19. KAPITEL

 

Schwerer konnte das Leben nicht werden. Robby raste die Treppe hinab und auf den Parkplatz hinaus, wo er zwischen den Büschen eine kleine Kühltasche versteckt hatte. Er riss eine Flasche synthetisches Blut aus dem Eis und drehte den Verschluss auf.

Damit ihn der Hunger nicht überfiel, hatte er zwei Flaschen synthetisches Blut getrunken, ehe er sich zu Olivia teleportierte, aber wie sollte er damit rechnen, so viel Zeit mit seinem Mund an ihrem Hals zu verbringen, wo ihre Halsschlagader nur wenige Millimeter von seinen Fangzähnen entfernt pochte?

Voller Gier saugte er die Flasche leer. Gott sei Dank hatte er sich diesen Notvorrat mitgebracht. Dass sie noch Jungfrau war, hatte er nicht erwartet. Vor Jahren, als er noch beißen musste, um zu überleben, hatte er gelernt, wie man den Schmerz des Bisses stillte und das Erlebnis für den Blutspender angenehm gestaltete. Heute Nacht hatte er dieselbe Technik angewendet, um Olivias Schmerz zu stillen und ihr noch mehr Vergnügen zu bereiten, aber er hatte einen hohen Preis dafür gezahlt.

Es hatte ihn fast umgebracht, sie nicht zu beißen. Und der Kampf war damit nicht vorbei gewesen. Er musste auch noch dafür sorgen, dass der Sex gut war.

Nachdem er seinen Durst gestillt hatte, ging er auf dem Parkplatz umher und suchte nach verdächtigen Dingen. Die geparkten Autos waren leer. Er betrachtete das Gebäude. Wenn ein Sterblicher sich in den Schatten versteckte, würde Robby seinen Herzschlag hören. Nichts.

Er ging zur Mülltonne und warf die leere Flasche hinein. In der Kühltasche befand sich noch eine weitere Flasche. Vielleicht brauchte er sie, ehe die Nacht vorüber war.

Mit der Hand fuhr er sich durch die Haare und schob die Strähnen zurück, die sich während ihres Liebesspiels gelöst hatten. Eine Jungfrau. Das hatte er nicht erwartet. Und er hatte ihre Unschuld genommen.

Es war falsch gewesen. Jetzt fiel es ihm noch schwerer, ihr die Wahrheit zu sagen. Keine Frau wollte hören, dass sie ihre Unschuld an eine Kreatur der Nacht verloren hatte.

Zweifellos wollte sie ein normales Leben führen. Sie würde mit ihrem Ehemann tagsüber normalen Aktivitäten nachgehen und normale Kinder gebären wollen. Robby konnte ihr das niemals bieten. Er hätte ehrlich mit ihr sein sollen, ehe er mit ihr ins Bett gegangen war.

Aber verdammt noch mal, welche Wahl hatte sie ihm denn gelassen? Er hatte sie davon abhalten müssen, sich einem Wildfremden an den Hals zu werfen. Und er hatte sein Bestes getan, um ihr mit so wenig Schmerz und so viel Lust wie möglich die Unschuld zu nehmen.

Hör endlich auf, dich selbst zu belügen. Er hatte es gewollt. Er hatte Olivia gewollt, seit er sie in der ersten Nacht auf Patmos erblickt hatte. Er konnte so tun, als bereute er es, sich unehrenhaft verhalten zu haben, aber in Wahrheit hatte er nur genau das getan, was er tun wollte. Er liebte sie, und er war bereit, um sie zu kämpfen.

Alles war in Ordnung draußen. Zeit für die zweite Runde.

****

Das Klingeln des Telefons riss Olivia aus ihrem tiefen Schlaf. Sie drehte sich um und zuckte zusammen. Ihr taten Muskeln weh, von denen sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierten. Sie blinzelte gegen das Sonnenlicht an, das durch die Ränder ihrer geschlossenen Jalousien fiel. Der Radiowecker auf ihrem Nachttisch zeigte 10:16 Uhr an. Liebe Güte, hatte sie lange geschlafen.

Aber andererseits war sie auch erst spät eingeschlafen. Sie erinnerte sich an Sex, der schon eher ein Marathon gewesen war. Ein Blick auf das Kissen neben ihr verriet, dass Robby verschwunden war. Vage erinnerte sie sich, irgendwann einen Abschiedskuss bekommen zu haben.

