4. KAPITEL

 

Robby ging auf dem Innenhof auf und ab. »So ein Mist. Verdammt noch mal.«

Eine Mischung aus Wut und dem Gefühl, dass alles sinnlos war, stieg beim Anblick von Olivia in ihm auf. Zur Hölle mit allem. Gerade als er sich wieder Hoffnungen machte, brach alles um ihn herum zusammen. Einige Minuten lang hatte er wirklich geglaubt, dass die Zukunft für ihn mehr als nur Rache und Gewalt bereithielt, und es hatte sich gut angefühlt.

Er war einer Frau begegnet, die schön war, klug und hinreißend. Sie hatte ihn zum Lachen gebracht. Sie hatte eine neue Welt voller Möglichkeiten vor ihm eröffnet, und es hatte ihn überrascht, wie sehr er sich nach dieser Welt sehnte.

Noch mehr überraschte es ihn, dass diese Frau ihn anscheinend mochte. Er war jedenfalls von ihr hingerissen. Sie hatte sanfte braune Augen mit dichten schwarzen Wimpern. Dazu ein perfektes ovales Gesicht, eine kleine gerade Nase, einen verlockend rosigen Mund, und das alles umrahmt von wunderschönen schwarzen Locken, die sich wie ein Wasserfall über ihren Schultern ergossen und in den er eintauchen wollte.

Und sie war noch so viel mehr als eine klassische Schönheit. Sie war mutig, witzig und nett. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so viel gelacht oder gelächelt zu haben. Zum ersten Mal seit vielen Jahren kam es ihm vor wie... ein Segen.

Doch was er gerade erfahren hatte, machte ihn wütend. Er war nicht gesegnet. Er war verflucht.

Robby blieb an der Mauer stehen und blicke auf das dunkle Meer hinab. Sein Magen war unruhig wie die Wellen. »Hast du gedacht, ich finde es nicht heraus? Du kannst Angus anrufen und ihm sagen, er soll sich verpissen.«

»Ich kenne keinen Angus.«

Er wirbelte herum und starrte sie wütend an. »Natürlich kennst du ihn. Er hat dich hergeschickt.«

Sie stand auf und sah ihn skeptisch an. »Ich kenne höchstens Angus-Rinder, und von denen hat mir noch keines gesagt, was ich tun soll.«

»Du bist entweder von Angus oder von Emma hergeschickt worden. Wahrscheinlich bist du nicht einmal Griechin. Ist Olivia dein richtiger Name?«

»Ja, ist er. Und ich habe nie behauptet, Griechin zu sein. Ich bin Amerikanerin.« Wütend stemmte sie ihre Hände in die Hüften und funkelte ihn an. »Und ich lüge nicht.«

»Bist du sicher? Würdest du mich dann vielleicht deinen vier Onkeln vorstellen, die alle Profi-Wrestler sind?«

»Das sollte ich. Du verdienst die Prügel, die sie austeilen würden.«

»Dann los.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Na gut. Das war etwas ausgeschmückt, aber nur zu meinem Schutz. Und jetzt, da wir so ehrlich miteinander sind, denke ich, du solltest gehen.«

Er erstarrte. Wies sie ihn zurück? Warum war sie so aufgebracht? Er war schließlich derjenige, den man ausgetrickst hatte. »Angus wird dich nicht bezahlen, wenn du die blöde Therapie nicht durchziehst.«

»Ich kenne keinen Angus!«, brüllte sie ihn an, zuckte dann zusammen und sah zum Haus zurück. »Wir müssen leise sein. Sonst wecken wir noch meine...«

»Vier Onkel auf Steroiden?«

»Glaub es oder nicht, ich habe kein Interesse daran, dich zu therapieren. Du bist offensichtlich viel zu stur und paranoid und verschließt dich vor vernünftigen Argumenten.«

»Ich bin nicht paranoid!« Robby war sich nicht sicher, ob er auch die Sturheit leugnen konnte.

