz und umklammerte die Armlehnen.

Barker ging langsam an seinen Schreibtisch und betrachtete sie dabei eingehend. »Ich habe Sie beurlaubt, damit Sie sich entspannen, aber Sie sehen immer noch angespannt aus.«

»Ich...« Sie hob ihr Kinn. »Ich will noch einmal die Akten vom Fall Otis Crump sehen.«

Erschöpft schloss Barker für einen Augenblick die Augen. »Olivia, wir sind die Sache doch schon durchgegangen. Er ist wegen dreier Morde verurteilt worden und sitzt dreimal lebenslänglich ab. Dank Ihnen hat er zehn weitere Morde gestanden, aber es wäre eine Verschwendung von Steuergeldern, ihn noch einmal zu belangen. Er geht nirgendwohin. Nie mehr.«

»Ich glaube, er könnte einen Komplizen gehabt haben.«

»Nicht bei den Morden. Unsere Gerichtsmediziner haben alle Beweise genau unter die Lupe genommen. Er hat allein gearbeitet.«

»Er hat mir mehrere Male angedeutet...«

»Er hat mit Ihnen gespielt.« Barker legte seine Handflächen auf den Tisch und beugte sich vor. »Der Mann will Sie unbedingt an der Leine behalten. Er würde Ihnen erzählen, dass kleine grüne Männchen ihm geholfen haben, wenn es ihm nützt. Der Fall ist abgeschlossen, und ehrlich gesagt fange ich an, mir wegen Ihrer Besessenheit Sorgen zu machen.«

»Ich würde darüber hinwegkommen, wenn der Bastard aufhören würde, mich zu stalken!« Olivia atmete tief durch, um sich zu beruhigen.

Barker richtete sich auf. »Sie bekommen immer noch Äpfel?«

»Ja.« Sie sprang auf und trat ans Fenster. »Er hat sie an das Haus meiner Großmutter auf Patmos geschickt. Meiner Großmutter! Ich musste sie zu meinem Dad nach Houston bringen, damit sie in Sicherheit ist.«

»Ich kann verstehen, warum Sie das aufregt.«

Olivia ging zu ihrem Stuhl zurück. »Irgendwer muss ihm dabei helfen. Jemand schickt die Äpfel in seinem Namen.«

Ihr Chef verschränkte seine langen schlaksigen Arme über seinem grauen Nadelstreifenanzug. Sein finsterer Blick ließ sein langes hageres Gesicht noch länger wirken. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Dass er einen Komplizen hat.«

»Es könnte jemand sein, der ihm nahesteht«, überlegte Olivia. »Wenn wir die Akte wieder öffnen, können wir alle seine Freunde und seine Familie verhören.«

»Es könnte auch ein Groupie sein. Diese Serienkiller haben immer ein paar von denen.« Barker rieb sich das Kinn. »Versteht Ihre Familie, wie wichtig es ist, die Sache unter Verschluss zu halten? Wir wollen nicht, dass die Medien daraus eine Sensationsstory machen. Als Nächstes stalkt dann jeder Gefangene im Land seinen Lieblingsbeamten.«

»Und Otis würde die Publicity gefallen.« Olivia sah ihn schon vor sich. »Keine Sorge. Meine Familie findet die Sache ohnehin schon schlimm genug. Sie werden es nicht noch schlimmer machen.«

Tief in Gedanken versunken blickte Barker auf seinen Schreibtisch, während sie in seinem Büro auf und ab ging.

»Ich will noch ein paar Tage wieder nach Hause, um Weihnachten zu feiern«, murmelte sie. »Ich möchte meiner Familie gerne erzählen können, dass wir den Komplizen gefunden haben und alles vorbei ist.«

»Diese Person konnte Sie bis auf eine abgelegene griechische Insel verfolgen. Es könnte noch eine andere Erklärung geben.«

»Zum Beispiel?«

»Keinen Komplizen, sondern einen Angestellten. Crump hat vielleicht einen Privatdetektiv engagiert.« Barker beugte sich wieder über seinen Schreibtisch. »Denken Sie nach, Olivia. Ist Ihnen auf der Insel irgendwer aufgefallen, der ein Privatdetektiv gewesen sein könnte?«

Mit einem Ruck blieb Olivia stehen. MacKay Security & Investigation. Der Raum begann sich um sie zu drehen, und sie hielt sich an der Rückenlehne eines Stuhls fest. Nein. Das konnte nicht sein. Aber andere Privatdetektive hatte es auf der Insel nicht gegeben.