Das Telefon schepperte wieder, und sie tastete nach dem Hörer. »Hallo?«

»Olivia.« J. L. war am Apparat. »Gott sei Dank. Ich habe versucht, dich auf dem Handy anzurufen, und du bist nicht drangegangen.«

»Ich habe es nicht gehört. Es liegt wahrscheinlich noch im Wohnzimmer.«

»Habe ich dich geweckt?«

»Na ja... schon. Aber ich muss sowieso aufstehen.« Sie versuchte sich aufzusetzen, und die Bettdecke rutschte ihr dabei bis an die Taille hinab. Du liebe Zeit, sie war immer noch nackt. Hatte sie sich gegen zwei Uhr nachts nicht ein sexy Nachthemd angezogen? Ach ja, Robby hatte es bewundert, und dann hatte er es ihr prompt ausgezogen und Runde drei eingeläutet.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte J. L.

»Ja, mir geht es gut.« Was war der richtige Ausdruck... ordentlich durchgevögelt?

»Ich bin in etwa einer Stunde da.« J. L. legte auf.

Vorsichtig stieg Olivia aus dem Bett und stolperte ins Badezimmer. Als sie sich selbst im Spiegel erblickte, zuckte sie zusammen. Ihre Haare waren ein wildes Durcheinander, ihr Eyeliner war verschmiert, und was waren die roten Flecken an ihrem Hals? Sie sah genauer hin. Liebe Güte, riesige Knutschflecken. Einer auf jeder Seite. Sie musste wohl einen Schal umbinden.

Olivia grinste. Robby hatte sich der Rolle ihres Liebhabers mit viel Enthusiasmus angenommen.

Sie duschte ausgiebig, und ihre Gedanken wanderten wieder zur zweiten Runde. Als Robby von seinem Rundgang zurückgekommen war, kam sie gerade aus der Dusche. Er hatte ihr das Handtuch vom Leib gerissen und sie aufs Bett geworfen. Dann hatte er ihren nassen und schlüpfrigen Körper über und über mit Küssen bedeckt, sie umgedreht, um an ihrem Po zu knabbern, und sie dann wieder umgedreht, damit er zwischen ihre Beine tauchen und sie mit seiner Zunge befriedigen konnte.

Ein Höhepunkt war nicht genug gewesen. Er hatte sie an den Rand des Bettes gezogen, wo er stand, und ihre Hüften angehoben, damit er sich in ihr versenken konnte. Sie hatte nicht geglaubt, noch einmal kommen zu können, aber er hatte ihr das Gegenteil bewiesen. Mehrmals.

So ein unersättlicher Mann, dachte sie bewundernd. Sie trocknete sich nach der Dusche ab und zog neue Jeans und ein T-Shirt an. Dann fiel ihr Blick auf die fleckige Überdecke und ihre Laken. Sie würde heute noch waschen müssen.

Nachdem sie ins Wohnzimmer getapst war, fiel ihr auf, dass jemand dort aufgeräumt hatte. Ihre Handtasche und ihre Schlüssel lagen wieder auf der Ablage. Ihr Laptop und ihr Notizblock lagen aufeinandergestapelt auf ihrem Couchtisch. An ihnen lehnte eine Notiz auf gelbem Papier, auf der ihr Name geschrieben stand.

Sie setzte sich auf ihr Sofa und faltete die Notiz auf.

Guten Morgen, Olivia. Es tut mir leid, Dich so früh verlassen zu müssen. Du hast im Schlaf wunderschön ausgesehen, deshalb wollte ich Dich nicht wecken.

Ich weiß, Du hast noch Fragen. Wir müssen uns unterhalten. Bitte denk daran, egal, was passiert, ich liebe Dich. Ich werde Dich immer lieben. Ich will mein ganzes Leben lang mit Dir zusammen sein.

Robert MacKay

Mit einem Lächeln lehnte sie sich in ihre Couch zurück. Er liebte sie. Er wollte den Rest seines Lebens mit ihr verbringen. Das war perfekt, weil es ihr selbst genauso ging.

Beim zweiten Durchlesen runzelte sie die Stirn. Dieses Mal stachen die Worte »Wir müssen uns unterhalten« heraus. Worüber sollten sie sich unterhalten?

Ich weiß, Du hast noch Fragen.

Ihre Hände zitterten, als sie die Nachricht wieder zusammenfaltete. Verdammt. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Es war so viel schöner, sich selbst etwas vorzumachen. Letzte Nacht war fantastisch gewesen. Perfekt.

Aber jetzt war der Morgen danach. Sie konnte es nicht mehr verleugnen. Jedes Mal wenn sie sich geliebt hatten, leuchteten seine Augen rot. Ein gesundheitliches Problem, hatte er gesagt. So eine Krankheit gab es aber nicht.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Er hatte sie angelogen. Obwohl er wusste, wie sehr sie Unehrlichkeit hasste, hatte er sie trotzdem angelogen. Was hatte er zu verbergen?

