20. KAPITEL

 

»Wir sind wegen Otis Crump hier.« Olivia zeigte dem Sicherheitsbeamten im Gefängnis von Leavenworth ihren FBI-Ausweis. »Die Aufsicht hat uns autorisiert.«

Der Wachmann betrachtete ihren Ausweis und danach den von J. L. »Hier unterschreiben, bitte.« Er schob ein Klemmbrett über seinen Schalter.

Olivia schrieb sich ein und merkte dabei, dass die Liste nur für den Montag galt. »Letztes Mal, als ich hier war, habe ich mich in ein Buch eingetragen.«

Der Wächter nickte. »Wir haben den Vorgang verändert. Diese Seite heften wir heute Abend ins Buch ein. Wir bekommen alle möglichen Besucher - Ehefrauen, Freundinnen - und wollen die Privatsphäre der Insassen schützen, indem wir den Besuchern vorenthalten, wer sie sonst noch besuchen kommt.«

»Verstehe.« Er sagte die Wahrheit. Olivia reichte das Klemmbrett an J. L. weiter.

Der Wächter trat einen Schritt zurück und brüllte ins Nebenzimmer: »Hey, Joe, bring Crump ins Besucherzimmer. Ein paar Agenten vom FBI wollen ihn sehen.«

»Wieder Harrison?«, rief Joe zurück.

Olivia und J. L. sahen sich an. Er hatte ihr schon vor einem Monat erzählt, dass bei der Untersuchung von Harrison nichts herausgekommen war.

»Nein«, antwortete der Wächter. Er warf einen Blick auf die Besucherliste. »J. L. Wang und Olivia Sotiris.«

Joe spähte aus dem Nebenzimmer heraus. Obwohl er eine ausdruckslose Miene aufgesetzt hatte, spürte Olivia, wie eine Welle der Angst ihn durchfuhr.

»Gibt es ein Problem?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Joe schnell. »Ich hole Crump.« Er zog sich ins Nebenzimmer zurück, und sie hörten, wie eine Metalltür scheppernd ins Schloss fiel.

»Das dauert ein paar Minuten«, erklärte ihnen der Wächter.

»Verstanden.« J. L. zog Olivia ans andere Ende des Warteraumes. »Du bist erstarrt.« J. L. sah sie fragend an.

»Der andere Wächter hat gelogen. Und er ist am Ausflippen, weil wir hier sind.«

»Das ist... interessant.« J. L. kniff seine Augen nachdenklich zusammen.

Olivia konnte spüren, dass er sich Sorgen machte. »Bist du sicher, mit Harrison war alles in Ordnung?«

»Ja. Ich war vor einem Monat hier und habe mir die Bänder von jedem Gespräch zeigen lassen, dass er mit Crump geführt hat. Auf dem letzten hat er Crump einige ziemlich miese Dinge angedroht, wenn er dich nicht in Ruhe lässt.«

»Das ist alles?« Als J. L. nickte, fuhr sie fort: »Warum hat Harrison dann wegen seiner Treffen mit ihm gelogen?«

J. L. zuckte mit den Schultern. »Seine Drohungen waren nicht gerade moralisch einwandfreies Verhalten für einen Special Agent. Und dass er sich für dich eingesetzt hat, sollst du wahrscheinlich nie erfahren.«

Trotzdem war es merkwürdig. »Warum regt der Wächter sich darüber auf, dass wir hier sind? Ich bin früher schon hier gewesen, daran ist also nichts Seltsames.«

»Aber das ist lange her.« J. L. rieb sich nachdenklich das Kinn. »Vielleicht war es ein Fehler, mir nur die Bänder von Harrison zeigen zu lassen. Ich hätte auch deine anfordern sollen.«

»Meine? Glaub mir, die willst du nicht sehen.«

J. L. trat zurück an den Empfangstresen. »Ich brauche alle Aufnahmen von Ms Sotiris und Mr Crump.«

»Nur einen Augenblick.« Der Wachmann zog das Buch mit den Besucherlisten unter dem Tresen hervor und legte es hin. Er blätterte einige Seiten zurück und schüttelte dann den Kopf. »Ms Sotiris hat die Aufnahme von ihrem letzten Gespräch verweigert.«

