12. KAPITEL

 

Olivia war froh, als die Feiertage endlich vorbei waren. Der zusätzliche Stress schien für viele Leute ein Auslöser für Überreaktionen zu sein. Sie und ihre Kollegen beim FBI waren ohne Pause mit Morden und Entführungen beschäftigt, in der Regel begangen von nächsten Angehörigen. Wenigstens waren ihre eigenen Angehörigen nicht mehr wütend auf sie. Sie hatte Weihnachten bei ihnen in Houston verbracht, und es waren keine Äpfel dort angekommen.

Erst an einem bitterkalten Dienstagmorgen Ende Januar beruhigten sich die Dinge endlich wieder, und aus frenetischer Hektik wurde der normale Wahnsinn. Sie legte ihren Mantel und ihren Schal über ihre Stuhllehne, öffnete dann die unterste Schublade an ihrem Schreibtisch und ließ ihre Handtasche hineinfallen. Dort befanden sich als ständige Erinnerung an den Schmerz und die Verwirrung, die Robby in ihr auslöste, immer noch seine Briefe.

Er schickte ihr jede Woche einen Brief, und sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie saß an ihrem Schreibtisch und legte die drei Umschläge vor sich hin. Alle trugen den gleichen Absender, einen Ort namens Romatech Industries in White Plains, New York. Sollte sie ihm zurückschreiben? Und was sagen? Lass mich in Ruhe. Lass mich nicht in Ruhe.

Sie fuhr mit den Fingern ihren Namen nach, den seine Hand geschrieben hatte. Sie vermisste ihn so sehr, dass es wehtat. Der Schmerz seines Verrats war noch zu stark gewesen, als der zweite Brief gekommen war. Sie hatte ihn in den Müll geworfen.

Als der dritte Brief ankam, hatte sie gezögert. Würde ein Schuldiger weiter Briefe schreiben? Vielleicht. Otis war schuldig, und er liebte es, mit ihr in Kontakt zu treten. Tief in ihr drin rebellierte etwas gegen die Vorstellung, dass Robby und Otis sich auch nur im Entferntesten ähneln könnten.

Robby war edel und mutig. Er hatte sein Leben riskiert, um sie vor dem Panther zu retten.

Aber sie hatte Angst davor, auf ihre Instinkte zu vertrauen. Blindes Vertrauen konnte einen umbringen. Die Opfer von Otis hatten ihm alle vertraut, ehe sie erfahren mussten, dass er ein sadistischer Killer war.

Sie hatte den dritten Brief ungeöffnet in ihre Schreibtischschublade gesteckt. Seitdem waren zwei Wochen vergangen und zwei weitere Briefe angekommen. Feigling, rügte sie sich selbst. Warum machst du sie nicht auf?

Weil in ihnen bloß lauter Lügen stehen könnten. Vielleicht waren sie voll von gefühlsbeladenem Flehen, das ihr das Herz zerriss. Sie ließ die Briefe zurück in die Schublade fallen und schloss sie. Wenn sie einen davon öffnete, dann würde sie womöglich schwach werden, und dann bestand die Möglichkeit, noch einmal verletzt zu werden. Sie musste ihre Gefühle aus der Sache raushalten, denn wenn es um Robby ging, war sie ein emotionales Wrack.

Ihr Herz verzehrte sich nach ihm, aber ihr Verstand warnte sie, sich in Acht zu nehmen. Sie hatte ihn kaum eine Woche gekannt, und sie hatte seine Gefühle nicht lesen und nicht herausfinden können, ob er es ehrlich meinte. Sie konnte einfach weder ihm noch ihren Gefühlen für ihn trauen. Und ihr ständiges Analysieren trieb sie selbst in den Wahnsinn. Was sie brauchte, waren harte Fakten. Fakten, denen sie vertrauen konnte.

Vor drei Wochen, als der dritte Brief gekommen war und sie ihre Zweifel nicht länger ertragen wollte, hatte sie veranlasst, dass über Robby MacKay Ermittlungen angestellt wurden. Die Website von MacKay Security & Investigation war überraschend leer. Dort fand sich nicht mehr als Adressen in London und Edinburgh und ein Kontakt-Button, mit dem man per E-Mail mehr Informationen anfordern konnte. Sie hatte nichts geschrieben, weil sie die Firma nicht darauf aufmerksam machen wollte, dass sie ihr hinterherschnüffelte.

