9. KAPITEL

 

Robby stöhnte auf. Verdammt noch mal, nicht jetzt. »Ignorier es einfach.«

Olivia sah zum Eingangsbereich. »Könnte es der andere Mann sein, der hier wohnt?«, flüsterte sie. »Carlos?«

»Nay. Der würde nicht klopfen.«

»Oh, richtig. Er hat wahrscheinlich einen Schlüssel.« Sie tastete zwischen den Kissen nach ihrem Pyjama.

»Liebes, wir sind noch nicht fertig.« Er hoffte jedenfalls, dass sie noch nicht fertig waren. Seine Härte hatte schmerzhafte Proportionen angenommen.

Ein Krachen hallte durch das Haus, als der Unbekannte noch einmal an der Tür hämmerte.

Verängstigt zog Olivia sich die Shorts bis an die Taille hoch. »Wer kann das...«

»Polizei!«

»Oh nein!« Schnell zog sie sich ihr Trägerhemd an.

»So ein Mist.« Dass diese Leute immer zum falschen Zeitpunkt kommen mussten, dachte Robby verzweifelt.

»Was machen die hier?«

»Wahrscheinlich geht es um den Panther.«

»Ich dachte, sie haben dir nicht geglaubt.«

Robby stand auf und zuckte zusammen, als er die Beule in seiner Hose bemerkte. Was für eine nette Begrüßung für die örtliche Polizei. »Ich kümmere mich darum. Warte hier.« Er durchquerte das Zimmer.

»Sie wollen vielleicht auf dem Grundstück nachsehen. Und wenn sie dabei auch durch die Fenster sehen... könnte es unangenehm werden.«

Er drehte sich um und sah, wie sie die Kissen wieder auf die Couch warf. Sein Magen zog sich zusammen. »Es muss dir nicht peinlich sein. » Und schämen sollte sie sich auch nicht. Er konnte es nicht ertragen, das noch einmal durchzumachen.

»Ich muss mich anziehen.« Sie ging eilig zur Küche. »Wenn die Beamten mich so sehen, hört die ganze Insel davon, und meine Großmutter schämt sich in Grund und Boden.«

Würdest du dich auch schämen?, wollte er sie fragen, aber sie war bereits in der Küche verschwunden. Er hörte, wie die Tür zum Waschraum sich schloss, und dann wieder Hämmern an der Eingangstür.

»So ein Mist. » Missmutig öffnete Robby die Tür und spähte hinaus. Er achtete darauf, dass sein geschwollenes Glied dabei hinter dem Türrahmen verborgen blieb.

»Polizei«, sagte ein stämmiger, mittelalter Mann mit starkem Akzent und der heiseren Stimme eines Kettenrauchers. An seiner kakifarbenen Uniform hing ein Abzeichen. »Sie haben wegen des Panthers angerufen?«

»Ja. Haben Sie ihn gefunden?« Hoffentlich ging es Carlos gut.

»Wir dachten, Sie wären betrunken, deshalb haben wir nichts unternommen. Dann hat Spiro uns angerufen. Seine Ziegen waren sehr laut, er geht also raus. Und da ist diese große Katze und erschreckt die Ziegen. Er versucht den Panther zu erschießen, aber der rennt davon.«

Carlos hatte also Appetit auf Ziege zum Abendessen gehabt. Robby zielte eine Welle seiner vampirischen Gedankenkontrolle auf den Polizeibeamten. Es gibt keinen Panther. Spiro hat sich geirrt. Ich mich auch. Wir haben beide zu viel getrunken. Wenn du etwas siehst, das wie ein Panther aussieht, erschießt du es nicht. Du wirst ihm nichts tun. Verstanden?

Der Polizist nickte mit leerem, glasigem Blick. »Ich verstehe.«

Du wirst verschwinden und nie mehr herkommen. »Danke, dass Sie vorbeigekommen sind«, sagte Robby dann laut.

Der Polizist sah verwirrt aus, als die Gedankenkontrolle abebbte. »Oh. Gut.« Er trat einen Schritt zurück. »Dann gehe ich wieder.«

»Gute Nacht, Officer.« Robby schloss die Tür hinter ihm. Der Mann würde seinen Befehlen unbewusst gehorchen, und Carlos war damit hoffentlich außer Gefahr.