Und wie er sie geliebt hatte, das war irgendwie ungewöhnlich. Zugegeben, sie war schrecklich unerfahren, aber trotzdem war es ungewöhnlich fantastisch gewesen. Sie wäre allerdings verrückt, sich darüber zu beschweren.

Beschweren konnte sie sich höchstens über die zwei Löcher in ihrem blauen Satinkissen.

Als sie die Notiz zurück auf den Couchtisch legte, kam ihr plötzlich ein Gedanke, der ihr das Herz höherschlagen ließ. Er hatte das Blatt Papier von ihrem Notizblock genommen, und der war voller Aufzeichnungen über ihre Jagd auf Robby. Sie griff danach und blätterte ihn durch. Er musste gesehen haben, wie schwer sie daran gearbeitet hatte, Informationen über ihn aufzutreiben. Und er wusste, dass sie überhaupt nichts gefunden hatte.

Daher weiß er, dass ich Fragen habe.

Verdammt. Sie warf den Block auf den Tisch und ging in die Küche. Was sie jetzt brauchte, war eine starke Tasse Tee. Sie blieb in der Tür zur Küche stehen. Alle abgelegten Kleider und Handtücher aus dem Schlafzimmer lagen sauber gestapelt auf ihrer Kombination aus Waschmaschine und Trockner. Die Spüle war leer. Sie sah in den Geschirrspüler und fand darin die Gläser von letzter Nacht. Selbst der Müll und die Pizzaschachtel waren nicht mehr da. Hatte Robby überhaupt irgendwann geschlafen? Er musste das alles erledigt haben, während sie sanft schlummerte.

Ein Mann, der freiwillig aufräumte? Was machte es da, dass sie noch ein paar Fragen hatte? Er war ein Traummann. Und er liebte sie. Sie liebte ihn. Was auch immer das Problem war, sie würden es gemeinsam lösen. Immerhin hatten sie auch das Problem ihrer Unschuld zufriedenstellend gelöst.

Das Wasser auf dem Herd wurde warm, und Olivia belud die Waschmaschine. Ihr Tee zog bereits, als es an der Tür klopfte.

»Olivia, ich bin es!«, rief J. L.

Sicherheitshalber spähte sie durch den Spion und drückte dann den Türgriff. Erschreckt fuhr sie zurück. Ihre Tür war abgeschlossen. Robby musste sie abgeschlossen haben, nachdem er gegangen war. Sie sah auf ihre Anrichte, wo der neue Schlüssel lag, komplett mit Anhänger. Das war... merkwürdig.

Olivia schloss auf, und J. L. kam lächelnd hereinstolziert. »Ich habe Frühstück mitgebracht.« Er zeigte ihr eine weiße Papiertüte voller Donuts.

»Bei dem Schloss, das du gestern eingebaut hast - da waren zwei Schlüssel dabei, richtig?«, fragte Olivia.

»Ja.« Er schlenderte an den Küchentisch und stellte die Tüte darauf ab.

»Wo ist der zweite Schlüssel?«

Verlegen sah J. L. sie an. »Den habe ich behalten. Nur für den Fall, dass ich irgendwann mal schnell reinkommen muss.«

Für den Fall, dass der Kumpel von Otis sie angriff oder außer Gefecht setzte. Na super. Sie warf ihrem Schlüssel auf der Anrichte einen finsteren Blick zu. Wie war es Robby gelungen, ihre Tür ohne einen Schlüssel abzuschließen?

Ich weiß, Du hast noch Fragen.

****

Am Abend stellte Olivia zur üblichen Zeit ihren Laptop und ihre Webcam auf, um sich mit Robby zu unterhalten.

Sofort tauchte er auf dem Bildschirm auf und lächelte. »Wie geht es dir, Liebes?«

Lächelnd berührte sie den Bildschirm. »Ich wünschte, du wärest bei mir. Danke, dass du aufgeräumt hast. Du musst überhaupt nicht geschlafen haben.«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin es gewohnt, nachts zu arbeiten.« Sein Lächeln wurde breiter. »Auch wenn letzte Nacht eher Vergnügen als Arbeit war.«

Ihre Wangen wärmten sich. »Du musst vollkommen erschöpft gewesen sein, als du endlich zurück in New York warst.«

»Aye. Ich habe wie ein Toter geschlafen.«

»Und heute Nacht arbeitest du wieder beim Sicherheitsdienst von Romatech?«

Er nickte. »Die Gefahr ist hier in der Nacht größer. Die Terroristen, die die Niederlassungen von Romatech angegriffen haben, schlagen immer im Dunkeln zu.«

»Was haben sie gegen Romatech?«, fragte sie. »Synthetisches Blut muss doch Tausende von Leben retten.«

»Aye, das tut es, aber diese... Leute halten nichts davon, Blut zu produzieren.« Er warf einen Blick zur Seite. »Verzieh dich, Phineas. Ich brauche keine Ratschläge mehr.«

Olivia hörte im Hintergrund Gelächter.