Im Büro war es so hektisch zugegangen, dass sie angefangen hatte, jeden Tag eine Stunde früher zu kommen, um ihre eigenen Ermittlungen voranzutreiben. Drei Wochen lang hatte sie geforscht, und sie war immer noch zu keinem Ergebnis gekommen. Es gab über den ganzen Planeten verteilt Hunderte Robert MacKays.

Sie hatte mit den drei Robert Alexander MacKays angefangen, die sie in Schottland gefunden hatte. Einer war ein vierundsechzig Jahre alter Allgemeinarzt in Aberdeen, einer ein fünfunddreißig Jahre alter Fischer auf der Isle of Mull und der letzte ein acht Jahre alter Schüler in Glasgow. Sackgasse.

Sie erinnerte sich, dass er erwähnt hatte, in Schottland ein Anwesen zu besitzen, aber auch diese Suche endete in einer Sackgasse.

Der verkürzte Name Robert MacKay lieferte ihr eine viel längere Namensliste, aber keiner dieser Namen brachte sie zum Ziel. Sie weitete die Suche auf die gesamten britischen Inseln aus, aber immer noch kein Glück. Sie entdeckte einen interessanten Artikel über einen Detektiv namens Robert MacKay, der in London einen berüchtigten Serienkiller gefasst hatte, aber das war schon 1921 gewesen. Noch eine Sackgasse.

Nur einen Hinweis auf Robbys Großvater vermutete sie gefunden zu haben. Einem Angus Alexander MacKay waren im zweiten Weltkrieg eine Medaille verliehen und der Ritterschlag erteilt worden. Danach wurde er nie mehr erwähnt. Noch eine Sackgasse.

Sie fuhr ihren Computer hoch und ging noch einmal durch die Notizen auf ihrem Schreibblock. Es gab mehrere Robert MacKays in Australien und Neuseeland, einige in Südamerika und Südafrika und eine ganze Reihe in Kanada. Da auf dem Absender New York gestanden hatte, suchte sie jetzt nach passenden Möglichkeiten in Amerika.

»Wie läuft die Jagd auf Robby?«

Sie blickte auf und entdeckte J. L. Wang, der seine Unterarme auf die Trennwand ihrer Kabine gestützt hatte. Vor einigen Wochen hatte sie ihm von der Begegnung mit einen Mann erzählt, den sie auf Patmos kennengelernt hatte und den sie verdächtigte, der Komplize von Otis zu sein. Seitdem interessierte J. L. sich für ihre Untersuchungen und nannte sie die »Jagd auf Robby«.

Sie seufzte. »Einhundertvierundzwanzig geschafft, noch etwa drei Billionen übrig.«

»Könnte schlimmer sein«, murmelte J. L. seinen Lieblingsspruch, »er könnte auch John Smith heißen.«

Genervt seufzte sie auf. »Ich arbeite jetzt drei Wochen an der Sache. Noch nie ist irgendwer so schwer zu finden gewesen.«

»Schade, dass der Kerl keinen außergewöhnlicheren Namen hat, zum Beispiel... Willoughby Gallsplat.«

»Gestern habe ich einen siebenundzwanzig Jahre alten Robert Alexander MacKay in Kentucky aufgespürt. Er ist ein ehemaliger Soldat, ausgezeichnet mit dem Purple Heart.«

»Klingt gut.«

»Ja, er klingt wie ein toller Kerl. Er ist der beste Spieler im Rollstuhl-Basketballteam des Ortes.«

»Ups. Ich nehme an, dein Robby hatte noch funktionierende Beine?«

»Ja.« Und eine herrliche Brust. Breite Schultern. Ein schönes Gesicht. Weiches Haar. Schöne grüne Augen.

»Hatte er ein funktionierendes Gehirn?«

Olivia warf J. L. einen tadelnden Blick zu. »Ja.«

»Ich meine ja nur, er muss schon ein Volltrottel sein, um jemanden wie dich gehen zu lassen.«

»Das ist lieb von dir, aber ich mache mir langsam Sorgen wegen der ganzen Sackgassen, in die ich laufe. Das ist nicht normal.« Sie blickte finster auf ihre Notizen. Was, wenn er einen falschen Namen angegeben hatte? Was, wenn alles gelogen war?

