2. KAPITEL

Die Insel Patmos, drei Monate später...

 

Olivia Sotiris schloss leise die Hintertür. Es musste nach ihrer Schätzung etwa halb zwei am Morgen sein, aber ihre innere Uhr lief immer noch nach nordamerikanischer Zeit.

Ihre Fähre war am Nachmittag am Hafen von Skala angekommen, und ihre Großmutter hatte dort mit einem jungen Taxifahrer auf sie gewartet, der zufällig ledig war. Nachdem er sie den kurzen Weg bis zum Haus der Sotiris in Grikos gefahren und ihr Gepäck im Gästezimmer verstaut hatte, waren sie gemeinsam in die Taverna des Dorfes gegangen.

Dort war das ganze Dorf versammelt gewesen, um die amerikanische Enkelin von Eleni Sotiris zu bestaunen. Und laut Eleni war jeder einzelne infrage kommende Junggeselle der Insel ebenfalls anwesend.

Olivia ertrug es mehrere Stunden lang, von den älteren Dorfbewohnern in gebrochenem Englisch sanft ausgeschimpft zu werden. Ihr Vergehen: Yaya, ihre arme Großmutter, sechs lange Jahre lang nicht besucht zu haben. Es machte dabei nichts, dass sie sich jede Weihnachten in Houston sahen, wo ihre Familie lebte und ihre Großmutter jeden Winter einige Monate verbrachte. Olivia war dennoch schuldig, weil sie das Herz ihrer armen verwitweten Großmutter gebrochen hatte.

Zur gleichen Zeit hüpfte diese Großmutter mit einer Reihe junger Männer auf der Tanzfläche umher, rief fröhlich »Oppa!« und zerbrach dabei Teller. Olivia ging also davon aus, dass sie sich die Schuldgefühle sparen konnte. Sie trank mehr Wein als gewöhnlich, in der Hoffnung, besser schlafen zu können, aber jetzt, zwei Stunden später, war sie immer noch hellwach.

Und sie zweifelte wieder einmal an ihren Gründen, die sie zum Kommen bewegt hatten. Ihr Vorgesetzter hatte darauf bestanden, dass sie Urlaub nahm, aber ein Teil von ihr wendete ein, dass noch nie irgendein Problem durch Davonrennen gelöst worden war. Sie hätte sich dem Monster noch einmal stellen sollen. Sie hätte ihm klarmachen müssen, dass das Spiel aus war. Keine kranken Manipulationsversuche mehr. Und was, wenn ihr Weglaufen nur bewies, dass er immer noch die Fäden in der Hand hielt?

Eine kühle Brise wehte vom Meer her das felsige Ufer hinauf bis in den Hof hinter dem Haus ihrer Großmutter. Olivia schlang ihre weiße Decke enger um ihren grünen Baumwollpyjama. Sie würde nicht mehr über ihn nachdenken. Er konnte sie hier nicht finden.

Sie atmete die kühle, salzige Luft ein. Es war herrlich ruhig, nur der Klang der Wellen drang vom Strand hinauf, und in den Tamarisken raschelte eine Brise. So friedlich. Nur ihre Füße erfroren fast auf den Steinfliesen.

Sie tapste über den Innenhof. Alles sah fast so aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Bei ihrem letzten Besuch, im Sommer nach ihrem Highschoolabschluss, hatte ihr Vater die Laube gebaut, die jetzt im linken Teil einen kleinen Abschnitt überdachte. Der Wein, der sich daran emporrankte, war gewachsen. Seine Zweige wanden sich wie Schlangen um das hölzerne Gerüst. Im dunklen Schatten der Laube konnte sie den Holztisch und die vier Stühle, die ihr so vertraut waren, kaum erkennen.

Der Rest des auf allen Seiten eingeschlossenen Hofes lag unter freiem Himmel. Der Halbmond spiegelte sich in den gekalkten Wänden von Yayas Haus und den hüfthohen Mauern, die die Terrasse umgaben. Drei große Tonkrüge, jeder mit einem kleinen Zitronenbaum bepflanzt, standen an der rechten Wand aufgereiht. Am Fuß eines jeden Baumes wuchsen grüne Büschel aus Petersilie und Minze. In der gegenüberliegenden Ecke stand ein Kübel voll roter Geranien neben den Steintreppen, die zum Strand hinabführten.

Neben den Geranien entdeckte sie das Teleskop, das Yaya letzte Weihnachten von Olivias Vater geschenkt bekommen hatte. Ein ausgezeichnetes Geschenk, fand sie, als sie in den Nachthimmel hinaufblickte. So viele Sterne. In der Stadt, zu Hause, waren sie nie so hell.

