22. KAPITEL

 

Olivia atmete tief durch und zog ihre Automatikpistole aus dem Halfter an ihrer Hüfte. »Zwei gegen zwei«, flüsterte J. L. »Lass uns herausfinden, wer diese Typen sind.« Er ging ihr die Treppe hinab voraus.

Das Treppenhaus war dunkel, aber sie wagten nicht, ihre Taschenlampen anzuschalten. Sie schlichen sich bis in das Wohnzimmer an der Front des Hauses und spähten dort aus den Fenstern.

J. L. zeigte auf etwas und legte dann seinen Finger auf die Lippen.

Sie brauchte seine Warnung nicht, um sich ruhig zu verhalten. Die zwei Männer befanden sich jetzt im Vorgarten. Sie konnte die beiden im Licht der Außenbeleuchtung gut erkennen, und keiner von beiden war Robby. Die Haarfarbe des Mannes im rot-grünen Kilt war intensiver rot. Der im blaugrünen Kilt sah Robby sehr ähnlich und hatte die gleiche kastanienbraune Haarfarbe.

J. L. berührte seinen Rücken, dann seine rechte Wade, um ihr zu zeigen, dass die beiden Schwerter auf dem Rücken und Messer in ihrem rechten Strumpf trugen. Ein schlechtes Zeichen, wenn im Nebenzimmer Leichen mit aufgeschlitzten Kehlen lagen.

Sie wünschte sich, Barker würde zurückkommen. Bei drei gegen zwei würde sie sich gleich sicherer fühlen.

Die Fremden zogen ihre Handys aus ihren Sporrans und schienen zu telefonieren. Plötzlich tauchte ein Mann neben ihnen im Vorgarten auf. Olivia legte eine Hand auf den Mund, um nicht vor Schreck laut aufzuschreien. Sie blinzelte, weil sie ihren eigenen Augen nicht traute. Dann tauchte ein weiterer Mann auf. Und noch einer.

Es wurden immer mehr Menschen, und alle waren mit Schwertern und Pistolen bewaffnet. Eine Frau war auch dabei und noch mehr Männer in Kilts.

J. L. packte sie am Arm und deutete mit dem Kopf in Richtung Tür. Sie folgte ihm leise durch das Wohnzimmer in die Küche. Ihr Herz klopfte laut. Im selben Augenblick, als sie aus der Hintertür schlüpften, hörten sie, wie die Eingangstür sich öffnete.

Ohne sich noch einmal umzusehen, rannten sie ins Maisfeld. Sofort schloss sich ein grünes Meer aus Pflanzen um sie. Es wurde so dunkel, dass sie kaum noch den Umriss von J. L. erkennen konnte. Sie prallte gegen ihn, als er plötzlich stehen blieb. Er griff sie an den Unterarmen und zog sie mit sich hinab, bis sie beide hockten. Sie konnte seinen schnellen Atem hören und spürte seine Aufregung.

»Diese Typen sind einfach aus dem Nichts erschienen, wie in einem Science-Fiction-Film«, flüsterte er. »Was sind das - Aliens?«

»Ich glaube nicht, dass Aliens Kilts tragen.«

»Du hast recht. Und sie sind mit Lasern bewaffnet, nicht mit Schwertern.«

»Ich fasse nicht, worüber wir uns hier unterhalten.«

»Was auch immer sie sind, sie sind in der Überzahl.«

»Und sie haben Schwerter, Messer und Schusswaffen.« Olivia konnte das alles nicht glauben.

»Könnte schlimmer sein. Sie könnten auch Maschinengewehre und Bazookas dabeihaben.«

»Danke. Es geht mir gleich viel besser.«

»Tut mir leid.« Er verstummte.

Sie warf einen Blick zurück auf die Farm. Nur das erste Stockwerk war noch erkennbar. Dort flackerten Lichter in den Fenstern. Was machten sie dort? Suchten sie nach etwas?

Um die Gefühle dieser... Lebewesen zu empfangen, öffnete sie ihre Sinne. Nichts. Sie waren vollkommen leer. Genau wie Robby.