»Ja, ist echt komisch.« J. L. trommelte mit den Fingern auf der Trennwand. »Die ganzen Informationen, die wir haben, sollten es dir leicht machen, ihn zu finden. Man müsste sich schon absichtlich Mühe geben, nirgendwo erwähnt zu werden.«

Welche Art von Mensch hatte keine Vergangenheit? Heutzutage war es so gut wie unmöglich, jegliche Spuren von sich selbst zu verwischen. »Meinst du, er macht verdeckte Ermittlungen?«

»Vielleicht. Oder vielleicht hat er dir einfach einen falschen Namen gesagt.« J. L. hob eine Hand. »Das nehme ich zurück. Bei einer Lüge hättest du ihn sofort erwischt.«

Da waren wieder die Zweifel. »Das ist genau das Problem. Ich konnte ihn nicht lesen. Meine Großmutter konnte es auch nicht, und so etwas ist noch nie vorgekommen.«

»Noch nie? Mist. Er könnte wegen so vieler Sachen gelogen haben. Vielleicht hat er eine spezielle Ausbildung in Täuschung.«

Ein Schmerz verengte ihre Brust. »Dann glaubst du, dass er es ist, der Otis hilft, mich zu belästigen?«

J. L. sah sie traurig an. »Ich glaube, wir müssen der Sache auf den Grund gehen. Ich kann Gefühle nicht so wahrnehmen wie du, aber selbst ich merke, dass die Sache dir sehr wehtut.«

»Ich muss die Wahrheit wissen.« Sie musste wissen, ob Robby ehrlich gewesen war. Er hatte ihr seine Zuneigung gestanden. Er hatte sie so wunderbar geliebt. Es musste echt gewesen sein. Es war einfach zu schrecklich, sich etwas anderes vorzustellen.

»Du willst, dass er unschuldig ist, nicht?«, flüsterte J. L.

Sie nickte. Tränen sammelten sich in ihren Augen, und sie blinzelte, damit sie wieder verschwanden.

»Okay, nehmen wir an, er ist unschuldig. Wenn er die Äpfel nicht geschickt hat...«

»Dann hat es ein anderer getan«, beendete Olivia seinen Satz.

»Wer wusste, dass du nach Patmos gehst?«, fragte J. L.

»Meine Familie. Du.«

Er setzte eine schockierte Miene auf. »Ich bin unschuldig, das schwöre ich. Ich bin mein ganzes Leben lang ein braver Junge gewesen.«

»Ich nehme ein wenig Schwindelei wahr.«

»Mist. Ich wusste, ich hätte die Bank nicht ausrauben sollen.«

Sie grinste. J. L., der Gute, konnte sie immer irgendwie aufheitern.

»Und ich hätte Mickey Mouse in Disney World nicht zwischen die Beine treten sollen.«

Belustigt lehnte Olivia sich zurück. »Jetzt sagst du die Wahrheit.«

»Verdammt, du bist gut.«

»Warum hast du Mickey getreten?«

J. L. zuckte mit den Schultern. »Ich war erst drei Jahre alt. Stell dir vor, wie schrecklich es ist, ein grinsendes Nagetier zu treffen, das größer ist als du selbst. Außerdem wollte ich, glaube ich, endlich mein Eis.«

Sie lachte.

»Wer wusste sonst noch, wohin du gehst?«, hakte J. L. nach.

»Ein paar Leute hier.«

Die beiden sahen sich besorgt an.

J. L. warf einen Blick über die Schulter und sprach dann mit gesenkter Stimme weiter. »Was hat Barker dir gesagt?«

»Er hat zugestimmt, dass Otis einen Komplizen haben könnte, aber er hat mir befohlen, mich rauszuhalten. Er hat Harrison beauftragt, sich der Sache anzunehmen.« Sie stand auf. »Mal sehen, ob er das getan hat.«

Sie gingen zusammen zu Harrisons Arbeitsplatz. Bei den meisten Dingen schien Frank Harrison vollkommen normal: durchschnittliche Größe, durchschnittliches Gewicht, braunes Haar, braune Augen. Olivia nahm an, dass J. L.s Einschätzung stimmte. Harrison benahm sich wie ein Vollidiot, um sich von der Masse abzuheben.

»Haben Sie einen Augenblick Zeit, Harrison?«, fragte sie.

Er warf ihr einen genervten Blick zu und konzentrierte sich wieder auf seinen Monitor. »Ich bin beschäftigt. Falls Sie es nicht wissen sollten, der Morehouse-Fall ist immer noch offen.«

Olivia nickte. Tyson Morehouse war ein Postangestellter, der der Veruntreuung verdächtigt wurde. Er behauptete, nichts von dem fehlenden Geld zu wissen, aber Olivia hatte ihn am Tag zuvor verhört und wusste es besser.