»Du glaubst, es gibt eine große Verschwörung, die mich auf diese Insel geführt hat, damit ich dich zu einer Therapie zwinge. Das ist paranoid und noch dazu vollkommen selbstbezogen.«

»Verdammt noch mal. Haben die dich hergeschickt, um mich zu beleidigen?«

»Verfolgungswahn«, murmelte sie leise. »Wer sind ›die‹? Außerirdische aus einer anderen Galaxie? Sprechende Angus-Rinder, die verlangen, dass wir öfter Hühnchen essen?«

»Mach dich nicht über mich lustig, Weib. Angus ist mein Großvater.«

»Weib?«

Er warf ihr einen finsteren Blick zu. »Es ist mir aufgefallen. Ein Mann müsste verrückt sein, es nicht zu merken. Und ich bin nicht verrückt.«

»Du glaubst, deine eigene Familie will dir schaden.« Olivia wusste gar nicht mehr, was sie davon halten sollte.

So ein Mist. Das alles klang wirklich paranoid. Aber es war ein zu großer Zufall, dass Angus und Emma ihn so sehr zu einer Therapie drängten und dann tauchte wie durch Zauberhand wirklich eine Therapeutin auf. »Schwörst du, dass Angus dich nicht geschickt hat?«

»Ich schwöre. Ich habe doch gesagt, ich arbeite für das FBI. Ich bin auf Kriminalpsychologie spezialisiert, du interessierst mich also nicht.« Sie sah ihn kritisch an. »Es sei denn, du bist ein Krimineller.«

Er hob eine Augenbraue. »Hat Sean Whelan dich geschickt?«

»Den kenne ich auch nicht.«

»Er arbeitet für die CIA.«

»Die CIA ist also auch hinter dir her?«

»Ich bin nicht paranoid!«

»Vielleicht solltest du in den Zitronenbäumen nachsehen«, flüsterte sie und zeigte in die Richtung der Topfpflanzen. »Ob Wanzen drinstecken.«

»Weib...« Er hielt inne, als ihre braunen Augen aufblitzten. Allmächtiger, sie war wunderschön. »Vielleicht sollte ich dich ausziehen und nach Wanzen absuchen.«

Ihre Wangen überzogen sich mit einem rosigen Schimmer.

»Vielleicht solltest du gehen.«

Was zum Teufel machte er da? »Ich... Es tut mir leid. Das war natürlich nicht so gemeint. Ich werde dich nicht ausziehen.« Nicht heute Nacht.

Ohne ihn anzusehen deutete Olivia auf die Treppe.

Wortlos wandte er sich um. Was für ein Dummkopf er doch war. Erst warf er ihr vor, für Angus zu arbeiten, und dann beleidigte er sie auch noch.

Die Treppe gähnte vor ihm wie ein schwarzer Abgrund. Er zögerte und hatte plötzlich das Gefühl, die Stufen würden ihn direkt in die Hölle hinabführen. Konnte er in ein Leben zurückkehren, das von nichts als Wut und Rache bestimmt war?

Kein Lachen. Kein Flirten. Keine Olivia.

Bei dem Gedanken daran, was er verloren hatte, wurde sein Herz schwer. »Es tut mir wirklich leid, Olivia. Ich wollte dich nicht beleidigen.«

Er sah sich zu ihr um und bemerkte die Tränen in ihren Augen.

»Sei nicht traurig. Ich habe einfach überreagiert. Ich bin mir sicher, du bist eine sehr gute Psychologin. Es gibt nur gewisse... Dinge, über die ich nicht reden will. Ich sehe keinen Sinn darin, alte Wunden wieder aufzureißen.«

»Ich verstehe. Aber das... ändert nichts. Du kannst genauso gut gehen.«

Warum war sie nur vom einen auf den nächsten Moment so niedergeschlagen? Er wollte sie nicht so traurig sehen. »Warum bist du so traurig?«

Sie rieb sich die Stirn, als würde ihr der Kopf wehtun. »Es läuft für mich nie gut. Sie gehen immer alle.«

»Wer?«

»Männer. Verabredungen. Ich mache mir Hoffnungen, dann finden sie die Wahrheit über mich heraus und rennen so schnell sie können davon.«

Neugierig musterte er Olivia. Normalerweise war immer er derjenige mit dem düsteren Geheimnis. Er atmete ihren Duft tief ein. Keine Formwandlerin. Herrlich süß, wie es nur eine Sterbliche sein konnte. Blutgruppe A negativ. »Du bist sehr klug und schön. Ich kann mir nicht vorstellen, warum ein Mann dich verlassen sollte.«

»Das ist nett von dir, aber...« Ihr Atem ging schwer. »Ich bin eine Empathin. Ich kann die Gefühle von anderen Menschen empfinden. Ich kann sie sogar in Farbe sehen, wenn die Emotionen wirklich stark sind.«

»Du weißt, was ich fühle?« Robby kämpfte schon den ganzen Abend gegen einen akuten Anfall von Begehren. Hatte sie das etwa die ganze Zeit gewusst?