»Mein erster Vorname ist Jin«, flüsterte J. L.

Sollte das heißen, er fürchtete, sie würden diese Nacht nicht überleben? »Das ist doch ein schöner Name.«

»Nicht wenn alle in der Schule dich Jennifer nennen.«

»Oh. Das tut mir leid.«

»Das L steht für Long.«

»Jin Long... Wang.« Sie lächelte. »Klingt sehr männlich.«

»Jetzt weiß du, warum ich mich J. L. nennen lasse. Aber es könnte noch schlimmer sein. Sie haben meinen Bruder L. H. getauft - Lo Hung Wang.«

Selbst in dieser Situation brachte J. L. sie zum Lachen. Olivia legte eine Hand auf ihren Mund, um sie nicht zu verraten.

Seine Zähne blitzten weiß in der Dunkelheit auf, als er grinste. »Das habe ich mir nur ausgedacht. Ich habe keinen Bruder. Aber das hast du wahrscheinlich selbst gemerkt.«

»Also, der Plan lautet wie folgt«, fuhr er fort. »Wir schleichen uns durch den Mais so nahe an unseren Wagen heran, wie es geht. Dann rennen wir hin, fahren in die Stadt und holen den Sheriff und Harrison. Und wir rufen Verstärkung.«

»Was ist mit Barker?«

»Den müssen wir noch finden. Los.«

So leise wie möglich schlichen sie sich durch den Mais. Sie befanden sich gerade hinter dem ersten Haus, als J. L. plötzlich stehen blieb und eine Hand nach ihr ausstreckte, um sie aufzuhalten. Er legte einen Finger auf die Lippen und warnte sie damit, still zu sein. Sie verhielt sich vollkommen ruhig. Dann hörte sie es. Ein Rascheln im Mais.

Sie waren nicht allein.

Auf der Stelle drehte sie sich blitzschnell herum und lauschte, woher das Geräusch kam. Dann sah sie, wie einige Pflanzen sich bewegten. Wer auch immer es war, er bewegte sich direkt auf sie zu.

J. L. hob seine Waffe.

Der Mais vor ihnen raschelte, und ein Hund kam auf sie zu.

Olivias Knie gaben vor Erleichterung nach.

J. L. steckte seine Waffe wieder ein. »Guter Hund«, flüsterte er.

Es war ein riesiger Hund. Ein irischer Wolfshund mit schlaksigen Beinen und einem langen dünnen Gesicht. Er setzte sich auf seine Hinterläufe und sah die zwei Menschen vor sich neugierig an.

Sie hob langsam eine Hand, um ihn daran schnüffeln zu lassen, und tätschelte ihm dann den Kopf. »Du bist vielleicht ein großer Junge.«

Der Hund schien zu grinsen.

Komisch, dass sie sich mit dem Hund an ihrer Seite plötzlich sicherer fühlte.

»Gehen wir.« J. L. ging durch den Mais voran, und Olivia und der Wolfshund folgten. Sie gingen an der Farm vorbei und wagten sich in das Feld vor, das bis an die unbefestigte Straße reichte. Sie blieben stehen, als sie den Wagen etwa dreißig Meter von sich entfernt in der Auffahrt entdeckten.

»Du wartest hier.« J. L. reichte Olivia die Wagenschlüssel. »Ich suche nach Barker. Wenn wir in fünfzehn Minuten nicht wieder hier sind, fährst du.«

»Ich gehe nicht ohne dich.«

»Liv, wir sind in der Unterzahl. Du kannst den Sheriff und Harrison herholen, und dazu auch gleich ein paar Streifenpolizisten. Okay?«

Erst zögerte sie, doch dann nickte Olivia. »Okay.«

J. L. eilte davon, und der irische Wolfshund trottete neben ihm her. Olivia war froh, dass J. L. nicht allein war.

Sie setzte sich zwischen zwei Reihen Mais auf den Boden und drückte einen Knopf an ihrer Uhr, der das Licht der Digitalanzeige aufleuchten ließ. Vor ihr lagen fünfzehn lange und einsame Minuten.