Sie hatte den Hof überquert und erreichte die gegenüberliegende Mauer, stützte sich mit den Ellbogen darauf und spähte zum Strand hinunter. Das Mondlicht glitzerte auf dem dunklen Meer und brachte den weißen Sand zum Leuchten.

»Kannst du nicht schlafen, Kind?«

Olivia wirbelte herum. »Yaya, ich wollte dich nicht aufwecken.«

»Ich bin ein sehr leichter Schläfer in letzter...« Ihre Großmutter kniff die Augen zusammen. »Bist du barfuß?«

Ehe Olivia erklären konnte, dass sie vergessen hatte, Hausschuhe einzupacken, trippelte ihre Großmutter wieder ins Haus und murmelte etwas von Skorpionen. Eine Minute später tauchte sie mit leuchtend roten Filzstiefelchen wieder auf.

»Die haben Einheitsgröße, also sind sie mir zu groß.« Sie warf sie neben Olivia auf den Boden. »Dein Bruder, Nicolas, hat sie mir zu Weihnachten geschenkt. Was hat er sich dabei gedacht? Eine Frau meines Alters, in roten Stiefeln...«

Olivia lächelte, als sie ihre Decke über die Mauer legte und sich dann hinabbeugte, um die Hausstiefel anzuziehen. Ihr Bruder hatte sich wahrscheinlich genau das Gleiche gedacht wie jedes andere Mitglied der Familie. Eleni Sotiris verhielt sich nie ihrem Alter entsprechend, es sei denn, es ging darum, ihren Willen durchzusetzen. Ihre Haare waren vielleicht grau, aber sie waren lang und schwer. Im Augenblick hingen sie zu einem langen Zopf geflochten über ihre Schulter. Sie war immer noch aktiv, ihre Augen waren scharf und ihr Verstand noch schärfer.

Eleni zog den Gürtel um ihren blauen Frotteebademantel fester. »Sag mir, was dich beschäftigt, Kind.«

»Es geht mir gut. Nur der Jetlag, und...« Olivia hielt inne, als sie den Unmut ihrer Großmutter spürte. »Tut mir leid. Ich bin es gewohnt, den Leuten zu erzählen, dass es mir gut geht, auch wenn es nicht stimmt.«

Eleni seufzte. »Das verstehe ich ja, aber du weißt doch, wie unnütz es ist, mich zu beschwindeln.«

Olivia nickte erleichtert, weil ihre Großmutter nicht wütend auf sie war. Sie wusste alles von der seltsamen Gabe dieser alten Frau, denn sie selbst war das einzige Enkelkind, das sie von ihr geerbt hatte. Beide Frauen bemerkten sofort, wenn ein anderer log. Und sie konnten die Gefühle der Menschen spüren.

»Ich kenne dich dein ganzes Leben lang, aber ich habe dich noch nie so... aufgewühlt erlebt«, fuhr Eleni fort. »Du warst glücklich und erleichtert, als du angekommen bist, und während der Feier warst du von mir genervt.«

Olivia zuckte zusammen. »Tut mir leid.«

Eleni winkte ab. »Ist schon gut. Dafür ist Familie doch da. Aber da ist noch etwas anderes, das dich beschäftigt. Etwas... Dunkles. Und Verborgenes.«

Olivia stöhnte innerlich auf. Es war verborgen. Sie hatte es seit Monaten verdrängt. »Es gibt ein Problem, aber ich... ich will nicht darüber reden.«

Sie nahm die Decke von der Mauer und legte sie sich um die Schultern.

»Es macht dir Angst«, flüsterte Eleni.

Tränen stiegen in Olivias Augen. Er machte ihr Angst.

Tröstend legte ihre Großmutter ihr einen Arm um die Schultern und zog sie eng an sich. »Hab keine Angst, Kind. Hier bist du in Sicherheit.«

Damit ihr keine Tränen kamen, kniff Olivia die Augen fest zusammen, während sie sich dankbar in die Arme der Großmutter schmiegte. Yaya war immer der Mensch gewesen, auf den sie sich am meisten verlassen hatte. Ihr hatte sie all ihre Geheimnisse verraten. Als sie noch jung war und sich nur mühsam an ihre empathischen Fähigkeiten gewöhnen konnte, hatte nur ihre Großmutter sie verstanden.

Eleni klopfte ihr den Rücken. »Wer macht dir Angst? Ist es ein Mann?«

Olivia nickte.