»Es wird sogar noch schlimmer«, fuhr sie fort. »Ich kann sagen, wann die Menschen mich anlügen, wie ein menschlicher Lügendetektor. Bei der Arbeit ist das wahnsinnig praktisch, aber für Beziehungen ist es tödlich. Sobald ein Mann versucht mich anzulügen, setze ich ihn vor die Tür.«

Genau wie sie es jetzt mit ihm machte. Robby dachte über ihre Unterhaltung nach. Er war ihr vielleicht ein paarmal ausgewichen, eigentlich hatte er aber sogar mehr von sich selbst verraten, als er vorgehabt hatte. Man konnte sich gut mit ihr unterhalten. »Ich habe dich nicht angelogen, Olivia.«

Sie biss sich auf die Lippe und legte die Stirn in Falten.

»Und da ich auch kein Lügner bin, soll ich gehen, weil du glaubst, ich wäre verrückt? Ich bin nicht verrückt. Deine Lügendetektor-Fähigkeiten sollten dir verraten, dass ich die Wahrheit sage.«

Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen. »Ich glaube nicht, dass du verrückt bist. Du hast offensichtlich einige Probleme, mit denen du noch kämpfst, aber das haben wir alle.«

»Dann... sollten wir doch zurechtkommen.«

Fassungslos starrte sie ihn an. »Macht meine Gabe dir nichts aus? Normalerweise machen die Männer sich auf den Weg zur Tür, nachdem ich ihnen davon erzählt habe. Manche wären schon längst über die halbe Insel geflohen.«

»Es ist eine seltsame Gabe, das schon, aber ich... ich bin nicht in der Position, Steine nach jemandem zu werfen, nur weil er anders ist als die anderen.«

Sie sah immer noch fassungslos aus. »Dann macht es dir nichts aus?«

»Aye. Ich würde dich gern wiedersehen.«

»Ich... ich kann nicht. Es tut mir leid.«

Das tat mehr weh, als er erwartet hatte. Verdammt, warum sollte sie ihn zurückweisen? Sie wusste nichts von seinem Vampirdasein. Sie glaubte nicht, dass er verrückt war. Er war ehrlich zu ihr gewesen, also hatte sie ihn auch nicht bei einer Lüge erwischen können. Aber wenn er sich weiterhin mit ihr traf, würde er sie dann nicht eines Tages belügen müssen? Und dann fand sie es sofort heraus.

Es sei denn... Ihm kam ein leiser Verdacht. »Was empfinde ich jetzt gerade?«

Irgendwie schien sie unsicher zu sein. »Ich würde sagen, du bist... verärgert?«

Nicht einmal nah dran. Sein Herz tat ihm weh bei dem Gedanken, sie nie wiederzusehen. Er kam einen Schritt auf sie zu. »Du kannst mich gar nicht spüren, oder?«

»Ich möchte nicht darüber reden...«

»Da dir Ehrlichkeit so wichtig ist, solltest du auch mir die Wahrheit sagen.«

»Okay. Ich kann dich überhaupt nicht spüren. Und ich weiß nicht, warum. Das ist mir noch nie passiert.«

Offensichtlich war sie noch nie einem Untoten begegnet. »Du kannst nicht sagen, ob ich lüge?«

»Nein.« Ihre Schultern sackten zusammen. »Es ist schrecklich. Ich fühle mich so... blind.«

»Aber was ist daran so schlimm? Wir sitzen im selben Boot. Ich kann auch nicht sagen, ob du lügst oder nicht.«

»Die Lüge mit meinen Onkeln hast du herausgefunden.«

Robby blickte sie zärtlich an. »Ich mache dir deswegen keine Vorwürfe. Ich fand es verständlich und irgendwie... niedlich.«

Für ihn sah es aus wie eine Einladung, als sie ihren Mund vor Erstaunen leicht öffnete. Allmächtiger. Er musste sie jetzt küssen. Er trat noch einen weiteren Schritt auf sie zu.

»Es tut mir leid, aber ich kann mich nicht mit jemandem einlassen, den ich nicht lesen kann.« Vorsichtig wich sie ein Stück zurück.