Sie atmete tief durch, um ihr rasendes Herz zu beruhigen. Erst überlegte sie sich, Harrison auf seinem Handy anzurufen, aber das hatte keinen Zweck, wenn er es abgestellt hatte. Warum war er gefahren, nachdem er mit diesen Männern gesprochen hatte? Hatten sie ihm gesagt, er solle sein Handy ausschalten? Sie überlegte sich, Robby anzurufen, aber er war weit weg in New York. Es würde Stunden dauern, bis er bei ihr war.

Nach einigen Minuten kroch sie nahe an den Rand des Maisfeldes. Sie entdeckte die Männer, die kurz zuvor aufgetaucht waren. Sie hatten sich in kleinere Gruppen aufgeteilt und schienen nach etwas zu suchen. Die meisten von ihnen befanden sich in der Nähe der Scheunen. Als einer von ihnen einen Keller entdeckte, versammelten sie sich darum und gingen hinein.

Solange die meisten von ihnen sich im Keller aufhielten, war es ungefährlicher, zum Wagen zu rennen. Sie sah auf ihre Uhr. Vierzehn Minuten waren vergangen. Trotzdem zögerte sie, J. L. und Barker alleinzulassen. Andererseits konnte sie ihnen mehr helfen, indem sie Verstärkung mitbrachte.

Es war zum Verzweifeln. Schon wieder analysierte sie zu viel.

In der Ferne ertönte ein Motor. Jemand näherte sich ihnen mit hoher Geschwindigkeit. Vielleicht kamen Harrison und der Sheriff zurück? Sie eilte eine der Maisreihen hinab, bis sie an der Straße angekommen war. Ein schwarzer Sedan, der aussah wie ein Regierungsfahrzeug, hielt gerade. Drei Leute stiegen aus - ein Mann mittleren Alters, ein junger Mann und eine junge Frau. Die Männer waren angespannt und voller Adrenalin. Die Frau schien zögerlich und ängstlich.

Der Mann mittleren Alters bellte ein paar Befehle. »Garrett, übernehmen Sie die Häuser links. Ich gehe nach rechts. Alyssa, Sie sehen sich auf dem Gelände um.«

Garrett schaltete seine Taschenlampe ein und sah sich um. »Ich kann Connor nirgendwo sehen.«

»Er ist hier«, knurrte der ältere Mann. »Und er ist nicht allein.«

»Ich begreife nicht, wieso wir die dazuholen mussten.«

»Sie sind besser darin, Malcontents umzubringen, als wir.«

Der ältere Mann sah die junge Frau eindringlich an. »Wenn Sie einen von denen sehen, halten Sie sich fern. Und immer die Mauern um Ihre Gedanken aufrechterhalten. Besonders Sie, Alyssa. Junge Frauen sind ihre liebsten Opfer.«

»Ich weiß.«

Die junge Frau tat Olivia leid. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Garrett war aufgeregt, das spürte Olivia. Er sprintete auf die rechten Häuser zu, während sich der ältere Mann nach links wendete. Er hatte Malcontents erwähnt. War das eine Gang? Waren sie es, die die Morde begangen hatten? Und was sollte das mit den gedanklichen Mauern?

Alyssa blieb nahe am Wagen und schwenkte ihre Taschenlampe hin und her. »Toll«, murmelte sie. »Du bleibst einfach hier, mit ein paar mordlüsternen Malcontents in der Nähe.«

Es gab nur eine Möglichkeit, herauszufinden, wer diese Leute waren. Also trat Olivia aus dem Maisfeld und ging langsam auf die Frau zu. »Alyssa?«

Die Frau kreischte und ließ ihre Taschenlampe fallen.