Als er zurück ins Wohnzimmer kam, fiel sein Blick auf den Teppich, wo er vor wenigen Augenblicken Olivia einen Höhepunkt geschenkt hatte. Zweimal. Sie war so leidenschaftlich und reagierte so gut auf ihn, sie war so süß und so liebevoll. Heute hätten sie ihre gemeinsame Zukunft besiegeln sollen. Aber ein leiser Zweifel hatte sich in sein Herz geschlichen. Was, wenn sie es nicht ertragen konnte, dass er in Wahrheit ein Vampir war? Was, wenn sie es hässlich fand oder sich für ihn schämte?

Nein, diesen Gedanken verwarf er. Olivia war nicht wie seine Frau. Sie würde ihn nie hintergehen. Seine Frau hatte ihre eigenen Interessen über alles andere gestellt, Olivia war anders. Sie hatte sich dem Panther lieber allein stellen wollen, als ihn in Gefahr zu bringen.

»Bist du die Polizei losgeworden?«, flüsterte sie aus der Dunkelheit der Küche und kam dann auf ihn zu.

»Aye, sie sind weg.« Enttäuscht stellte Robby fest, dass sie angezogen war.

Ihr Blick war gesenkt. »Ich... ich habe den Pullover hiergelassen. Er war noch nass. Und meine Schuhe sind noch auf der Veranda. Ich bin mir sicher, sie sind auch noch nass.«

»Ist schon gut. Wir können warten. Niemand weiß, dass du hier bist.«

»Meine Großmutter weiß es. Und wenn ich nicht bald nach Hause komme, schickt sie die Polizei noch einmal hierher.« Sie sah ihn jetzt an, und ihr Blick war traurig dabei. »Es tut mir leid. Ich weiß, du... hast mehr erwartet.«

»Liebes.« Er berührte ihre Wange. »Du bist mehr als alles, was ich je erwartet habe. Ich hätte nie gedacht, dass eine so schöne und mutige Frau sich etwas aus mir machen könnte.«

»Robby.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich weiß nicht, wie das alles geschehen kann. Wie konnte ich mich so schnell verlieben?«

»Stell es nicht infrage.«

»Aber so bin ich eben. Ich analysiere Gefühle und Situationen. Wenn Menschen sich so schnell verlieben, wie kann man da erwarten, dass es von Dauer ist, auch wenn die Zeiten sich...« Sie hielt inne, als er ihr einen Finger auf die Lippen legte.

»Glaubst du an die Liebe?«

Sie nickte.

»Glaubst du an Ehrlichkeit und Treue?«

»Ja.« Sie nahm seine Hand in ihre und lächelte. »Und ich glaube, das Gute ist stärker als das Böse. Ich glaube an Familie und Freundschaft, an Freundlichkeit und Respekt. Erwarte nur nicht von mir, dass ich an Einhörner und die Zahnfee glaube.«

»Nay. Aber ich möchte dich bitten, an mich zu glauben.«

»Das will ich. Das will ich wirklich.«

»Dann tu es.« Er küsste sie auf die Stirn. »Ich wünschte, du würdest bei mir bleiben.« Für immer.

»Ich muss erst einmal gehen.« Liebevoll legte sie eine Hand auf seine Brust. »Aber ich kann morgen Nacht zurückkommen.«

»Morgen?«

»Ja.« Sie fuhr mit der Hand durch sein Brusthaar und über seine Brustwarzen. »Kannst du bist morgen warten?«

»Ich würde ewig auf dich warten.« Er gab sich in Gedanken eine Ohrfeige. »Aber ich will nicht. Ich bin jetzt bereit für dich.«

Sie sah an ihm hinab und schluckte. »Das ist mir aufgefallen. Würde es helfen, wenn ich noch etwas mehr Eiswasser darüberschütte?«

»Grausames Weibsbild«, knurrte er und lächelte dann, als er ihr Kichern hörte.

»Kannst du mich nach Hause fahren? Ich will nicht draußen sein, solange da ein Panther lauert.«

»Aye. Das kann ich machen.« Robby nahm die Autoschlüssel und seinen Ausweis. Der Abend war nicht ganz so verlaufen, wie er es gehofft hatte, aber alles in allem konnte er sich nicht beschweren. Er hatte Olivia befriedigt. Er hatte gespürt, wie sie in seinen Armen zum Höhepunkt gekommen war.

Er hatte seine Liebe gestanden, und sie hatte ihm ihr Herz geöffnet. Da war immer noch ein wenig Widerstand zu spüren, aber es war nicht zu leugnen, sie war dabei, sich in ihn zu verlieben.

Morgen Nacht würde er sie ganz erobern. Und dann konnte sie nichts mehr voneinander trennen.