»Er hat gelogen. Das steht in meinem Bericht.«

»Als bräuchten wir Ihr Input. Wir haben bereits herausgefunden, dass der Kerl schuldig ist. Saunders beschattet ihn, und ich sehe mir all seine Bankkonten an.« Er sah zu Olivia hoch. »Warum sparen Sie uns allen nicht Zeit und benutzen Ihre merkwürdige Gabe, um das fehlende Geld zu finden?«

»Ich bin keine Hellseherin, Harrison.«

»Oh. Zu schade.« Er wendete sich wieder dem Monitor zu. »Ich dachte, dieser ganze paranormale Mist wäre das Gleiche.«

Von J. L. ging eine gehörige Welle der Wut aus, also warf Olivia ihm einen warnenden Blick zu.

Er knirschte mit den Zähnen. »Hören Sie, Harrison, wir haben uns gefragt, ob Sie sich schon um die Sache Otis Crump gekümmert haben.«

»Noch mehr Zeitverschwendung«, murmelte Harrison, während er sich Notizen machte. »Ich bin am Freitag in Leavenworth gewesen und habe mit dem Aufseher dort gesprochen. Er hat einen der Wächter das Anmelderegister durchsehen lassen. Die einzigen Besucher, die Crump in den letzten acht Monaten hatte, waren ich und Sie, Sotiris.«

»Und seine Post?«

»Wird alles überprüft, Ankommendes wie Ausgehendes. Nichts über Äpfel.« Harrison sah sie an, und sie spürte, wie er immer verärgerter wurde. »Sie haben den Falschen. Irgendwer anders will Sie ärgern.«

Irgendetwas war faul an der Sache. Die Äpfel hatten nur für Otis eine Bedeutung. Oder für jemanden, der jedes Detail des Falls kannte. Vielleicht ein Bewunderer? Ein kranker Mensch, der Otis faszinierend fand und die Feinde des Kriminellen belästigen wollte, um auf eine verdrehte Art seine Treue zu beweisen? »Ich brauche eine Liste von allen Personen, die mit ihm in Kontakt waren.«

Ein kurzes Aufflackern des Zorns ging von Harrison aus, und er starrte sie wütend an. »Vergessen Sie es, Sotiris. Der Fall ist erledigt.«

»Er ist nicht erledigt, solange Otis mir noch Äpfel schickt.«

»Dann bekommen Sie eben ein bisschen Obst. Na und? Wenn Sie die Hitze nicht vertragen, stellen Sie sich nicht in die verdammte Küche.«

»Hey«, wendete J. L. ein, »reden Sie nicht so mit ihr.«

»Das geht dich nichts an, Jail«, antwortete Harrison und benutzte dabei seinen Spitznamen für J. L.

»Aufhören, alle beide.« Olivia hob ihre Hände. Sie erwiderte Harrisons wütenden Blick. »Ich nenne den Fall nicht abgeschlossen, weil Sie nicht gründlich gearbeitet haben. Und da Sie sich nicht die Mühe machen wollen, werde ich es selber tun.«

Harrison machte ein angewidertes Geräusch. »Sie sind verdammt noch mal besessen von dem Kerl. Sie zwei haben einander verdient.«

J. L. murmelte etwas auf Chinesisch, das nicht gerade freundlich klang, aber Olivia brachte ihn mit einem leichten Kopfschütteln zum Schweigen. Sie wendete sich wieder an Harrison. »Wie oft haben Sie Crump besucht?«

Harrison wendete sich wieder seinem Bildschirm zu. »Nur ein paarmal. Ich hasse dieses Arschloch.«

»Wann haben Sie ihn das letzte Mal besucht?«

»Weiß ich nicht mehr.«

Olivia erstarrte.

»Jetzt verziehen Sie sich und lassen Sie mich meine Arbeit 168 machen«, stieß Harrison durch zusammengebissene Zähne hervor.

Gerade als Olivia ihren Mund öffnen wollte, packte J. L. sie am Arm und zog sie davon.

»Komm, Sotiris, Sie haben den Mann gehört.« J. L. schob seine Kollegin zur Tür. »Lassen Sie ihn arbeiten.«

»Ich war noch nicht fertig«, flüsterte sie. »Er...«

»Schsch.« J. L. warf ihr einen warnenden Blick zu und flüsterte zurück: »Wir müssen den Mantel des Schweigens um uns hüllen.«

»Wir haben keinen Mantel des Schweigens.«

»Wir improvisieren etwas.« Er sah sich im offenen Arbeitsraum um. »Geh in Yasmines Büro. Sie ist heute nicht da. Wir treffen uns dort in fünf Minuten.«

»In Ordnung.« Olivia ging nach rechts, und J. L. bog nach links auf den Flur ab.