»Hat der Bastard dich schlecht behandelt? Ich könnte ihm deine Brüder auf den Hals hetzen, um ihm eine Lektion zu erteilen.«

Olivia lachte. Ihre schlaksigen jüngeren Brüder könnten nicht einmal einen Chihuahua einschüchtern. Wie üblich war es ihrer Großmutter gelungen, ihre Tränen zu vertreiben.

»Überlass die Sache einfach ganz mir. Ich finde schon einen guten Mann für dich.« Eleni trat zurück und legte ihren Kopf schräg. »Hat dir heute Abend irgendeiner gefallen?«

»Ich suche keinen Ehemann.«

»Natürlich tust du das. Wie alt bist du jetzt, vierundzwanzig? In deinem Alter hatte ich schon drei Kinder.«

»Ich habe einen Beruf. Und einen Universitätsabschluss, einen Master.« Immer wieder musste die Großmutter mit diesem leidigen Thema anfangen.

»Und ich bin stolz auf dich. Aber es gibt nichts Wichtigeres als die Familie. Wie hat dir Spiro gefallen?«

»Welcher war das?«

»Der besonders gut aussehende. Er hat rechts von mir getanzt.«

Obwohl Olivia versuchte, sich zu erinnern, stach keiner der Männer besonders hervor. Sie waren alle zu einem schleimigen Ball aus Testosteron verschmolzen. »Ich erinnere mich nicht.«

»Er ist ein guter Junge. Geht jede Woche mit seiner Mutter zur Kirche. Sehr guter Körper. Macht jeden Morgen in seiner Unterwäsche Liegestütze. Ist auch nicht zu behaart.«

Jetzt wurde Olivia doch ein wenig hellhörig. »Und woher weißt du das?«

Eleni deutete auf das Teleskop.

Jetzt erst bemerkte sie, dass das Teleskop nicht in den Himmel gerichtet war. Sie ging mit wenigen schnellen Schritten darauf zu und spähte durch das Sichtstück. Eine gekalkte Mauer mit einem großen Fenster darin wurde sichtbar. »Yaya, was hast du angestellt?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin alt, aber ich bin noch nicht tot. Spiro ist ein wunderschöner junger Mann. Und er kümmert sich gut um seine Ziegen. Du solltest mit ihm ausgehen.«

Olivia rümpfte die Nase. »Was in aller Welt soll ich mit einem Ziegenhirten anfangen?«

»Kleine Kinder in die Welt setzen?«

»Ich kann nicht heiraten. Ich bin nicht einmal gut im Verabreden. Es geht immer schlecht aus. Ich weiß jedes Mal, wann ein Mann mich anlügt, und das ist leider meistens der Fall.«

»Wir müssen dir einfach einen ehrlichen Mann finden.«

»Ich fürchte, die sind den gleichen Weg gegangen wie die Dinosaurier.« Olivia richtete das Teleskop aus, bis es nicht mehr auf Spiros Zuhause zeigte. »Wie hast du Grandpa kennengelernt?«

»Habe ich nicht. Meine Eltern haben die Ehe arrangiert.«

»Wie alt bist du gewesen?« Olivia war erstaunt darüber, wie wenig sie von ihrer Großmutter wusste.

»Sechzehn. Ich stamme von Kos.« Eleni deutete nach Süden, wo sich die Insel Kos befand. »Ich habe deinen Großvater erst hier auf Patmos bei unserer Verlobungsfeier kennengelernt. Ich habe Hector sofort gesagt, dass er mich nie belügen darf, weil ich es sofort herausfinde. Und dann mache ich ihm das Leben zur Hölle.«

»Und damit hast du ihn nicht davongejagt?« Olivias Freund in der Highschool jedenfalls hatte das Weite gesucht, als er herausfand, dass sie ein menschlicher Lügendetektor war.

»Hector war überrascht, aber dann hat er gesagt, dass wir beide ehrlich sein sollten, denn wenn ich log, könnte auch er mir das Leben zur Hölle machen.« Eleni lachte in sich hinein. »Und dann hat er gesagt, ich wäre die mutigste, schönste Frau, der er je begegnet war. Und ich wusste, dass er die Wahrheit sagte.«

»Oh.« Olivia war ganz gerührt. »Das ist ja süß.«

»Sechs Monate nach der Hochzeit hat er mir gesagt, dass er mich liebt, und auch das war die Wahrheit.« In Elenis Augen glitzerten nicht geweinte Tränen.

»Und er hat dich nie belogen?«, flüsterte Olivia.