****

Es war fast Mittag, als Olivia am Donnerstag erwachte. Sie hatte sich die meiste Zeit nur von einer Seite auf die andere gewälzt und zwischen Besorgnis und Freude geschwankt. Freude, weil sie dabei war, sich in den liebsten, schönsten, heldenhaftesten Mann zu verlieben, dem sie je begegnet war. Besorgnis, weil sie ihn nicht einmal eine Woche lang kannte. Und sie zog ernsthaft in Betracht, heute Nacht ihre Unschuld an ihn zu verlieren.

Zum ersten Mal in ihrem Leben begriff sie den Ausdruck »verrückt vor Liebe«. Das überwältigende Hochgefühl von Leidenschaft und Begehren, das er in ihr weckte, brachte sie dazu, verrückte Dinge zu tun. Aber es fühlte sich so gut an. Die Dinge, die er mit seinen Händen, seinem Mund getan hatte - er war unglaublich. Und sie brauchte ihre empathische Gabe bei ihm nicht. Sie konnte seine Liebe in jeder Berührung spüren, in jedem Blick, in jedem Wort, das er an sie richtete.

Sie zog sich an und schlenderte in die Küche. »Guten Morgen, Yaya.«

»Morgen?« Eleni schnaubte und warf einige Oliven und etwas Fetakäse auf einen Salat. »Es ist Zeit für das Mittagessen, Kind.«

»Tut mir leid.« Olivia sah nach dem Kessel auf dem Herd. Das Wasser darin war noch heiß. »Ich habe nicht gut geschlafen.«

»Niemand wird gut schlafen, bis sie diesen schrecklichen Panther gefangen haben«, knurrte Eleni. »Es ist auch besser, dass du das Frühstück verschlafen hast. Ich habe mich nicht getraut, zum Bäcker zu gehen und frisches Brot zu kaufen.«

»Was gibt es Neues?« Olivia nahm einen Becher aus einem der Hängeschränke. Sie hatte ihrer Großmutter von dem Panther erzählt, nachdem Robby sie in der Nacht zuvor nach Hause gefahren hatte. Natürlich hatte sie es vermieden, Eleni wissen zu lassen, wie knapp sie dem Angriff durch ein wildes Tier entgangen war.

»Alexia hat heute Morgen angerufen. Sie hat gehört, dass bei Horos eine Ziege getötet wurde. Der Ziegenhirte hat gesagt, es war eine riesige schwarze Katze, wie ein Panther, aber die Polizei will davon nichts wissen. Sie sagen, es gibt keinen Panther. Er ist den ganzen Tag nicht mehr gesichtet worden.«

Olivia nickte, während sie sich einen Becher Tee aufbrühte. »Er ist vielleicht nachtaktiv.«

»Ich glaube nicht, dass du heute Nacht ausgehen solltest.«

»Es ist schon gut. Robby hat gesagt, er holt mich ab.«

Ein tiefer Seufzer entfuhr Eleni. »Ich hatte solche Hoffnungen für Spiro. Aber dieser Robby scheint doch ein netter Junge zu sein. Er hat dir heute Morgen eine Kiste mit Obst geschickt.«

Ihre Hand zitterte so sehr, dass sie den Becher auf der Anrichte abstellen musste. »Obst?« Olivia drehte sich langsam zu ihrer Großmutter um. »Was für Obst?«

»Äpfel. Neben der... Was ist los, Kind?« Eleni eilte zu ihr.

Olivia stolperte gegen die Anrichte. Nein, nein, es kann nicht von ihm sein.

»Was ist los?« Ihre Großmutter strich besänftigend über ihr Haar. »Um dich ist eine dunkle Aura... voller Angst.«

»Wo?«, flüsterte sie. »Wo sind die Äpfel?«

»Auf der Anrichte neben dem Kühlschrank.«

Wie in Trance machte sie einen Schritt nach dem anderen um den Küchentisch herum, bis sie den Kühlschrank erreicht hatte. In ihren Ohren hallte ein Geräusch, das alles andere übertönte - der donnernde Schlag ihres Herzens. Ihre Großmutter stand direkt neben ihr. Sie redete immer noch, aber ihre Stimme drang nicht bis zu Olivias Ohren.

Dann sah sie es. Die immer gleiche braune Schachtel mit dem grünen Logo. Er schickte immer sechs Äpfel. Rote, in grünem Ostergras. In der Schachtel würde sich eine Nachricht befinden. Gedruckt.

Sie erinnerte sich wieder an die anderen Nachrichten. Liebste Olivia, ich werde Dich nie mehr gehen lassen. Liebste Olivia, Du gehörst für immer mir. Liebste Olivia, Du bist die Einzige, die mich verdient.