Obwohl sie eine Therapeutin war, akzeptierte er sie. Warum zur Hölle konnte sie ihn nicht akzeptieren? »Olivia, wir haben gescherzt und gelacht und uns in den letzten Stunden gut unterhalten. Man braucht keine besonderen Fähigkeiten, um zu sehen, wie glücklich wir waren.«

In ihren Augen schimmerten Tränen. »Mir hat es auch Spaß gemacht. Aber ich kann keine Beziehung mit jemandem eingehen, dem ich nicht vertrauen kann.«

Von allen Vorwürfen, die man ihm machen konnte, war das wohl der absolut schlimmste. »Du... du glaubst, man kann mir nicht vertrauen?« Seine Stimme erhob sich zu einem Brüllen.

Erschreckt wich sie zurück.

»Verdammt noch mal.« Robby wendete sich ab. Er musste seine Wut in den Griff bekommen, aber es war offensichtlich, dass er mehr als verärgert war. Sie griff nach dem Kricketschläger.

»Ich werde dir nicht wehtun.« Zum Teufel mit allem. Erst hatte er sie beleidigt, und jetzt jagte er ihr Angst ein. Es ließ sich nicht ändern. Er musste es ihr erklären. Sie würde ihn sonst nie verstehen. »Ich wollte es dir nicht erzählen, aber... ich habe eines Nachts in der Schlacht gegen den Feind gekämpft. Und ich bin dabei gefangen genommen worden.«

Robby wendete sich ab, weil er sich schämte, ihr seine Opferrolle gestehen zu müssen. »Sie wollten Informationen über meine Kameraden. Als ich mich geweigert habe, zu sprechen, haben sie mich... gefoltert. Zwei Nächte lang.«

Der Schläger, den sie eben noch festgehalten hatte, fiel polternd auf den Fliesenboden.

Er drehte sich zu ihr um. »Ich habe ihnen nichts verraten. Ich würde meine Freunde nie hintergehen. Sie haben mich verbrannt, mich geschnitten, mir die Finger gebrochen, die Füße zertrümmert...«

Sie legte eine zitternde Hand über ihren Mund, aber ein ersticktes Wimmern entschlüpfte ihr doch.

»Ich habe meine Freunde nicht hintergangen. Ich habe um meinen Tod gebetet, damit ich sie nicht hintergehen muss.«

»Es tut mir so leid«, flüsterte sie.

»Ich will dein Mitleid nicht.«

»Aber es tut mir trotzdem leid.«

»Verdammt noch mal, ich wollte es dir nicht einmal erzählen.« Er ging eilig ein Stück von ihr fort. »Jetzt wirst du mich als einen armseligen Schwächling ansehen, der dumm genug war, sich gefangen nehmen zu lassen...«

»Nein.« Sie trat auf ihn zu. »Wage es nicht, dir selbst die Schuld zu geben. Es war nicht deine Schuld.«

Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Schon fing sie mit dem Therapieren an. »Olivia, ich habe dir nur davon erzählt, damit du verstehst, wie wichtig mir Loyalität ist. Ich würde lieber sterben, als meine Freunde und meine Familie zu hintergehen. Du wirst kaum einen Mann finden, der so vertrauenswürdig ist wie ich.«

»Und so bescheiden.« Seine Beichte hatte sie mehr als besänftigt.

»Na also. Du kannst mich sehr gut lesen, ich glaube nicht, dass du deine besondere Gabe bei mir überhaupt brauchst.«

Sie steckte sich eine lockige Strähne hinter ihr Ohr. »Vielleicht. Ich weiß nicht. Das ist so... seltsam.«

»Du kannst mir vertrauen. Darf ich dich morgen Nacht wiedersehen?«

Mit unruhigem Blick versuchte sie ihn zu erforschen. Und Robby spürte, wie die Lust, gegen die er den ganzen Abend angekämpft hatte, ihn mit voller Kraft erfasste. Er stopfte seine Fäuste in die Taschen seiner Kapuzenjacke, um sie nicht fest an sich zu ziehen. Allmächtiger, er wollte ihre Zweifel einfach fortküssen.

Ihr rosiger Mund war so weich und süß. Um ihn herum bekam alles langsam einen rosigen Stich, was nur bedeuten konnte, dass seine Augen sich rot verfärbten. Ein sicheres Zeichen, dass er sie bis zur Verzweiflung begehrte. Sie leckte sich die Lippen, und er schloss die Augen und betete darum, die Kontrolle zu behalten.

»In Ordnung«, flüsterte sie.