»Einmal. Als dein Vater noch jung war, ist er aus einem Baum gefallen und hat sich den Arm gebrochen. Hector hat gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen und alles würde in Ordnung kommen. Aber das war gelogen. Er hatte furchtbare Angst um deinen Vater. Genau wie ich.«

»Das ist keine sehr schlimme Lüge. Er hat nur versucht, dich zu beruhigen.«

Eleni nickte. »Nicht alle Lügen sind schlimm. Der Versuch, jemanden zu hintergehen, ist das Schlimme daran. Dein Großvater war ein guter Mann, möge seine Seele in Frieden ruhen.« Sie bekreuzigte sich auf die Art der Orthodoxen, die rechte Schulter zuerst.

Olivia bekreuzigte sich ebenfalls, sozusagen aus Gewohnheit, denn seit ihrer Kindheit war sie so erzogen worden.

Eleni drückte ihre schmalen Schultern durch, als wollte sie nun dieser Gefühlsduselei ein Ende machen. »Ich koche dir einen Becher Kamillentee. Das hilft beim Einschlafen.« Sie ging eilig zurück ins Haus.

Noch einmal stützte sich Olivia mit den Ellbogen auf die Mauer zum Innenhof und sah hinab auf den Strand. Eine Brise wehte ihr eine Haarsträhne ins Gesicht, die sie zur Seite strich. Eigentlich hatte sie ihre langen Haare mit einer großen Klammer am Hinterkopf festgesteckt, aber ein paar frechen Strähnen war es wie immer gelungen, zu entkommen.

Sie atmete tief ein und genoss ihre Einsamkeit. Es gab Zeiten, wie vorhin bei der Willkommensparty, in denen es ihr schwerfiel, ständig alle Gefühle von allen Menschen um sich herum spüren zu müssen. Es fühlte sich dann an, als würde sie ertrinken und ihre eigenen Gefühle unter der Flut, die auf sie eindrang, begraben werden, bis sie fürchten musste, sich selbst vollkommen zu verlieren. Mit den Jahren hatte sie gelernt, damit umzugehen, aber manchmal wurde es ihr doch zu viel, und sie musste der Menge entkommen, ehe sie verrückt wurde.

Immerhin, bei ihrem Beruf hatte ihre Gabe der Empathie geholfen. Leider hatte ihre einzigartige Begabung auch dafür gesorgt, dass dieses Monster besessen von ihr geworden war. Denk nicht an ihn. Hier bist du in Sicherheit.

Eine Bewegung links von ihr riss sie aus ihren Gedanken. Aber als Olivia sich zu der Tamariskengruppe umdrehte, sah sie nur, wie die Bäume sich in der Brise wiegten. Nichts Seltsames war zu sehen.

Dann entdeckte sie ihn. Die einsame Gestalt eines Mannes tauchte aus den dunklen Schatten der Bäume auf. Er joggte am Strand entlang. Um diese Zeit, mitten in der Nacht? Als das helle Mondlicht ihn erfasste, stockte Olivia der Atem.

Sein Körper war atemberaubend, und auch wenn es aus der Ferne schwer zu beurteilen war, ging sie davon aus, dass auch sein Gesicht schön war. Er war in dunkle Joggingshorts und ein schlichtes weißes T-Shirt gekleidet und bewegte sich schnell und leichtfüßig über den Sandstrand. Seine Haut schien blass zu sein, aber das konnte auch am Mondlicht liegen.

Sie atmete tief ein, als er näher kam. Er war hochgewachsen. Sein T-Shirt spannte über wunderbar breiten Schultern, und die kurzen Ärmel lagen eng an seinem Bizeps an.

Wenn sie bloß sein Gesicht besser erkennen könnte. Ihr Blick wanderte hinüber zum Teleskop. Warum nicht? Schnell lief sie hinüber, richtete es auf den Mann und spähte durch das Sichtstück.

Oh ja, sein Gesicht war genauso schön. Seine Augen verrieten Wachsamkeit und Intelligenz. Blass, aber die Farbe konnte sie nicht erkennen. Sie hoffte auf Grün, das war ihre Lieblingsfarbe. Er hatte eine gerade, kräftige Nase, einen breiten Mund und einen kräftigen Kiefer, auf dem ein männlicher Dreitagebart sprießte. Ein grimmiger Ausdruck lag in seinen Gesichtszügen, aber das machte ihn nicht weniger attraktiv. Im Gegenteil. Es verstärkte seine Aura männlicher Kraft noch.

Während er an ihrem Haus vorbeilief, konnte Olivia einige Sekunden lang sein scharfes Profil bewundern, ehe sie ihren Blick auf seinen Körper richtete. Seine Brust weitete sich mit jedem tiefen Atemzug, und sie merkte, wie sie ihren Atem an seinen anpasste. Sie neigte das Teleskoprohr nach unten und entdeckte muskulöse Schenkel und Waden. Seine weißen Laufschuhe hinterließen einen gleichmäßigen Pfad im Sand.