Ihre Hand zitterte, als sie den Deckel der Schachtel anhob. Sechs rote Apfel. Grünes Gras. Sie trat zurück und schluchzte laut auf. Warum machte er immer weiter? Hatte er vor, sie ihr ganzes Leben lang zu terrorisieren?

»Ruhig, Kind.« Eleni klopfte ihr den Rücken.

»Wie hat er mich hier gefunden? Der Bastard sitzt in Einzelhaft. Verdammter Kerl!« Olivia griff nach der Nachricht und riss den Umschlag auf. Die Worte waren sauber getippt.

Liebste Olivia, ich werde Dich überall finden.

»Verdammt!« Sie zerknüllte die Nachricht in ihrer Faust und warf sie von sich.

»Beruhige dich. So schlimm kann es doch nicht sein.«

»Es ist schlimm. Er weiß, dass ich hier bin. Hier sollte ich in Sicherheit sein. Es war meine Zuflucht.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich sollte bei dir nicht in Gefahr sein!«

»Schsch, Kind. Es wird alles gut.«

»Solange ein Massenmörder uns Geschenke schickt und ein Panther vor der Tür lauert?« Olivia ging in der Küche auf und ab. »Ich muss hier weg. Wir müssen weg. Ich lasse dich nicht alleine hier.«

»Wir gehen ja. In elf Tagen.«

»Wir reisen heute ab«, verkündete Olivia. Als ihre Großmutter begann, Einwände zu erheben, hob sie eine Hand. »Du verstehst nicht, wie ernst die Lage ist. Otis Crump steckt dahinter. Er befindet sich in Einzelhaft, und deshalb muss es jemanden geben, der ihm hilft.«

»Gut, vielleicht hat er einen Freund, aber sollten wir wirklich aus lauter Angst davonlaufen?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob es nur ein Freund ist«, erklärte Olivia ihr. »Otis hat angedeutet, dass er bei den Morden einen Komplizen hatte, aber ich konnte ihn nie dazu bringen, einen Namen zu nennen. Wenn dieser Komplize existiert, dann weiß er, wo wir sind. Es ist hier nicht sicher für dich. Ich werde mich besser fühlen, wenn du bei Dad in Houston bist.«

Zum Glück lenkte Eleni ein. »Na gut. Ich komme mit dir, aber nur, weil ich nicht will, dass du dich aufregst.«

»Gut. Ich kümmere mich um die Reisevorbereitungen. Du fängst an zu packen.«

»Lass mich erst Alexia anrufen. Sie kann uns helfen, das Haus herzurichten. Du fängst an und bringst den Tisch und die Stühle vom Innenhof nach drinnen.«

Drei Stunden später waren die Möbel mit Laken bedeckt, die blau gestrichenen Fensterläden fest geschlossen, und das Essen, auch die Äpfel, hatten sie Alexia mitgegeben. Ein Taxi holte Olivia, ihre Großmutter und das Gepäck ab und brachte sie zum Hafen.

Als sie die Fähre bestiegen, überkam Olivia eine tiefe Traurigkeit, weil sie Robby verlassen musste. Sie hatte ihm eine Nachricht bei Alexia hinterlassen. Hoffentlich würde er es verstehen.

Sie stand an Deck, und die kalte Brise peitschte ihr ins Gesicht, als die Insel Patmos am Horizont immer kleiner und kleiner wurde. Tränen liefen ihr über die Wangen. Dieser verdammte Otis. Das Monster hatte ihren Zufluchtsort beschmutzt. Er hatte ihre Großmutter in Gefahr gebracht. Und er war schuld, dass sie den Mann ihrer Träume zurücklassen musste. Hoffentlich gab es irgendeine Möglichkeit, Robby MacKay wiederzusehen.

Bei Sonnenaufgang war Carlos noch nicht zurückgekehrt, Robby war also in seinen Todesschlaf gefallen, ohne zu wissen, ob der Werpanther die Nacht überlebt hatte oder nicht.

Jetzt war die Sonne untergegangen, Robby war erwacht und hatte Hunger auf Frühstück. Er tapste in die Küche und nahm sich eine Flasche aus dem Kühlschrank, Blutgruppe A negativ, die ihn an Olivia erinnerte. Nach dem Frühstück musste er duschen und sich umziehen. Er sollte sie um neun Uhr am Haus ihrer Großmutter abholen.

»Zum Glück. Du lebst noch.« Robby hörte Schritte und sah sich um, während er die Flasche in die Mikrowelle stellte. Er war wirklich erfreut, seinen Freund gesund wiederzusehen. Carlos kam mit finsterer Miene auf ihn zugeschlurft.

»Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten, Alter.« Er lehnte sich gegen die Anrichte und verschränkte die Arme vor seinem schwarzen T-Shirt.

Robby nahm ein Weinglas aus einem der Schränke. »Lass mich raten. Du hast Magenschmerzen, weil du eine ganze Ziege verschlungen hast.«

»Nein. Es waren mir nur einige Bissen vergönnt, ehe der Ziegenhirte angefangen hat, auf mich zu schießen. In meinem ganzen Leben bin ich noch keinem so gewissenhaften Hirten begegnet. Es ist verdammt schwer, auf dieser Insel was zu beißen zu bekommen.«

»Wie tragisch.« Robby goss sich warmes Blut in sein Glas. »Erinnere mich daran, nachher für dich zu weinen.«

»Spar dir deine Tränen für dich selbst, Big Red. Ich bin vor einer Stunde in die Taverna gegangen, um etwas zu essen und mir den letzten Tratsch über den geheimnisvollen Panther anzuhören.« Carlos schmunzelte. »Die Polizei sagt, es gibt mich nicht, Spiro dagegen sagt allen, es gibt mich doch. Und niemand kann sich vorstellen, wo zur Hölle ich auf einmal hergekommen bin.«

»Hölle wäre der erste Anhaltspunkt.« Robby leerte sein Glas Blut.

»Sehr lustig. Aber es gab zwei große Themen beim heutigen Klatsch. Der Panther, der auf mysteriöse Weise verschwunden ist, und deine Freundin, die Hals über Kopf davongelaufen ist.«

Fast hätte Robby sich am letzten Tropfen Blut verschluckt. »Was?«

»Die Frau des Tavernenbesitzers, Alexia, hat mir davon erzählt. Sie hat Olivia und Eleni geholfen, das Haus für den Winter herzurichten. Sie ist Elenis beste Freundin, also kümmert sie sich für sie um das Haus, gießt die Pflanzen und so weiter.«

»Warte.« Robby stellte sein Glas ab. »Soll das heißen, Olivia hat die Insel verlassen?«

»Du stehst heute etwas auf der Leitung, Alter. Ja, sie ist weg. Ihre Großmutter auch.«

»Sie kann nicht weg sein. Ich soll sie um neun Uhr abholen.«

»Das Haus ist abgesperrt. Ich bin auf dem Weg nach Hause dort vorbeigegangen, um sicherzugehen.«

Sprachlos starrte Robby seinen Freund an. Er war vollkommen vor den Kopf gestoßen. Sie war fort? Warum sollte sie fortgehen? Hatte er zu schnell zu viel gewollt? So ein Mist. Sie hatte wirklich gesagt, dass ihr alles zu schnell ging. Er hätte langsamer machen sollen. »Warum sollte sie gehen?«

»Vielleicht küsst du ganz grauenvoll.«

»Vielleicht hättest du gerne zwei blaue Augen, um dir zu zeigen, was ich davon halte?«

Carlos grinste. »Ruhig, Big Red. Ich habe Alexia das Gleiche gefragt. Sie sagt, Olivia hat schreckliche Angst wegen etwas. Wegen eines Mannes.«

Was sollte das jetzt bedeuten? Hatte er sie davongejagt? Letzte Nacht war sie ihm nicht verängstigt vorgekommen.

»Alexia ist sehr traurig«, fuhr Carlos fort. »Sie hatte gehofft, dass Olivia ihren Sohn Giorgios heiratet.«

»Sonst noch etwas?« Der erste Schock wich langsam einer ungeheuren Wut. Olivia hätte nicht wegrennen sollen. Sie war dabei, sich in ihn zu verlieben, das hatte sie selbst zugegeben. Vor einem Mann, den man liebte, rannte man nicht davon. Nicht wenn man treu und vertrauenswürdig war.

»Ich habe Alexia gefragt, ob sie weiß, wohin die beiden wollen. Die Großmutter verbringt die Weihnachtsferien immer in Houston bei ihrem Sohn. Also sind die beiden wahrscheinlich auf dem Weg dorthin.«

Robby nickte und ging rasch aus dem Zimmer. Verdammt noch mal, er hatte nicht einmal Olivias Handynummer. Damit, dass sie davonlaufen könnte, hatte er nicht gerechnet. Er trat in sein Schlafzimmer und zog sich schnell ein Paar Jeans, ein T-Shirt und einen Kapuzenpullover an. Dann trat er durch die Hintertür auf die Terrasse.