»Es tut mir leid.« Olivia streckte ihre Hände aus, damit die Frau sehen konnte, dass sie leer waren. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«

Alyssa zog ihre Waffe. »Woher kennen Sie meinen Namen? Sind Sie einer von denen? Haben Sie meine Gedanken gelesen?«

Olivia hob ihre Hände noch höher. »Ich habe Ihr Gespräch mit den Männern mitgehört, da ist Ihr Name gefallen. Ich gehöre zum FBI. Wollen Sie meinen Ausweis sehen?«

»Vom FBI? Sie sind nicht einer von denen?«

»Wer sind die?« Olivia nahm an, sie sprach von den Männern, die sich teleportiert zu haben schienen. »Sind das die Malcontents?«

»Alyssa?« Der ältere der Männer kam zurückgerannt. »Ich habe Sie schreien hören.« Er entdeckte Olivia und zog seine Waffe. »Wer zum Teufel sind Sie?«

Jetzt war es zu spät, um zu verschwinden. Sie hätte im Mais versteckt bleiben sollen. »Ich bin Olivia Sotiris, FBI. Und Sie sind...?«

»CIA.« Er kam näher. »Zeigen Sie mir Ihren Ausweis.«

Das tat sie. Sie blinzelte, als er mit der Taschenlampe in ihr Gesicht leuchtete.

»Ms Sotiris, was machen Sie hier?«

Was glaubte er denn? Dass sie ein Picknick veranstaltete? »Ich ermittle in einem Fall von mehrfachem Mord. Darf ich auch Ihren Ausweis sehen, bitte?«

»Ich habe keine Zeit für so einen Blödsinn.« Er steckte seine Waffe ein. »Wir übernehmen die Ermittlungen hier, Ms Sotiris. Sie können gehen.«

Sein Verhalten ging ihr ernsthaft auf die Nerven. »Das hier ist eine Sache des FBI. Der Sheriff hat unsere Hilfe angefordert.«

»Ist mir egal«, fuhr der Mann sie an. »Verschwinden Sie, verdammt noch mal.«

»Ich nehme keine Befehle von Ihnen entgegen, Mister...?«

»Whelan.« Er trat näher auf sie zu. »Und Sie tun, was ich sage. Wir sind eine Spezialeinheit des Präsidenten, die für diese Mission zusammenberufen worden ist, Sie sind hier also nicht zuständig.«

Stolz hob Olivia ihr Kinn. »Ich schlage vor, dass Sie die Situation noch einmal überdenken. Sie könnten unsere Hilfe gebrauchen. Sie sind nur zu dritt, und hier befinden sich etwa ein Dutzend... was auch immer die sein mögen.«

Alyssa atmete tief ein. »Haben Sie welche gesehen?«

»Wenn Sie damit die Männer meinen, die wie durch Zauberhand dort im Vorgarten aufgetaucht sind, dann ja. Sie sind schwer bewaffnet, mit Schwertern und Schusswaffen.«

»Haben die Sie gesehen?«, fragte der Mann von der CIA.

Whelan, hatte er gesagt. Irgendwie kam ihr der Name bekannt vor. »Nein«, antwortete Olivia. »Wer ist das? Haben sie die Morde begangen?«

Whelan war ziemlich genervt, fand Olivia. »Nein, sie sind auf der Jagd nach den Mördern. Aber machen Sie nicht den Fehler, zu glauben, die seien unschuldig. Tun Sie sich selbst einen Gefallen und verschwinden Sie, ehe die Sie zu Gesicht bekommen.«

»Ich kann helfen...«

»Vergessen Sie es, Ms Sotiris. Gegen die haben Sie keine Chance. Sie übernehmen Ihren Verstand und lassen Sie tun, was immer sie wollen.«

Sie schluckte. War es das, was mit Harrison und dem Sheriff geschehen war?

»Sie sind gefährlich«, flüsterte Alyssa. »Wir haben zwei Mitglieder unseres Teams ihretwegen verloren.«

Olivia zuckte zusammen. Kein Wunder, dass diese Frau so verängstigt war. »Mein Beileid.«

»Oh, man hat sie nicht umgebracht«, sagte Alyssa. »Sie sind nur... nicht mehr.«

Olivia lief ein Schauer über den Rücken.