Er lief den Strand entlang bis zu dem großen Felsen, den man auf der Insel Petra nannte, und gestattete ihr einen prächtigen Ausblick auf seine Rückseite.

» Oppa murmelte sie, während sie ihn weiter durch das Teleskop beobachtete. Sie hatte während ihrer Ausbildung für das FBI jede Menge gut durchtrainierter Männer gesehen, aber dieser Kerl stellte sie alle in den Schatten. Wo bei den anderen die Muskeln gezwungen und massig wirkten, war dieser Mann vollkommen natürlich und bewegte sich schlicht, elegant und kontrolliert.

Sie konzentrierte sich immer noch auf seinen Hintern, als sie bemerkte, dass er stehen geblieben war. War er außer Puste? Er war ihr nicht erschöpft vorgekommen. Jetzt drehte er sich langsam herum und gestattete ihr einen langen Blick zwischen seine Beine. Olivia schluckte.

Sie richtete die Linse wieder nach oben. Oje. Sein Oberkörper war jetzt in ihre Richtung gewendet. Er konnte doch nicht... Sie hob die Linse noch ein Stück mehr und zuckte erschreckt zurück.

Er sah sie direkt an!

Sie ließ das Teleskop los und zog ihre Decke fester um sich. Wie konnte er sie gesehen haben? Der Hof war dunkel, und die Mauer reichte ihr bis an die Hüfte. Aber andererseits, die Mauern waren weiß gekalkt, sie selbst war in eine weiße Decke eingehüllt, und der Mond und die Sterne schienen hell. Vielleicht konnte er wirklich so weit sehen. Aber er hatte sie doch nicht hören können? Sie hatte kaum mehr als geflüstert.

Er näherte sich und sah sie dabei eindringlich an. Oh Gott, er hatte sie dabei erwischt, wie sie ihn mit einem Teleskop begaffte! Sie presste eine Hand auf ihren Mund, um nicht laut zu stöhnen. Anscheinend wurde noch das leiseste Geräusch den ganzen Strand hinabgetragen.

Als er noch näher kam, brachte das Mondlicht sein Haar zum Glänzen. Rot? Auf der Feier war sie keinen rothaarigen Männern begegnet. Wer war dieser Mann?

»Olivia«, rief Eleni durch die offene Tür nach ihr. »Dein Tee ist aufgebrüht.«

Eilig lief sie in die Küche und wartete ungeduldig auf ihren Becher Tee. »Am Strand ist ein Mann.«

»Bist du sicher? Es ist fast zwei Uhr morgens.«

»Komm raus und sieh ihn dir an. Vielleicht kennst du ihn.« Olivia ging zurück auf den Hof und spähte über die Mauer.

Er war verschwunden.

»Er... er war da.« Olivia deutet nach Süden, auf Petra. Nirgendwo war eine Spur von ihm zu entdecken.

Eleni sah sie mitleidig an. »Du bist erschöpft und siehst Gespenster. Trink deinen Tee, Kind, und geh schlafen.«

»Er war echt«, flüsterte sie. Und der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Bitte, Gott, lass ihn echt gewesen sein.

Zum Teufel, wehe, wenn er das alles nur geträumt hatte. Robby sprintete die Steintreppen zu Romans Villa hinauf. Er würde nur ungern feststellen, dass er nach drei Monaten erzwungener Langeweile so weit war, Dinge zu sehen, die es nicht gab. Hinreißende Dinge wie einen weiß gekleideten Engel, der aus seinem Elfenbeinturm zu ihm hinabblickte.

Er ging um das Schwimmbecken und den Whirlpool herum auf das weiß gekalkte Haus zu. Es war ein altes Haus, aber mit allen modernen Annehmlichkeiten ausgestattet. Carlos saß im Wohnzimmer, hatte sich auf einem Sofa ausgestreckt, sah sich einen Film auf DVD an und knabberte dabei Popcorn.

Robby winkte ihm auf dem Weg in die Küche zu. Er nahm eine Flasche synthetisches Blut aus dem Kühlschrank und verfluchte seinen Ururgroßvater schweigend.

Angus war anscheinend von Anfang an klar gewesen, dass Robby versuchen würde, aus seinem erzwungenen Urlaub zu fliehen, denn wie durch einen seltsamen Zufall war dieses Haus auf einmal der bevorzugte Urlaubsort all ihrer Bekannten geworden.

In der letzten Augustwoche und der ersten Septemberhälfte hatten ihn Roman Draganesti und seine Familie gemeinsam mit ihren Leibwächtern Connor und Howard besucht. Da Connor und Howard beide für MacKay Security & Investigation arbeiteten, erstatteten sie Angus direkt Bericht. Und Robby hatte keine Gelegenheit gehabt, zu entkommen.