»Warte auf mich!«, rief Carlos ihm nach.

Robby wartete nicht. Und diesmal nahm er auch nicht die Treppe, die vom Felsen nach unten führte, sondern sprang mühelos in die Tiefe und landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Sandstrand darunter. Er stakste auf Petra zu und war versucht, den riesigen Fels mit seinen bloßen Händen in Stücke zu schlagen.

»Warte!«

Robby sah sich um, als er ein Plumpsen hinter sich hörte. Carlos war vom Ufer gesprungen. Er hatte eine Jacke in der Hand. »Ich will keine Begleitung.«

Ohne darauf einzugehen, zog Carlos sich seine schwarze Lederjacke an. »Wo gehst du hin?«

»Joggen.« Robby rannte los.

»Gehen wir zu ihr nach Hause?«

Robby ignorierte ihn und rannte weiter. Vielleicht würde er wirklich zu ihrem Haus gehen. Es war besser, als allein zu Hause zu bleiben. Einsam. Sein Tempo verlangsamte sich.

»Es tut mir leid, wie die Sache sich entwickelt hat, Miúdo.«

Mit einem Blick zum Mond, der immer noch so gut wie voll war, wendete sich Robby an Carlos. »Warum verwandelst du dich nicht endlich und verschwindest? Das Ziegenbüfett wartet auf dich.«

»Ich hatte wirklich vor, mich heute Nacht zu verwandeln und Spiros Ziegen noch einmal zu besuchen.« Carlos grinste. »Nur um deiner Konkurrenz Ärger zu machen, Alter. Aber da dein Vogel ausgeflogen ist, hat es keinen Zweck, sich zu verwandeln.«

Noch immer war Robby verwirrt. Wie konnte sie es wagen, ihn zu verlassen? Es ergab keinen Sinn. Und etwas, das Carlos gesagt hatte, ergab auch keinen Sinn. »Du hattest vor, dich zu verwandeln, und hast dich dann anders entschieden?«

»Das habe ich gesagt. Du bist heute ein wenig langsam, Alter.«

»Du kannst deine Verwandlungen kontrollieren?«

Ja.«

»Dann bist du wie ein Alphawolf? Du kannst dich ohne den Vollmond verwandeln?«

Carlos verzog das Gesicht. »Also bitte. Vergleich mich nicht mit diesen sabbernden Kötern. Katzen sind von Natur aus die überlegenen Lebewesen.«

»Ihr seid beide Formwandler.«

»Unsere Kulturen sind vollkommen verschieden. Wölfe rotten sich zu Rudeln zusammen und folgen den Befehlen ihrer Rudelführer wie gut dressierte kleine Welpen. Ein Panther gehorcht niemandem.«

»Ich glaube, Phil würde deiner Beschreibung von Werwölfen widersprechen. Er hat sich von seinem Rudel losgesagt«

»Phil ist schon in Ordnung.« Carlos grinste. »Für einen Hund.«

Auch Phil hatte vor Kurzem seine wahre Liebe gefunden, erinnerte sich Robby. Viele seiner Freunde hatten in letzter Zeit den richtigen Partner gefunden. Er hatte geglaubt, er wäre jetzt an der Reihe gewesen.

Sie kamen an dem Ort vorbei, wo Olivia ihm ihre drei Fragen gestellt hatte.

Was willst du mehr als alles andere auf der Welt? Ohne zu zögern hatte er »Rache« geantwortet.

Was macht dir mehr Angst als alles andere auf der Welt? Robby blieb mit einem Ruck stehen. Olivia zu verlieren.

Es war, als würde ein Dolch sein Herz durchbohren. Wie war es möglich, dass er sie verloren hatte? Irgendwie war es ihr in nur wenigen Nächten gelungen, seine Gedanken und Gefühle vollkommen auf den Kopf zu stellen. Was wollte er mehr als alles andere? Olivia. Er wollte immer noch Rache, aber es war nicht mehr die treibende Kraft in seinem Leben.

Er wollte Olivia. Wenn die Sonne unterging und sein Herz wieder zum Leben erwachte und Blut in sein Gehirn pumpte, galt sein erster Gedanke Olivia. Bei Sonnenaufgang, wenn sein Herzschlag sich verlangsamte und seine Gedanken sich verflüchtigten, war das letzte Bild, das er vor Augen hatte, Olivia.

Als Rache noch sein Ziel gewesen war, hatte er gelebt, um zu hassen. Jetzt wollte er Liebe. Mehr als alles andere wollte er Liebe.

Und ja, das machte ihn zu einem besseren Menschen.