Gott sei Dank. Er spürte, wie sie seinen Körper betrachtete. Sie wollte ihn. Er brauchte keine empathische Gabe, um die Hitze zu fühlen, die von ihr ausging. Er konnte hören, wie ihr Herz heftig pochte. Vielleicht konnte er doch noch einen Kuss von ihr stehlen. Den Blick auf ihre Füße gerichtet, damit seine glühenden roten Augen ihr keine Angst einjagten, machte er einen Schritt in ihre Richtung.

»Dann sehen wir uns morgen.« Sie drehte sich um und rannte ins Haus.

Mit einem tiefen Atemzug versuchte Robby, sein rasendes Begehren zu beruhigen. »Olivia«, flüsterte er, einfach, weil er den Klang gerne hörte. Er mochte, wie der Name über seine Zunge rollte. Sie war so schön. Einzigartig. Sie war es wert, jeden Schritt des Weges um sie zu kämpfen.

Seine Augen normalisierten sich langsam, und er ging mit einem wachsenden Gefühl des Triumphes auf die Treppe zu. Sie hatte versucht, ihn zurückzuweisen, aber er war hartnäckig geblieben und am Ende siegreich hervorgegangen. Das Schicksal war doch auf seiner Seite.

Als er endlich am Strand angekommen war, grinste Robby. Er würde sie wiedersehen. Wieder flirten. Wieder lachen.

Das Leben war schön. Er hatte Olivia gefunden.

****

»Ich dachte schon, du stehst gar nicht mehr auf.« Eleni Sotiris runzelte die Stirn, als ihre Enkelin kurz vor elf Uhr morgens in die Küche geschlendert kam. »Kannst du immer noch nicht schlafen?«

»Nein, ich fürchte nicht.« Olivia gähnte. Sie hatte den größten Teil der Nacht damit verbracht, sich von einer Seite auf die andere zu wälzen und das Treffen mit Robby MacKay in ihren Gedanken noch einmal ablaufen zu lassen. Und nachdem sie die Szene ein Dutzend Mal realistisch nachgespielt hatte, raubten ihr andere Gedanken den Schlaf. Was, wenn sie zugelassen hätte, dass er sie küsste?

Sie brühte sich eine Tasse heißen Tee auf, während ihre Großmutter am Tisch saß und eine Zwiebel in kleine Würfel hackte.

Dann warf Eleni die Zwiebel in eine Rührschüssel voller Hackfleisch. »Machst du dir immer noch Sorgen wegen des bösen Mannes? Du hast mir noch nicht von ihm erzählt.«

»Es liegt nicht an ihm.« Das war das Gute an Robby MacKay. Er hatte sie gründlich von Otis Crump abgelenkt. Olivia spähte in die Rührschüssel. »Werden das Hamburger?«

»Etwas Rind, etwas Lamm. Dazu Taboulé.« Eleni begann ein paar Knoblauchzehen zu schälen. »Weißt du nicht mehr, was in die Füllung von Dolmades gehört?«

Olivia setzte sich ihrer Großmutter gegenüber und nippte an ihrem Tee. Sie könnte lügen, aber ihre Großmutter merkte sofort, wenn sie es versuchte. »Anscheinend nicht.«

Besorgt betrachtete Eleni ihre Enkelin. »Aber du erinnerst dich doch daran, wie man Dolmades macht?«

»Nicht so richtig.« Es war Jahre her, seit sie sich das letzte Mal an gefüllten Weinblättern versucht hatte. Und immer war das Ergebnis matschig und schief ausgefallen.

Ihre Großmutter schnalzte missbilligend mit der Zunge, während sie den Knoblauch hackte. »Wie soll aus dir eine gute griechische Ehefrau werden, wenn du nicht weißt, wie man kocht? Was hast du bloß die ganze Zeit gemacht?«

»Ich bin aufs College gegangen. Habe meinen Master gemacht. War zur Ausbildung auf der FBI-Akademie in Quantico. Habe Jagd auf die Bösen gemacht.« Sie sah ihre Großmutter schräg an. »Weißt du, Mädchenkram eben.«

Nachdenklich nickte Eleni vor sich hin. »Es braucht einen besonderen Ehemann, um mit dir Schritt zu halten.«

Olivias Gedanken waren sofort bei Robby MacKay. Er war auf jeden Fall etwas Besonderes. Sie hatte versucht ihn zu vergraulen, aber er hatte sich geweigert, sie einfach so aufzugeben.