Sie schlüpfte in Yasmines Büro und stellte das Licht an. Hier befand sich auch der Schrank mit dem Bürobedarf, sie konnte, wenn jemand fragte, was sie hier machte, also immer behaupten, dass sie Büro- oder Heftklammern brauchte.

Sie ging im Büro auf und ab. Ihr Herz klopfte, als ihr klar wurde, wie ernst ihr Verdacht war. Warum sollte Harrison lügen, was seine Treffen mit Otis anging? Was hatte er zu verbergen? Es schien zu weit hergeholt, zu schrecklich, sich vorzustellen, dass ein Agent einem Kriminellen dabei half, sie zu belästigen. Tatsache war jedoch: Harrison hatte gelogen. Und warum wollte er ihr weismachen, dass es nicht Otis war, der ihr die Apfel schickte? Sie wusste, dass das nicht stimmte.

Sie ging weiter auf und ab, und ihre Gedanken wurden immer verworrener. Sie entdeckte den Pullover, den sie Yasmine geschenkt hatte, ordentlich gefaltet auf einem Regal. Gott sei Dank hatte Yasmine niemandem von ihrem Zusammenbruch im Waschraum erzählt. Sie fragte sich, wo die Büroleiterin war, und blieb am Schreibtisch stehen, um auf ihren Kalender zu sehen. Ein Arzttermin.

Die Tür öffnete sich, und J. L. kam mit einer Tüte Chips aus dem Automaten im Flur herein. Er schloss die Tür ab. »Okay, reden wir.«

»Harrison hat gelogen«, flüsterte sie.

»Ich weiß. Immer wenn du eine Lüge hörst, wirst du ganz angespannt und starr.«

»Werde ich das?«

»Ja, genau wie jetzt.« Er öffnete die Chips, und der Duft nach Nacho-Käse erfüllte den Raum. »Dann denken wir beide das Gleiche? Harrison hat dir die Äpfel geschickt?«

»Das ist eine schreckliche Anschuldigung. Wir können nicht annehmen, dass er schuldig ist, nur weil wir ihn nicht mögen.«

»Okay, abgesehen von unseren Gefühlen, sehen wir uns die Fakten an.« J. L. nahm eine Handvoll Chips aus der Tüte. »Er hat dich angelogen. Er wusste, wo du Urlaub machst. Er hatte die Gelegenheit - also Kontakt mit Otis. Und er hat eine Motivation.« Er steckte sich die Chips in den Mund.

»Welche Motivation? Ich weiß, dass er mich nicht mag...«

»Es könnte noch mehr sein. Du bist diejenige, die Otis' neueste Geständnisse aufgezeichnet hat. Sie versuchen vielleicht, dich labil wirken zu lassen, damit niemand dir glaubt.« J. L. bot ihr Chips an.

Sie schüttelte den Kopf und ging im Raum auf und ab. »Otis war bereits verurteilt, ehe er mich kennengelernt hat. Ich glaube nicht, dass es bei seinem Berufungsverfahren hilft, wenn ich wahnsinnig wirke.«

J. L. kaute. »Was würde helfen?«

»Er müsste unschuldig wirken.« Sie blieb ruckartig stehen. »Er könnte schwören, dass ein Komplize die Morde begangen hat.«

»Und du hast die ganze Zeit darauf bestanden, dass es einen Komplizen gibt.«

»Wegen der Äpfel, ja. Aber wenn er alle davon überzeugen kann, dass es auch während der Morde einen Komplizen gab...« Olivia stöhnte. »Er spielt mit mir. Dieser verdammte Bastard benutzt mich nur.«

»Sieht ganz so aus.« J. L. stopfte sich noch mehr Chips in den Mund. »Wir müssen vorsichtig sein bei der Sache.«

»Wir brauchen Beweise.« Olivia presste eine Hand gegen ihren Magen. Allein der Gedanke, dass ein Bundesagent sich mit einem Serienkiller verbündete - dabei konnte einem bloß schlecht werden.

»Ich überprüfe Harrison«, bot J. L. an. »Keine Sorge. Ich bin diskret dabei.«

»Und ich intensiviere meine Suche nach Robby.« Olivia beschloss, sich mit MacKay S&I in Verbindung zu setzen. Sie würde beweisen, dass Robby MacKay unschuldig war.

Und dann konnte sie ihn endlich lieben.