Er durfte sie nicht verlieren. Sie war Teil von seinem Herzen und seiner Seele.

»Gib nicht auf, Alter«, flüsterte Carlos. »Das sage ich mir jeden Tag. Gib niemals auf.«

Obwohl er eigentlich allein hatte sein wollen, war er doch froh, dass Carlos an seiner Seite war.

»Also, sind wir bald da?«

Robby deutete auf das Haus der Sotiris, das in der Ferne auftauchte. »Das dort ist es.«

»Wettlauf.« Carlos rannte so schnell er konnte los.

Wozu gab es Teleportation, dachte Robby und war im Bruchteil einer Sekunde auf dem Innenhof angekommen.

»Angeber!«, rief Carlos vom Strand hinauf.

Robby sah sich auf dem Hof um. Das Teleskop und der Tisch und die Stühle waren verschwunden, wahrscheinlich hatte man sie ins Haus gebracht. Er betrachtete das Gebäude. Blaue Läden verschlossen die Fenster. Die Hintertür war zugesperrt und die Fensterscheibe mit einem weiteren Laden verdeckt.

Hinter ihm ertönten Schritte, als Carlos die Treppe zum Hof hinaufgerannt kam.

Carlos blieb bei einem der Zitronenbäume stehen und pflückte einen Zweig von der Minze, die darunter wuchs. »Ist alles zugeschlossen, Alter.« Er zerkaute die Minze.

»Ich teleportiere mich nach drinnen.«

»Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist? Du könntest als Teil des Sofas enden.«

Robby legte eine Hand auf die Tür und konzentrierte sich darauf, direkt auf der anderen Seite zu erscheinen. Er erschien hinter der Tür, entriegelte und öffnete sie. »Komm rein.«

»Wonach suchen wir?«

»Ich bin mir nicht sicher. Etwas, das nicht stimmt.«

Carlos drehte sich auf der Stelle, um sich in der Küche umzusehen. »Alles stimmt hier nicht. Die Arbeitsplatte muss dringend erneuert werden. Der Herd da drüben ist uralt. Es gibt keinen Wasserspender in der Kühlschranktür. Das ganze Haus muss von Grund auf renoviert werden.«

»Sieh dir den Rest des Hauses an.« Als sein Gefährte in das Wohnzimmer gegangen war, untersuchte Robby die Küche gründlich. Für ihn sah alles normal aus. Aber er war auch in einer Steinhütte mit Strohdach und nur einem einzigen Raum aufgewachsen.

Der Kühlschrank war leer, die Speisekammer fast. Alle Teller waren abgewaschen und weggeräumt worden. Die Blumen, die er Olivia geschenkt hatte, lagen im Mülleimer. Kein gutes Zeichen.

Er ging weiter ins Wohnzimmer. Dort war es dunkel, weil alle Fensterläden geschlossen waren. Trotzdem erlaubte sein übermenschliches Sehvermögen ihm, das kleine Zimmer deutlich zu erkennen. Alle Möbel waren mit Laken verhängt.

»Ich hab es!« Carlos betrat das Wohnzimmer vom Flur aus. »Ich habe etwas unglaublich Wichtiges in Olivias Schlafzimmer gefunden.«

»Was?«

Mit einem Grinsen ließ Carlos eine blaue Baumwoll-Bikinihose von seinen Fingerspitzen baumeln. »Ein kleines Souvenir für dich, Alter.«

Robby schnappte ihm die Unterwäsche aus der Hand. »Das ist nicht, was ich gemeint habe.«

»Oh.« Carlos Mundwinkel zuckten. »In dem Fall lege ich sie wohl einfach zurück.«

»Verzieh dich.« Robby stopfte die Unterwäsche in seine Jeanstasche und marschierte zurück in die Küche. Ein weißer Fleck weckte seine Aufmerksamkeit. Eine Papierkugel unter dem Küchentisch.

Er beugte sich vor, um sie hochzuheben.

»Was hast du gefunden?«

»Ich bin mir nicht sicher.« Robby strich das Papier glatt. Es war eine Karte, auf die eine Nachricht getippt war.

Liebste Olivia, ich werde Dich überall finden.