In der zweiten Septemberhälfte waren Jean-Luc Echarpe und seine Familie gekommen, ebenfalls mit ihren Leibwächtern, die ebenfalls für Angus arbeiteten. Dann hatten Jack und Lara ihn einige Wochen lang besucht. Dann Ian und Toni, und jetzt Carlos. Und natürlich arbeiteten sie alle für MacKay S&I.

Gefängniswärter. Dieser verfluchte Angus benutzte seine Angestellten als Wärter, um ihn auf dieser Gefängnisinsel festzuhalten. Er stellte die Flasche in die Mikrowelle und drückte auf einen Knopf.

»Was ist los?« Carlos kam mit einer leeren Popcornschüssel in die Küche geschlendert.

»Nichts.« Robby lehnte sich gegen die Anrichte und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Irgendetwas ist mit dir. Ich bin schon zwei Wochen hier, und jede Nacht gehst du raus, um zu joggen. Dann kommst du zurück, siehst mich finster an und knurrst, ich solle gefälligst Angus anrufen, um ihm zu sagen, dass du in Topform und keinesfalls verrückt bist.«

»Hast du Angus angerufen?«

»Nein. Sie haben noch keine Ahnung, wo Casimir sich versteckt. Du kannst genauso gut hierbleiben und es genießen.«

Robby seufzte. Angus würde sicher bessere Fortschritte bei der Suche nach Casimir machen, wenn er nicht einige seiner besten Angestellten abgestellt hätte, um auf ihn aufzupassen.

»Irgendetwas ist anders«, fuhr Carlos fort. »Heute Nacht bist du ohne finstere Blicke und ohne Knurren zurückgekommen. Woran liegt die Veränderung?«

Robby zuckte mit den Schultern. »Ich versuche dich davon zu überzeugen, dass ich nicht verrückt bin. Wenn ich immer weiter das Gleiche mache, obwohl es nicht funktioniert, wäre das nicht verrückt?«

»Guter Einwand.« Carlos spülte die Schüssel aus und stellte sie in den Geschirrspüler. »Dann versuchst du es heute Abend mit einer anderen Strategie.«

Robby nahm die Flasche Blut aus der Mikrowelle und schenkte sich ein Glas ein. »Heute Nacht habe ich einen Engel gesehen.«

Carlos riss die Augen weit auf. »Und du versuchst immer noch, mich zu überzeugen, dass du nicht verrückt bist?«

»Keinen echten Engel. Es sei denn, die wären dazu übergegangen, die Welt der Sterblichen mit Teleskopen zu beobachten.«

»Ah.« Carlos grinste. »Du hast eine Frau dabei erwischt, wie sie dich beäugt hat. War sie heiß?«

Sie war eine Göttin, eine wunderschöne griechische Göttin, aber Robby hatte keine Lust, diese Neuigkeiten mit dem Formwandler aus Brasilien zu teilen. Carlos konnte auch tagsüber neue Leute kennenlernen, während Robby dann so gut wie tot war. »Sie war schon in Ordnung.«

»Nur in Ordnung? Ich dachte, sie wäre ein Engel.«

Ohne darauf einzugehen, nahm Robby einen langen Zug aus dem Glas.

»Hast du mit ihr geredet?«, bohrte Carlos weiter. »Hast du ihre Nummer?«

Robby blickte mit gerunzelter Stirn in sein halb leeres Glas. »Nein.« Er hatte gehört, wie sie auf Griechisch geflüstert hatte, also konnten sie sich möglicherweise gar nicht verständigen. »Es hat auch keinen Sinn, darüber nachzudenken. Meine Gefangenschaft endet in drei Wochen.«

»Du bist nicht im Gefängnis, Muchacho. Außerdem kann in drei Wochen viel passieren.«

Robby leerte sein Glas. Er war nicht die Art Mann, die sich auf eine zwanglose Affäre einlassen konnte. Wenn er sich zu einer Frau hingezogen fühlte, war daran nichts Zwangloses. Und zu dieser Frau fühlte er sich unbestreitbar hingezogen.

Bei ihrem Anblick war die Welt um ihn herum zum Stillstand gekommen. Er hatte vergessen, dass er im Urlaub war und die Insel bald verlassen musste. Er hatte vergessen, dass es früher Morgen war und nicht der richtige Zeitpunkt, sich einer Frau zu nähern, die allein war. Er hatte vergessen, dass er ein Fremder war, der nur seine verschwitzten Sportsachen anhatte und ihr wahrscheinlich Angst machen würde. Zum Teufel, er hatte sogar vergessen, dass er ein Vampir war und es deswegen keine gute Idee sein konnte, sich mit einer Sterblichen einzulassen. Er hatte sich einfach nur zu ihr hingezogen gefühlt.