Dass Robby sichtlich genervt war, entging ihr nicht. »Tut mir leid. Die Jungs sind heute unerträglich.«

Das Gefühl kannte Olivia. J. L. hatte einen Würganfall vorgetäuscht, als sie die Laken in die Küche gebracht hatte, um sie in die Waschmaschine zu stecken. »Ist Phineas nicht der, der sich selbst Love Doctor nennt?«

»Aye. Er hat angeboten, mir ein Buch zu leihen, mit dem ich mich weiterbilden kann. Mit Bildern von dreißig verschiedenen Stellungen.«

Sie lachte. »Ich denke, die Hälfte haben wir letzte Nacht schon abgehakt.«

»Ich fürchte, für die andere Hälfte müssten wir beide Schlangenmenschen sein.«

»Aha. Und, was für Ratschläge hat der Love Doctor für dich?«

Das Grinsen verblasste. »Ich soll sichergehen, dass du weißt, wie sehr ich dich liebe.«

Sie berührte den Bildschirm. »Das machst du sehr gut.«

Dann legte er die Stirn in tiefe Falten. »Und ich soll dir... alles sagen.«

Jetzt wird es ernst, dachte Olivia. »Du hattest recht in deiner Nachricht. Ich habe noch Fragen.«

Er nickte, sagte aber nichts.

»Hast du mich angelogen?«

An seiner erschreckten Reaktion konnte sie ablesen, dass sie richtig getippt hatte. »Ich versuche immer ehrlich zu sein. Ich weiß, wie wichtig dir das ist. Aber manchmal...« Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Manchmal kann ich gewisse Dinge einfach nicht erklären.«

»Wie die rot glühenden Augen.«

Ein schmerzerfüllter Ausdruck flackerte über sein Gesicht. »Das werde ich dir noch erklären. Aber das muss ich persönlich tun.«

»Warum nicht letzte Nacht?«

»Ich...« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Ich fand, du hattest für einen Tag schon genug durchgemacht.«

Sie lehnte sich zurück. Es wäre also etwas Schlimmes, die Wahrheit über ihn zu erfahren?

»Und dann... dann war ich auch etwas fixiert«, fuhr er fort. »Ich wollte unbedingt, dass du es genießt, deine Unschuld zu verlieren.«

»Ja.« Sie lächelte ihn ironisch an. »Dafür hast du etwa zehnmal gesorgt.«

»Ich habe mich etwas gehen lassen. Hast du nächstes Wochenende Zeit?«

»Ja.« Das war das erste Juni-Wochenende. »Kommst du wieder her?«

Er nickte. »Wir müssen uns unterhalten.«

Ein kalter Schauer lief ihr über die Arme. »Wie bist du heute Morgen aus der Wohnung gekommen, ohne die Tür aufzuschließen?«

Er wendete sich ab und runzelte die Stirn. »Das erkläre ich dir auch nächstes Wochenende.«

»Gibt es keine einfache Erklärung? Du hast meinen Schlüssel genommen, hast dir einen Eisenwarenladen gesucht, der die ganze Nacht geöffnet ist, und ihn kopieren lassen, während ich geschlafen habe?«

»Das wäre eine einfache Erklärung. » Er verzog das Gesicht. »Aber es wäre gelogen.«

»Oh Gott.« Sie lehnte sich in die Kissen ihres Sofas zurück.

»Olivia, willst du morgen immer noch zu Otis Crump gehen?«

»Ja.« Damit die Kamera sie besser erfasste, lehnte sie sich wieder vor.

»Gibt es etwas Neues von der Gerichtsmedizin wegen der Schachtel?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht an einem Sonntag. Vielleicht bekommen wir morgen ein paar Ergebnisse.«

»Lass mich wissen, was passiert. Ich kümmere mich gern selbst um ihn, aber ich bräuchte etwas Zeit zum Planen.«

Was für Pläne? »Ich erzähle dir morgen Nacht alles.«

»Und ich sehe dich dann Freitag, damit wir uns unterhalten können.« Er sah sie eindringlich an. »Denk immer daran, dass ich dich liebe.«

»Ich liebe dich auch.« Warum sah er so besorgt aus? »Kannst du das ganze Wochenende hier verbringen?«

»Vielleicht. Das... kommt darauf an.«

»Kommt auf was an?«

Er berührte den Bildschirm. »Auf dich.«

Sie öffnete den Mund, um zu fragen, was er meinte, aber der Bildschirm war schon leer.

Er war verschwunden.