»Reißen Sie sich zusammen, Alyssa. Und Sie, Ms Sotiris, haben genug von meiner Zeit verschwendet.«

Olivia stolperte einen Schritt zurück, als etwas Heißes sie an der Stirn streifte, ihre Gedanken vernebelte, und plötzlich überkam sie ein starker Drang, zu verschwinden. »Ich muss gehen.« Sie ging die Straße hinab zur Auffahrt.

Was machte sie da? Sie warf einen Blick hinter sich und sah, dass Whelan und Alyssa ihr folgten.

Geh weiter. Verschwinde von hier.

Das war doch nicht ihre eigene Entscheidung. Sie schüttelte den Kopf.

Geh zu deinem Wagen und verschwinde. Sofort.

Apathisch bog sie in die Auffahrt ein. Verdammt, was war los mit ihr? Sie ging immer weiter auf den Wagen von J. L. zu. Als ihr Blick auf das Maisfeld fiel, wünschte sie sich, er und Barker würden daraus auftauchen. In der anderen Richtung entdeckte sie die geheimnisvollen Männer, die aus dem Nichts aufgetaucht waren. Sie waren gerade dabei, die Scheunen und den Keller zu verlassen. Und diese Männer kamen auf sie zu.

Es war wohl besser, wieder ins Maisfeld zu verschwinden, damit man sie nicht entdeckte.

Nein. Geh zum Wagen. Verschwinde sofort.

Ihre Schritte wendeten sich wieder dem Wagen zu. Verdammt! Was machte sie da? Sie fühlte sich so verletzlich.

Sobald sie J. L.s Wagenschlüssel aus der Tasche gezogen hatte, drückte sie auf die Entriegelung. Die Scheinwerfer des Wagens blitzten auf. Sie zuckte zusammen. Jetzt mussten diese Typen sie auf jeden Fall gesehen haben.

Beeil dich. Verschwinde.

Sie ging auf die Fahrerseite des Wagens zu.

»Olivia?«, rief jemand.

Sie erstarrte. Robby? Sie drehte sich um und sah, wie sich ein Mann aus der Gruppe, die aus dem Nichts erschienen war, löste. Er sprintete auf sie zu und geriet dabei in die Außenbeleuchtung des zweiten Hauses.

»Robby«, flüsterte sie. Er war es wirklich. Er trug einen Kilt, der ihm um die Knie streifte, und kam auf sie zugerannt.

»Ms Sotiris, verschwinden Sie sofort!«, rief Whelan.

Sie sah, wie der Mann von der CIA und Alyssa die Auffahrt hinaufkamen. Whelan war es, der sie dazu brachte, zu gehen. Irgendwie gelang es ihm, seine Befehle in ihren Kopf zu projizieren.

Ein Schwall heißer Luft brannte an ihrer Stirn, und sie zuckte zusammen.

Steig ins Auto und verschwinde.

Sie streckte die Hand nach dem Türgriff aus.

»Olivia!«, rief Robby.

Als Robby plötzlich neben ihr war, hielt Olivia inne.

»Olivia.« Er berührte ihren Arm. »Was machst du hier?«

»Ich muss verschwinden.«

Er sah sie eindringlich an. »Ist alles in Ordnung?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss verschwinden.«

»Halten Sie sich fern von ihr, MacKay!«, brüllte Whelan.

Robby warf dem Mann von der CIA einen wütenden Blick zu. »Lassen Sie sie los. Sie haben kein Recht, sie zu kontrollieren.«

»Lieber ich als Sie. Kennen Sie diese Frau?«

»Aye. Lassen Sie sie sofort gehen, sonst schreite ich ein.«

»Schon gut. Aber lassen Sie sie in Ruhe.« Whelan wendete sich ab.

»Ich werde ihr nichts tun.« Robby blickte den Mann grimmig an.

»Sicher. Genau, wie niemand Shanna und Emma etwas getan hat.«

Ein heißer Wind wehte durch Olivias Gedanken. Sie schwankte. Ihre Schlüssel fielen auf den Boden.