Eleni warf den gehackten Knoblauch in die Rührschüssel. »Ich brauche frische Petersilie.« Sie nahm sich eine Schere und ging durch die Hintertür auf die Terrasse hinaus.

Während sie an ihrem Tee nippte, bemerkte Olivia die rote Rosenblüte, die sich geöffnet hatte. Nachdem Robby gegangen war, hatte sie die Blume wieder in ihre Vase auf den Küchentisch gestellt. Ihr süßer Duft versuchte die Zwiebeln und den Knoblauch in Yayas Rezept zu übertrumpfen.

Wie lange würde es der Rose gelingen? Und wie lange würde ihre Bekanntschaft mit Robby andauern? In zwei Wochen begleitete sie ihre Großmutter nach Houston, wo sie die Weihnachtstage verbringen wollten. Es schien ihr mehr als zweifelhaft, dass sie und Robby sich noch einmal wiedersehen würden, wenn sie Patmos erst verlassen hatte.

Aber warum sollte ihr das etwas ausmachen? Die Beziehung war sowieso verdammt. Sie konnte sich niemals mit einem Mann einlassen, den sie nicht lesen konnte. Sie konnte nie wissen, ob er vollkommen ehrlich mit ihr war.

Dennoch gab es einige Fakten, die nicht anzuzweifeln waren. Erstens sah er unglaublich gut aus. Zweitens fühlte sie sich hoffnungslos zu ihm hingezogen. Sie war sich ziemlich sicher, dass seine Geschichte der Wahrheit entsprach. Er war ein Soldat, den man gefangen genommen und zwei Tage lang gefoltert hatte. Das ließ ihr einen kalten Schauer den Rücken hinablaufen.

Konnte er sich die Geschichte ausgedacht haben, um ihr Mitleid zu erregen? Ja. Aber sein Zögern davor, sie ihr zu erzählen, hatte echt gewirkt. Auch der Schmerz in seinen Augen war nicht gespielt gewesen. Nur zu dumm, dass es in Yayas Haus keinen Computer mit Internetanschluss gab, damit sie ihn überprüfen konnte.

Sie war versucht, ihm zu glauben. Sie wollte ihm glauben. Wenn er wirklich die Folter überlebt hatte, erklärte das einiges: sein Zaudern, zuzugeben, dass er traumatisiert war. Seine Tendenz, misstrauisch und paranoid zu sein.

Es war nicht überraschend, dass seine Familie von ihm verlangte, einen Therapeuten aufzusuchen. Und es war auch nicht überraschend, dass er dem gegenüber abgeneigt war. Wer würde solch ein Erlebnis noch einmal durchleben wollen? Zweifellos fand ein großer starker Mann wie Robby es peinlich, zuzugeben, dass man ihn zu einem vollkommen hilflosen Opfer gemacht hatte.

Sicher, seine körperlichen Wunden mochten verheilt sein, aber die Wunde in seinem Innern klaffte immer noch tief. Und sie hatte ihn erneut gedemütigt mit ihrer Andeutung, dass man ihm nicht vertrauen konnte.

Eleni kam mit einem Strauß Petersilie in der Hand zurück in die Küche marschiert. »Wir machen Dolmades, Spanakopita, Lamm und Salat zum Abendessen. Ich werde deine Hilfe brauchen.« Sie wusch die Petersilie in der Spüle ab.

Misstrauisch wandte sie sich ihrer Großmutter zu. »Das scheint mir sehr viel Essen nur für uns beide.«

Eleni setzte sich ihr gegenüber und begann die Petersilie zu hacken. »Ich habe Spiro zum Abendessen eingeladen. Dolmades sind seine Leibspeise.«

Olivia stöhnte. »Spricht er überhaupt Englisch?«

»Ein paar Worte.« Eleni schüttete die gehackte Petersilie in die Rührschüssel. »Ich weiß, dass ich dir auf die Nerven gehe, aber keine Sorge. Die Sprache der Liebe braucht keine Worte.«

Widerspruchslos nippte Olivia an ihrem Tee. Es würde nichts bringen, sich zu beschweren.