»Das ist es«, flüsterte Robby. »Das hat ihr Angst gemacht.«

»Eine Karte?« Carlos beugte sich vor, um sie zu lesen. »Von wem ist die?«

»Einem Bastard, der sie aus dem Gefängnis heraus stalkt.« Robby steckte die Karte in die Tasche seines Kapuzenpullovers. Einerseits war er erleichtert, dass nicht er der Grund für ihre überstürzte Abreise gewesen war. Andererseits kochte die Wut auf Otis Crump in ihm. Und er war immer noch wütend, weil Olivia davongelaufen war. Warum war sie nicht geblieben, um seine Hilfe in Anspruch zu nehmen? Warum vertraute sie ihm nicht? »Hat die Frau in der Taverne etwas von Äpfeln gesagt?«

»Nein. Aber sie hat alle Vorräte bekommen, die hier nicht gebraucht wurden.«

»Ich muss mit ihr reden.«

»Kein Problem.« Carlos ging zur Hintertür. »Ich bringe dich hin.«

Sie schlossen das Haus wieder ab, und zehn Minuten später betraten sie die Taverna in Grikos. Robby war überrascht, als die Einheimischen Carlos wie einen von ihnen begrüßten.

»Das ist Alexia.« Carlos küsste die grauhaarige Frau auf beide faltige Wangen. »Wenn sie nicht immer noch in ihren Mann verliebt wäre, würde ich sie ihm ausspannen.«

Alexia lachte und gab Carlos einen Klaps auf die Schulter. »Du alberner Junge. Du kommst nur wegen der Moussaka her.«

Carlos sah sie schuldbewusst an. »Was soll ich sagen? Du bist die beste Köchin auf der ganzen Insel.«

Das Kompliment brachte Alexia zum Strahlen. »Und wer ist dein Freund?«

Robby verbeugte sich. »Es freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Robby MacKay.«

Ihr Lächeln verschwand, und ein misstrauischer Blick trat in ihre Augen. »Was möchtet ihr Jungs trinken?«

»Ich möchte nur einige Fragen stellen, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Robby. »Es geht um Olivia Sotiris.«

Stolz hob Alexia ihr Kinn. »Olivia wäre perfekt für meinen Sohn, Giorgios, gewesen. Es war sehr schade, dass sie so plötzlich abreisen musste.«

»Hat sie Ihnen vielleicht Äpfel dagelassen?«, fragte Robby.

»Ja. Eine Schachtel mit sehr schönen Äpfeln.«

Robby nickte. Es war genau, wie er vermutet hatte. »Und hat sie mich vielleicht erwähnt?«

Wieder flackerte in Alexias Gesicht das Misstrauen auf. »Warum sollte sie?«

Es hatte keinen Zweck. Robby musste seine besonderen Fähigkeiten anwenden. Er konzentrierte eine Welle vampirischer Gedankenkontrolle auf die alte Frau. Sie stolperte rückwärts, und ihr Gesicht verlor jeden Ausdruck.

Carlos fasste sie am Arm, damit sie nicht hinfiel. »Was machst du da, Alter?«

»Ich hole mir Antworten.« Hat Olivia irgendetwas über mich gesagt, ehe sie abgereist ist?, fragte Robby telepathisch.

»Ja.« Apathisch zog Alexia einen kleinen Umschlag aus ihrer Tasche. »Sie hat eine Nachricht hinterlassen.«

»Danke.« Robby steckte den Umschlag in seine Jackentasche und entließ sie dann aus seiner Gedankenkontrolle.

Verwirrt schüttelte Alexia den Kopf. »Was... Oh, ich wollte euch die Getränke bringen.«

»Ein Bier für mich.« Carlos sah in seinen Taschen nach. »Huch, mir scheint, ich habe meine Brieftasche vergessen. Sieht aus, als müsstest du bezahlen, Alter.«

»Schon gut.« Robby griff in seine Jeanstasche und fand dort ein paar Münzen. Als er die Hand herauszog, fiel Olivias Bikinihose auf den Boden.

Entsetzt schnappte die alte Frau nach Luft.

Carlos lachte spöttisch und sah Alexia dann wehmütig an. »Ich kann ihn einfach nirgendwohin mitnehmen.«

»Olivia hätte es mit meinem Giorgios viel besser getroffen.«

Robby stopfte die Unterhose zurück in seine Tasche und reichte der alten Frau die Münzen. »Ich gehe dann jetzt.« Er trat nach draußen und riss den Umschlag auf.

Lieber Robby, es tut mir leid, dass ich so plötzlich
abreisen musste. Du kannst mich beim FBI in Kansas City
erreichen. Ich werde Dich vermissen und Dich nie vergessen.

Ich hoffe, Dich bald wiederzusehen. In Liebe, Olivia.

Sie liebte ihn immer noch. Sein Herz schwoll vor Erleichterung an. Ich liebe dich auch, mein Schatz. Wir werden uns wiedersehen.