»Wahrscheinlich ist es ein Mann, der zu Besuch auf der Insel war und sich unauffällig verhalten hat.« Barker konstruierte die Geschichte ziemlich schlüssig.

Ein Schaudern durchlief ihren Körper. Nein, nicht Robby. Jeder, nur nicht Robby. Carlos? Aber die beiden arbeiteten für dieselbe Firma. Wahrscheinlich hatten sie denselben Auftrag. Sie presste ihre Faust gegen ihren Mund. Was, wenn sie selbst der Auftrag gewesen war?

»Hey, ist alles in Ordnung?« Barker kam um seinen Tisch herum.

»Ich... ich muss gehen.«

»Aber wir sind noch nicht...«

»Ich muss gehen!« Sie riss die Tür auf und stürzte nach draußen. Alle Agenten im Büro drehten die Köpfe nach ihr um. Nein, sie durfte nicht darüber nachdenken. Es war zu schrecklich. Sie durfte hier nicht zusammenbrechen.

Sie lief hinaus und den Flur hinab bis in den Damenwaschraum. Nein, nicht Robby. Das kann er mir nicht angetan haben. Sie riss die Kabinentüren auf. Alle leer. Im Spiegel erhaschte sie einen Blick auf sich selbst. Dieses blasse, verschreckte Gesicht gehörte zu ihr. Konnte man sie getäuscht haben? Hatte sie sich in den Feind verliebt?

Schluchzend rannte sie zurück und schloss die Tür zum Waschraum ab. Sie stieß Töne der puren Verzweiflung aus, als hätte man ihr die Seele aus dem Leib gerissen. Dann schlug sie sich eine Hand auf den Mund. Niemand durfte sie hören.

Ihre Knie gaben nach, und sie glitt an der Tür hinab, bis sie auf dem Linoleumfußboden saß. Oh Gott, sie hätte es wissen müssen. Vielleicht hatte ein Teil von ihr es immer gewusst. Diese ganze Liebesgeschichte war viel zu schnell gegangen.

Tränen strömten ihr übers Gesicht. Was für ein vollkommener Trottel sie doch gewesen war! Zum ersten Mal im Leben konnte sie keine Lügen aufspüren, und schon war sie auf eine so schreckliche Täuschung hereingefallen.

Nein! Immer wieder schüttelte sie den Kopf. Es durfte nicht wahr sein. Es musste sie geben, die echte Liebe.

»Robby«, weinte sie. Sie wollte ihn nicht verlieren, wollte den Traum nicht verlieren, die Magie, das Leuchten seiner Liebe. Sie lehnte ihren Kopf gegen ihre Knie und weinte.

Oh Gott, das letzte Mal hatte sie in Robbys Armen so geweint. Er hatte sie festgehalten und sie getröstet. Dann hatte er sie geliebt.

Eine quälende Übelkeit machte sich in ihrem Innersten breit, und sie atmete tief durch, um die Kontrolle zu behalten. Sie war bei der Arbeit, verdammt noch mal. Sie musste sich zusammenreißen. Später, wenn sie zu Hause in ihrer Wohnung war, konnte sie immer noch zusammenbrechen.

Olivia stolperte an eines der Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Sie beugte sich über das Becken, um sich selbst nicht ansehen zu müssen. Gerade war ihr Herz zerbrochen, die Spuren, die das auf ihrem Gesicht hinterließ, musste sie nicht noch im Spiegel ansehen.

Es rüttelte an der Tür, als jemand versuchte, sie zu öffnen. Dann hörte sie ein Klopfen.

»Olivia?«, fragte Yasmine leise. »Ist alles in Ordnung?«

»Es geht mir gut.« Nichts war gut. Sie wusste, dass ihre Augen rot und aufgequollen waren und ihre Nase wund und feucht.

»Willst du darüber reden?«, fragte Yasmine.

Nein. Olivia schleppte sich an die Tür und schloss auf. Yasmine schlüpfte hinein. Sie hielt ein großes braunes Paket an ihre Brust gedrückt. Nach nur einem Blick auf Olivia keuchte sie entsetzt auf.