Und dann war sie ganz plötzlich verschwunden. Er war den ganzen Weg bis nach Hause gerannt und hatte sich gefragt, ob das alles eine Einbildung gewesen war. Immerhin joggte er seit drei Monaten jede Nacht am Strand. Wenn sie in diesem Haus lebte, warum hatte er sie dann noch nie vorher gesehen?

»Wenn du sie wiedersiehst, solltest du mit ihr reden.« Carlos schlenderte an ihm vorbei. »Eine schöne Frau ist vielleicht genau die richtige Therapie für dich.«

»Ich brauche keine Therapie.« Diesen ganzen Quatsch konnte er nicht mehr hören. Er brauchte nur Rache. Drei Monate hatte er jeden Tag Sport getrieben, um sich in Form zu bringen. Jetzt war er bereit, diese verdammte Insel hinter sich zu lassen und endlich Jagd auf Casimir zu machen.

Das hinreißende Gesicht des Engels kam ihm wieder in den Sinn und besänftigte ihn. Sie musste einfach echt sein. Ein Traum konnte ihn nicht so sehr verwirren. Er musste sie wiedersehen. Selbst wenn es ein Dutzend Gründe gab, ihr aus dem Weg zu gehen, er würde trotzdem versuchen, sie wiederzusehen.

Vielleicht brauchte er wirklich eine Therapie. Diese Therapie.

Es war schon nach drei Uhr am Morgen, als Olivia endlich einschlief. Leider war es Sonntag, und ihre Großmutter weckte sie bei Sonnenaufgang wieder, um gemeinsam mit ihr in die Kirche zu gehen. Laut ihrer Großmutter würden alle Bewohner von Grikos anfangen, schlecht über sie zu reden, wenn sie nicht mitkam.

Nach dem Gottesdienst musste Olivia in der Küche helfen. Es wurden riesige Mengen Essen gekocht, und dann - Überraschung! - tauchten zwei von Yayas besten Freundinnen mit ihren alleinstehenden Söhnen zum Abendessen auf. Olivia war höflich, aber insgeheim enttäuscht, weil keiner von beiden rote Haare hatte. Glücklicherweise sprachen sie genauso wenig Englisch wie Olivia Griechisch, was eine Unterhaltung enorm erschwerte. Ihre Gedanken wanderten immer wieder zurück zu dem Mann, den sie am Strand gesehen hatte. Wer war er? Würde er heute Nacht wieder dort sein?

Gegen neun Uhr abends wurde Olivia von Schlafmangel und Jetlag überwältigt und stolperte ins Bett. Sie würde nur ein kurzes Nickerchen halten, schwor sie sich. Um ein Uhr wollte sie wieder auf dem Innenhof sein und auf den geheimnisvollen Jogger warten.

Sie blinzelte schläfrig, als Sonnenlicht durch ihr Fenster strömte. »Oh nein!«

Mit einem Blick auf die Uhr setzte sie sich auf. Halb neun Uhr morgens? Verdammt. Sie schlüpfte in ihre roten Hausstiefel und schlurfte in die Küche.

»Da bist du ja, Schlafmütze.« Ihre Großmutter rührte etwas auf dem Herd. »Ich bin schon beim Bäcker gewesen. Auf dem Tisch ist frisches Brot, neben dem Honigtopf. Ich bringe dir eine Tasse Tee.«

»Danke.« Olivia setzte sich und schnitt sich eine dicke Scheibe Brot ab. Als sie nach dem Honigtopf griff, bemerkte sie die schmale Vase mit einer einzelnen Rosenblüte, die mitten auf dem Tisch stand. »Ich wusste nicht, dass du auch Rosen im Garten hast.«

»Habe ich nicht. Die kann man nicht essen.« Eleni stellte eine Tasse Tee auf den Tisch und sah sie mit einem Funkeln in den Augen an. »Ich glaube, du hast einen heimlichen Verehrer.«

Olivia blinzelte. »Ich?«

»Was glaubst du, wer es ist? Giorgios oder Dimitrios?« Eleni meinte die Männer, die am vorherigen Tag bei ihnen gewesen waren.