Robby griff nach ihrem Unterarm und half ihr, die Balance wiederzufinden. »Ist jetzt alles in Ordnung?«

»Robby.« Sie schlang ihm die Arme um den Hals. »Gott sei Dank bist du hier.« Sie warf dem Mann von der CIA einen wütenden Blick zu. »Er hat versucht, mich zu kontrollieren.«

»Dummes Stück!«, rief Whelan. »Ich habe versucht, Sie zu beschützen.«

Robby zog sie fest an sich. »Ist schon gut, Liebes.«

»Mist«, murmelte Whelan. »Noch eine kompromittierte Frau.«

»Er scheint sich wirklich etwas aus ihr zu machen.« Alyssa beobachtete das Pärchen fasziniert.

Whelan warf ihr einen misstrauischen Blick zu. »Gehen Sie zurück zum Wagen und warten Sie dort auf uns.«

Während Alyssa sich entfernte, verschränkte Whelan seine Arme und starrte Robby finster an. »Warum könnt ihr Bastarde euch nicht an eurer eigenen Art vergreifen?«

Robby rieb Olivia langsam über den Rücken. »Kümmern Sie sich um Ihre Arbeit, Whelan, und lassen Sie uns in Ruhe.«

Whelan. Jetzt erinnerte Olivia sich, wo sie den Namen gehört hatte. Robby hatte ihn auf Patmos erwähnt. Während ihre Gedanken langsam aus dem Nebel von Whelans Kontrolle auftauchten, wurde ihr klar, dass Robby einer der Männer gewesen sein musste, die aus dem Nichts erschienen waren.

Sie trat einen Schritt zurück und löste sich aus seinen Armen. »Was ist hier los, Robby? Was machst du hier?«

»Na toll«, knurrte Whelan, »jetzt fängt sie an, sich Gedanken zu machen. Ein wenig zu spät.«

Der Blick, den Robby dem CIA-Mann zuwarf, war vernichtend, doch dann wendete er sich wieder Olivia zu. »Du weißt, dass ich für eine Agentur arbeite, die sich auf Ermittlungsarbeiten spezialisiert hat. Wir arbeiten an diesem Fall mit der CIA zusammen.«

»Das ist die beschönigte Fassung.«

Robby funkelte ihn wütend an. »Sie haben Connor vor einer Stunde angerufen. Sie waren es, der wollte, dass wir zuerst hierherkommen.«

»Ich dachte, die Malcontents könnten noch hier sein.« Whelan schaute ihn fragend an. »Sind sie?«

Robby schüttelte den Kopf. »Sie sind bereits verschwunden.«

»Wer sind die Malcontents?«, fragte Olivia. »Und wie konntest du wie durch Zauberhand einfach im Vorgarten erscheinen?«

Robby erstarrte.

»Erklären Sie das Ihrer kleinen Freundin.«

Für Robby wurde es jetzt eng. »Die Malcontents sind die Terroristen, von denen ich dir erzählt habe.«

»Die dich gefoltert haben?«, fragte sie.

»Aye. Wir glauben, dass sie für die Morde an diesen Menschen verantwortlich sind.«

»Hören Sie auf, die Wahrheit zu beschönigen«, fuhr Whelan ihn an. »Man hat diesen Leuten das Blut bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt und ihnen dann die Kehlen durchgeschnitten, um die Bissspuren zu verbergen.«

Olivia trat zurück und prallte dabei gegen den Wagen. »Bissspuren?«

»Haben Sie bei den Opfern Blut gefunden?«, fragte Whelan.

Sie schüttelte den Kopf.

»Whelan, das reicht.« Robby warf ihm einen warnenden Blick zu. »Ich muss mich unter vier Augen mit ihr unterhalten.«

»Haben Sie es ihr noch nicht gesagt?« Whelan schnaufte. »Typisch. Ihr Bastarde seid nie ehrlich, wenn es um euch selber geht.«

Olivia musste schlucken. So wenig sie Whelan auch mochte, wahrscheinlich sagte er die Wahrheit. Robby war aus dem Nichts aufgetaucht. Und dann gab es da noch andere Dinge wie rot glühende Augen und dass er ihr Apartment verlassen konnte, ohne die Tür aufzuschließen. Mit einem Ruck wurde ihr klar, dass er wahrscheinlich einfach verschwunden war. »Was... was bist du?«

Wie ein Schleier legte sich die Traurigkeit über Robbys Augen. »Ich wollte es dir erzählen. Morgen Nacht.«

»Vampire!«, platzte es Whelan heraus.