»Ich fühle mich nicht sehr gut.« Olivia riss ein Papiertuch aus dem Spender und putzte sich die Nase.

»Männerprobleme?«, flüsterte Yasmine. »Keine Sorge, ich verrate es niemandem. Ich sage allen, du hast dir im Urlaub ein Virus eingefangen. Das passiert andauernd.«

»Danke.«

Yasmine seufzte. »Es ist heutzutage so schwer, einen guten Mann zu finden. Ich muss es ja wissen. Ich habe überall gesucht.«

Die Worte der Kollegin machten sie noch trauriger. »Ich sollte nach Hause gehen.«

»Natürlich.« Yasmine klopfte ihr auf den Rücken. »Du hast immer noch ein paar Tage Urlaub, bleib also zu Hause und lass es ruhig angehen.«

Olivia sah in den Spiegel, als ihr plötzlich etwas einfiel. »Ich muss ins Büro zurück, um meine Handtasche zu holen.«

»Das mache ich schon. Warte hier.« Yasmine trat an die Tür und blieb dort noch einmal stehen. »Oh, das hätte ich fast vergessen. Hier ist dein Paket.« Sie reichte es weiter und verschwand.

Als sie den Absender las, setzte ihr Herzschlag einen Moment lang aus. Es war aus Grikos. Ihre Finger zitterten, als sie die klebrige Lasche des übergroßen Luftpolsterumschlags aufriss. Drinnen entdeckte sie cremeweiße Wolle. Ihr Pullover.

Sie hatte ihn in Robbys Haus gelassen.

Sie ließ den Umschlag auf den Waschtisch zwischen die zwei Becken fallen und trat einen Schritt zurück. Erinnerungen an jene Nacht brachen über sie herein. Sie hatte nackt neben ihm gelegen, hatte sich von ihm überall berühren und küssen lassen. Sie hatte so viel Liebe und Begehren für ihn empfunden, dass sie bereit gewesen war, ihm ihre Unschuld zu schenken.

Ihr Herz schlug so schmerzhaft gegen ihre Brust, dass sie sich zusammenkrümmte. Wie konnte sie sich so schnell in einen vollkommen Fremden verlieben? Sie hätte auf ihre Instinkte hören und von diesem Mann, von dem sie nichts wusste, weit fernbleiben sollen.

Yasmine kam zurück in den Waschraum. »Du meine Güte, ist alles in Ordnung?« Sie ließ Olivias Handtasche auf den Boden fallen und eilte an ihre Seite.

Olivia atmete tief ein und deutete auf das Päckchen. »Da ist ein Pullover drin. Möchtest du ihn haben?« Sie und Yasmine hatten ungefähr die gleiche Größe.

»Bist du sicher?« Yasmine nahm den Pullover aus dem Umschlag. »Der ist wirklich schön.«

»Nimm ihn. Bitte.«

»Ist der von ihm? Er hat einen guten Geschmack.«

»Er hat mir gehört. Ich will ihn nie wieder sehen.«

»Na dann, okay.« Yasmine spähte in das Päckchen. »Da ist noch etwas. Eine Nachricht.« Sie zog einen kleinen Umschlag heraus. »Da steht dein Name drauf.«

Olivias Hand zitterte, als sie den Umschlag nahm und die kräftige, männliche Schrift darauf sah. Robby. Liebe stieg in ihr auf, als würde sie sich immer noch hoffnungslos an einen Traum klammern, der sich als Täuschung entpuppt hatte. Ehe sie schwach werden konnte, riss sie den Umschlag in zwei Teile, warf die Teile in die Toilette und zog die Spülung.

»Na so was.« Yasmine staunte. »So schlimm?«

Es war Olivia nicht möglich, die Tränen noch weiter zurückzuhalten. »Es ist sehr schlimm. Schlimmer geht es nicht.«

»Du hast einen Besseren verdient.«

Wahrscheinlich hatte ihre Kollegin recht, aber insgeheim glaubte sie noch immer, dass es keinen besseren als Robby geben konnte. Kein Mann wäre je in der Lage, ihr Herz so zu berühren, wie Robby es getan hatte.

Kein Wunder, dass es so schrecklich wehtat.