Eleni steckte ihre Hände in die Rührschüssel, um alle Zutaten miteinander zu vermischen. »Wir werden einige Stunden beschäftigt sein. Warum erzählst du mir nicht von dem bösen Mann, der dir solche Sorgen bereitet?«

»Hier kann er mir nichts anhaben.« Das hoffte sie jedenfalls. »Er sitzt im Gefängnis.«

»Gefängnis? Was hat er verbrochen?«

»Er hat dreizehn Frauen vergewaltigt und ermordet.«

Angewidert blickte Eleni auf. »Ich weiß nicht, wie du dich mit so schrecklichen Menschen abgeben kannst.«

Otis Crump war mehr als schrecklich. Olivia hatte viele Kriminelle verhört, aber sie hatte sich noch nie gefühlt, als stünde sie dem Bösen von Angesicht zu Angesicht gegenüber, bis sie Otis begegnet war. »Ich möchte lieber nicht über ihn reden.« Ihre Großmutter sollte nicht alle grausigen Details erfahren.

Eleni schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge, während sie die Weinblätter vorbereitete. »In Ordnung. Jetzt sieh mir zu, damit du lernst, wie man es macht.« Sie gab einen Löffelvoll Fleischfüllung auf ein Weinblatt, faltete erst den Stiel zur Mitte, dann die Seiten und rollte es dann zusammen.

Olivia wollte die Gedanken an Otis vertreiben, also nahm sie die Rose aus ihrem Gefäß und hielt sie sich an die Nase. Der Duft stieg in ihren Kopf und erinnerte sie an Robby.

»Du siehst mir nicht zu«, rügte Eleni sie. Sie kniff die Augen zusammen. »Und du fühlst dich auf einmal besser.«

Olivia lächelte und streichelte die samtigen Rosenblätter. »Letzte Nacht habe ich den Mann getroffen, der die Rose hiergelassen hat.«

»Deinen heimlichen Verehrer? Wer ist er?«

»Er heißt Robert Alexander MacKay. Kurz Robby.«

Eleni sah verwirrt aus. »Das klingt nicht nach einem Griechen.«

»Er ist Schotte.« Als ihre Großmutter sie fragend ansah, erklärte sie weiter: »Weißt du, aus Schottland? Karierte Röcke und Dudelsäcke?«

Eleni schürzte ihre Lippen. »Er kommt von einer Insel?«

»Ja.«

 »Hmm. Dann kann er so schlecht nicht sein.« Sie rollte ein weiteres Weinblatt zusammen. »Ist er hergekommen? Warum bin ich ihm nicht begegnet?«

»Es war nach Mitternacht. Du hast schon geschlafen.«

»Warum so spät? Ist er so etwas wie ein Schmuggler?«

»Nein. Er geht nachts joggen. Ich habe ihn in meiner ersten Nacht hier gesehen. Und er hat mich gesehen. Aus der Ferne. Wir haben uns nicht unterhalten. Und in der nächsten Nacht hat er die Rose hiergelassen.«

»Hmm.« Eleni runzelte die Stirn, während sie ein weiteres Weinblatt füllte. »Und du hast letzte Nacht mit ihm geredet?«

»Ja. Auf dem Innenhof.«

»Er hat doch keinen Unsinn mit dir versucht?«

»Nein. Er kam mir... wirklich nett vor.« Olivia stellte die Rose zurück in die Vase. »Er hat mir gesagt, dass ich mutig bin, und schön, genau die Worte, die Grandpa zu dir gesagt hat.«

»Das ist gut.« Eleni legte den Kopf zur Seite. »Jetzt spüre ich Sorge und Angst. Was ist los?«

Olivia trug ihre Teetasse zur Spüle und wusch sie aus. Ihre Gefühlsschwankungen glichen momentan einer Achterbahnfahrt. In einem Moment sonnte sie sich in der Wärme ihrer Gefühle für Robby, in der nächsten wich sie voll kalter Angst zurück. »Ich habe ihm von meiner Gabe erzählt.«

»Wie hat er es aufgenommen?«

»Er... schien damit keine Probleme zu haben.«

»Schien? Konntest du nicht sagen, was er fühlt?«

»Nein, konnte ich nicht.« Olivia ging wieder zum Tisch zurück. »Ist dir das schon einmal passiert? Hast du schon einmal jemanden getroffen, den du nicht lesen konntest?«

Langsam schüttelte Eleni den Kopf. »Nein. Noch nie.«

Ein kaltes Kribbeln breitete sich über Olivias Nacken aus. »Kommt dir das nicht sehr seltsam vor?«