»Ich weiß es nicht.« Olivias Gedanken waren sofort bei dem geheimnisvollen Fremden mit den roten Haaren und den eindringlichen Augen. Konnte er es gewesen sein? Sie streckte die Hand aus, um die zarten roten Blütenblätter zu berühren. »Konntest du nicht sehen, wer sie gebracht hat?«

»Nein.« Eleni stemmte ihre Hände in ihre Hüften und sah die Blume mit gerunzelter Stirn an. »Es war auch keine Nachricht dabei. Als ich heute früh den Hof gefegt habe, habe ich sie auf dem halbem Weg die Treppe zum Strand hinunter gefunden. Sie lag einfach nur da, mit einem Stein beschwert.«

Olivias Herz begann zu rasen. »Wer auch immer sie dorthin gelegt hat, muss also vom Strand gekommen sein.« Die Rose musste von ihm sein.

»Natürlich! Sie muss von Spiro sein. Er lebt unten am Strand.« Eleni verschränkte grinsend ihre Hände ineinander. »Mein schöner Spiro und Olivia, zusammen, hier auf Patmos. Oh, was werdet ihr für wunderhübsche Kinder bekommen.«

»Einen Augenblick mal. Ich bin mir nicht so sicher, dass sie von Spiro ist. Und ich will nicht, dass du dir Hoffnungen machst, ich würde hierher ziehen. Ich habe mich auf Kriminelle spezialisiert, und ich bezweifle sehr, dass es auf Patmos genug davon gibt, um davon leben zu können.«

Olivias Großmutter hatte für alles eine Lösung. »Wir haben sehr wohl Kriminelle hier. Letztes Jahr war in Hora ein Junge, dem das Fahrrad gestohlen wurde. Auch noch direkt vor dem Kloster. Es war schockierend.«

Während Olivia sich Honig auf ihr Brot träufelte, schüttelte sie den Kopf. »Nicht schlimm genug.«

»Hmpf. Wozu brauchst du Kriminelle? Kannst du nicht den ganz normalen Verrückten helfen? Davon gibt es auf Patmos jede Menge. In Kambos lebt zum Beispiel ein Ziegenhirte, der mit seinen Ziegen spricht.«

Olivia nippte an ihrem Tee. »Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen mit ihren Tieren reden.«

»Ah, aber in seinem Fall antworten die Ziegen auch. Und die reinschwarze Ziege spricht nur Türkisch.«

»Ist er der schlimmste Fall, den ihr zu bieten habt?«

Nachdenklich legte Eleni ihren Kopf schräg. »Na ja, da ist der alte Witwer in Skala, den man dabei erwischt hat, wie er Maria Stephanopoulos durch ihr Fenster begafft hat. Sein Sohn nimmt ihn seither einmal die Woche mit an den Nacktbadestrand in Plaki, und es geht ihm schon viel besser.«

»Ich fürchte, dieser Zeitvertreib ist bei euch ansteckend. Ich habe gehört, in Grikos gibt es eine Witwe, die ihr Teleskop benutzt, um den Ziegenhirten, der in der Nähe wohnt, zu begaffen.«

»Ich bin keine Spannerin! Ich bewundere Spiro einfach nur. Er ist ein Kunstwerk. Es ist, als würde ich ins Museum gehen. Und ich will ihn nicht nackt sehen. Das wäre nicht richtig, jedenfalls nicht, solange ich will, dass er meine Enkelin heiratet.«

Vielleicht hatte ihre Großmutter recht. Nicht, was Spiro anging, sondern ihre Arbeit mit den Kriminellen. Ihr Leben könnte so anders verlaufen, wenn sie den sicheren Weg wählte und hier noch einmal von vorn anfing.

Doch wem wollte sie etwas vormachen? Sie würde keine zwei Monate aushalten, ehe die Langeweile sie in den Wahnsinn trieb. Die Aufregung, die ihre Arbeit für das FBI mit sich brachte, ließ sie immer wieder aufblühen. Das hatte so lange geklappt, bis sie mit einem bestimmten Kriminellen in Kontakt gekommen war. Mit dem Monster Otis Crump. Sie musste sich keine Sorgen machen, dass er ihr die Rose geschickt hatte. Er bevorzugte Apfel. Große rote Äpfel.

»Hmm.« Eleni trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und starrte die Rose an. »Ich mag keine Geheimnisse. Ich will wissen, wer dieser Verehrer ist.«

Olivia seufzte. Wenn Träume wahr werden konnten, war ihr geheimer Verehrer weder Spiro noch Giorgios noch Dimitrios. Er wäre der geheimnisvolle Mann, der mitten in der Nacht am Strand joggen gewesen war. War die Rose von ihm?

Bei dem Gedanken daran begann ihr Herz schnell zu klopfen. Ob er es nun gewesen war oder nicht, heute Nacht würde sie es herausfinden.