Ungläubig blinzelte Olivia. »Was?«

»Vampire.« Whelan sah zufrieden aus.

Robbys grüne Augen funkelten, als er Whelan wütend anstarrte. »Verdammt noch mal, gehen Sie und lassen Sie mich die Sache erledigen.«

In Olivias Nacken breitete sich ein kaltes Kribbeln aus. »So etwas wie Vampire gibt es nicht.«

»Denken Sie nach, Ms Sotiris«, sagte Whelan. »Man hat den Opfern erst alles Blut ausgesaugt und ihnen dann die Kehlen durchgeschnitten. Man hat sie mit der Gedankenkontrolle der Vampire manipuliert. Deshalb gibt es keine Anzeichen darauf, dass sie sich gewehrt haben. Sie haben sich nicht gewehrt, weil sie vollkommen unter fremder Kontrolle standen.«

Gedankenkontrolle der Vampire? Sie wollte nicht daran glauben, dass Vampire wirklich existierten, aber Whelans Beschreibung des Tatorts war zu exakt. Warum sollte jemand einem Menschen das Blut aussaugen? Es sei denn, man brauchte es, um zu überleben. »Woher wissen Sie, wie der Tatort aussieht? Sie waren nicht im Haus.«

Whelan zuckte mit den Schultern. »Ich habe so etwas schon oft gesehen. Es handelt sich immer um die gleiche Vorgehensweise.«

Dann drehte sich Olivia zu Robby um. Er widersprach nicht, sondern sah sie einfach mit besorgter Miene an. »Ist das wahr? Gibt es Vampire wirklich?«

Er nickte. »Einige von ihnen sind böse, aber es gibt auch gute.«

Das war Wahnsinn. Sie konnte genauso gut anfangen, an Kobolde und Elfen zu glauben. Vampire. Blutsauger. Sie hatten ihren Opfern die Kehle durchgeschnitten, um ihre Bissspuren zu verbergen. Das bedeutete Fangzähne. Ein kalter Schauer durchfuhr sie. Vampirische Gedankenkontrolle.

Plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie sah Whelan an. »Sie haben meine Gedanken kontrolliert.« Sie trat näher an Robby heran, und er legte einen Arm um ihre Schultern.

Whelan verdrehte die Augen. »Ach kommen Sie. Ich bin hier nicht der Vampir. Ich bin derjenige, der Ihnen die Wahrheit gesagt hat.«

»Lassen Sie uns allein. Ich will es ihr erklären.«

»Sie wollen die Kleine nur kontrollieren und dafür sorgen, dass sie bei Ihnen bleibt, genau wie dieser Roman es mit meiner Tochter macht.«

Olivia wurde immer kälter, während verschiedene Erinnerungen in ihr aufblitzten. Rot glühende Augen. Bissspuren in ihrem Kissen. Robby hatte nie tagsüber auf ihre E-Mails geantwortet und war nie ans Telefon gegangen. Sie hatte ihn noch nie am Tag gesehen. Hatte nie gesehen, wie er etwas aß oder trank. Und sie konnte seine Gefühle nicht lesen.

Erst jetzt wurde ihr die Tragweite des Ganzen bewusst. »Nein«, flüsterte sie. »Nein.«

»Olivia, ich kann es dir erklären.«

»Kannst du es leugnen? Kannst du mir sagen, du bist kein...« Sie konnte es nicht einmal aussprechen.

»Du weißt, dass ich dich liebe.«

Kopfschüttelnd wich sie vor ihm zurück. Er leugnete es nicht. Sie konnte es nicht fassen. Er leugnete es nicht.

»Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten. Wir können über alles reden.«

Ein seltsamer Aufschrei irgendwo zwischen Unglaube und Verzweiflung kam aus ihrer Kehle. Das war die wichtige Sache gewesen, die er ihr erzählen wollte.

Sie warf einen Blick zur Seite. Die Leute, die mit ihm aufgetaucht waren, hatten sich am Straßenrand versammelt. Sie hielten sich im Hintergrund und taten so, als würden sie nicht zusehen, aber sie warfen ihr und Robby besorgte Blicke zu und funkelten Whelan wütend an.

Vampire. Das waren alles Vampire. Die Mörder waren Vampire. Und Robby auch.

»Nein!« Sie drehte sich um und rannte ins Maisfeld davon. Grüne Blätter rauschten um sie herum. Sie schlug sie zur Seite und rannte weiter. Vampire? Nein. Das war lächerlich. Es war verrückt.

Es ergab einen Sinn.

Es erklärte alles.

Wie besessen raste sie durch das Feld hinter den Häusern. Sie brauchte J. L. und Barker. Sie brauchte echte Menschen.

»Olivia, was ist los?«

»J. L.!« Voller Freude rannte sie auf ihn zu.

Neben ihm stand auch Barker.

»Oh, Gott sei Dank. Es geht euch beiden gut.« Sie rannte J. L. in die Arme und umarmte ihn fest.

»Wir waren gerade auf dem Weg zu dir. Ist alles in Ordnung?«

»Nein.« Sie trat einen Schritt zurück. Ihr Atem ging noch schwer, nachdem sie so schnell gelaufen war. Und vor Schreck. »Du wirst das alles nicht glauben. Es ist... einfach unglaublich.«

»Du hast es herausgefunden?«, fragte J. L.

»Ja.« Sie presste eine Hand auf ihre Brust.

»Wow«, murmelte J. L. »Ich hatte keine Ahnung, bis Barker mich zu seinen Klamotten zurückgeführt hat.«

»Was?«

»Dann weißt du es nicht?« J. L. sah ihren Vorgesetzten an. »Vielleicht sollten Sie es ihr sagen.«

»Was?«, wiederholte Olivia.

Barker seufzte. »Ich bin ein Formwandler.«

»Was?«

»Ich war der irische Wolfshund. Ich habe mich verwandelt, um die Kinder aufzuspüren, aber ich konnte ihren Geruch nirgends entdecken.«

Das alles war doch nur ein Traum, dachte Olivia und starrte ihn an. »Nein.«

»Doch.«

Sie trat einen Schritt zurück. »Nein.« Ihr Freund hatte Fangzähne, und ihr Boss war ein Hund? Die ganze Welt stand kopf. Wo waren all die normalen Menschen hin? Die normalen Menschen lagen tot im Wohnzimmer.

Dann warf Olivia J. L. einen misstrauischen Blick zu. »Und was bist du? Verwandelst du dich auch in ein Tier?«

»Schön wär's. Ich wäre bestimmt ein Drache. Das wäre cool.«

»Nein. Nicht cool.« Plötzlich ertönte hinter ihr ein Rascheln.

»Olivia?« Robby rief nach ihr.

Lieber Gott, nein. Er war hinter ihr her.

»Ist das Robby?«, fragte J. L. »Was macht der denn hier?«

»Vampire«, flüsterte sie. »Das sind alles Vampire.«

»Heiliger Strohsack.« Jetzt war es an Barker, verstört zu sein.

Das muss der Hund gerade sagen, dachte sie schwach. Doch dann fingen die grünen Maispflanzen an, sich um sie herumzudrehen, und sie sah tanzende Sterne.

»Olivia.«

Sie fiel rückwärts um, und Barker fing sie auf. Aber sie machte sich von ihm los, im selben Augenblick, als auch Robby versuchte, nach ihr zu greifen. Lieber Gott, nein. Sie war zwischen einem Vampir und einem menschlichen Hund gefangen. Das Maisfeld begann zu schwanken, und alles um sie herum wurde schwarz.