»Schon. Hast du deswegen Angst vor ihm?«

Mit einem Stöhnen setzte Olivia sich hin und stützte ihren Kopf auf die Ellbogen. »Ein wenig, ja. Ich dachte, wenn ich ihm sage, dass ich Lügen aufspüren kann, rennt er davon. Aber das hat er nicht getan.«

»Du hast absichtlich versucht, ihn zu verscheuchen?«

»Ja.«

Eleni betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. »Kind, das ergibt doch alles keinen Sinn. Hast du mir nicht gesagt, dass du es schwer findest, dich zu verabreden, weil du immer weißt, wenn ein Mann dich anlügt?«

»Ja.«

»Du willst also nicht mit Männern ausgehen, deren Gedanken und Gefühle du kennst, und jetzt auch nicht mit dem einen, den du nicht lesen kannst. Du hast zwei Möglichkeiten, und du willst sie beide nicht.«

Sie gab es nur ungern zu, aber Yayas Einwand war gerechtfertigt. »Mir war nicht klar, dass ich je eine Wahl haben würde. Robby hat mich vollkommen überrumpelt. Ich habe ganz einfach emotional reagiert.«

»Mit Angst.«

»Ja, mit Angst. Es war verdammt erschreckend!«

»Hier wird nicht geflucht, junge Dame.«

»Ich muss die Situation analysieren und das Für und Wider herausfinden, damit ich zu einem logischen Schluss...«

»Kind«, unterbrach Eleni sie. »Man muss nicht immer so viel denken.«

»Ich denke immer gründlich über alles nach. Ich habe Jahre damit verbracht, meine Fähigkeit, jede gegebene Situation zu analysieren...«

»Magst du ihn?«, fragte Eleni.

»Ja, aber...«

»Findest du ihn attraktiv?«

»Ja, aber...«

»Dann wäre das erledigt.« Eleni winkte ab. »Es gibt kein Aber.«

»Gibt es wohl! Ich weiß nicht, ob ich ihm vertrauen kann. Ich weiß nicht, was er fühlt.«

Für Eleni schien die Sache abgehandelt zu sein. Sie fing an, ein weiteres Weinblatt einzurollen. »Er ist zu dir gekommen, weil er dich kennenlernen wollte. Also fühlt er sich zu dir hingezogen. Will er dich wiedersehen?«

»Ja. Heute Nacht.«

»Dann fühlt er sich immer noch zu dir hingezogen. Das ist keine Gehirnchirurgie, weißt du.«

Olivia sackte auf ihrem Stuhl zusammen. Analysierte sie schon wieder alles kaputt? »Ich werde nie wissen, ob er mich anlügt.«

Die fertigen Weinblätter wurden jetzt in einen Topf gelegt. »Ich habe deinen Großvater sehr geliebt und er mich auch. Aber es gab Tage, schlimme Tage, an denen ich mehr Wut und Abneigung in ihm gelesen habe als Liebe, und das hat schrecklich wehgetan.«

»Es tut mir leid. Das wusste ich nicht.«

Eleni seufzte. »Ich rede nicht davon, weil er mir die ganzen Jahre über immer treu gewesen ist. Er hat es immer geschafft, mich weiter zu lieben. Aber es war schwer. Es gab Zeiten, in denen ich mir gewünscht hätte, nicht zu wissen, was er fühlt. Was ich also sagen will, ist, dass es auch ein Segen für dich sein kann.«

Olivia musste schlucken. »Ich weiß nicht. Ich finde es immer noch beängstigend.«

»Natürlich ist es das.« Eleni fuhr damit fort, die Weinblätter zu füllen. »Alles, was sich lohnt, ist auch beängstigend.«

»Du glaubst, ich sollte mich weiter mit ihm treffen?«

»Ich glaube, du solltest mir beim Kochen helfen. Ich habe immer noch meine Hoffnungen, was Spiro angeht. Und meine Freundin Alexia - sie hofft, du verguckst dich in ihren Sohn, Giorgios.«

Lächelnd griff Olivia nach einem Weinblatt. Es war ihr egal, wie gut die griechischen Männer aussahen. Sie waren nichts im Vergleich mit Robby MacKay.

Robby hatte gesagt, dass sie mutig und schön war. Es gab nicht viel, was sie an ihrem Aussehen machen konnte, aber am Mut konnte sie arbeiten. Heute Nacht sahen sie sich wieder. Und wenn er dann versuchte, sie zu küssen, würde sie nicht feige davonlaufen.