»Was?« Olivia trat an den Tresen. Sie hatte ihre Gespräche immer aufzeichnen lassen, und doch spürte sie, dass der Wächter die Wahrheit sagte. »An welchem Tag war das?«

»Letzten Montag.«

Ihr Atem stockte. »Lassen Sie mich mal sehen.« Sie drehte das Buch um und fand ihren Namen auf der Liste mit den Besuchern vom letzten Montag. Die Unterschrift glich ihrer eigenen. »Das war ich nicht.«

Die Überraschung und Verwirrung des Wächters waren ehrlich. »Wir lassen uns immer einen Ausweis zeigen, ehe sich jemand einschreiben kann.«

»Waren Sie am Empfang, als diese Frau sich eingeschrieben hat?«, fragte J. L.

Der Wächter runzelte die Stirn, als er sich die Liste ansah. »Das war nach elf. Da hatte ich Mittagspause. Joe muss Dienst gehabt haben.«

Olivias Herzschlag beschleunigte sich. »Wir müssen mit ihm reden.«

Der Wächter nickte und drückte einen Knopf auf seinem Walkie-Talkie. »Wenn Joe Kitchner den Gefangenen Crump geholt hat, soll er zum Empfang kommen.«

»Sieh dir das an.« J. L. hatte im Besucherbuch noch einige Seiten zurückgeblättert. Vor vier Wochen hatte sich auch jemand unter dem Namen Olivia Sotiris eingeschrieben. Er blätterte weiter. Olivia hatte Crump angeblich alle vier Wochen besucht.

»Zeig mir November.«

J. L. fand einen Eintrag am achtzehnten November. »Da warst du nicht einmal im Land. Das hätte Harrison auffallen müssen. Dieser Idiot hat mehr Zeit damit verbracht, Otis zu bedrohen, als wirklich zu ermitteln.«

Olivia deutete auf die Überwachungskamera in einer Ecke. »Wer auch immer dieses Spielchen treibt, ist aufgezeichnet worden.«

»Es wird eine Weile dauern, das richtige Band zu finden.«

Der Wächter war anscheinend nicht erfreut über die Zusatzarbeit.

»Wir haben den ganzen Tag«, murmelte J. L.

Das Walkie-Talkie des Wachmannes klickte. »Crump ist bereit«, verkündete die Stimme. »Zimmer 3.«

»Bist du das, Chip?«, fragte der Wachmann in sein Walkie-Talkie. »Wo ist Joe?«

»Keine Ahnung«, antwortete Chip. »Er hat Bob und mir gesagt, wir sollen Crump holen, und ist dann verschwunden. Brauchst du mich als Begleitung für den Besucher?«

»Ich kenne den Weg«, sagte Olivia.

J. L. riss sich vom Besucherbuch los. »Soll ich mitkommen?«

»Ich komme zurecht. Finde du heraus, wer sich für mich ausgegeben hat.«

»Ich glaube, ich weiß es schon.« J. L. verzog das Gesicht. »Hoffentlich irre ich mich.«

Ja, das hoffte Olivia auch. Sie mussten beide an dieselbe Person denken. Es gab nur eine Frau in ihrem Büro, die Zugang zu Olivias Ausweis und ihrer Unterschrift hatte.

Sie trat an den Eingang für Besucher und wartete, bis man für sie auf den Summer drückte. Ihre Schritte hallten auf dem glänzenden Linoleumboden, als sie den kargen Korridor hinabging. Sie blieb vor der Tür mit dem Schild »Besucher 3« stehen und atmete tief durch.

Otis Crump war ein Meister darin, Schwächen aufzuspüren und sie für sein eigenes krankes Vergnügen auszunutzen. Sie musste ruhig bleiben und die Kontrolle behalten. Wenn alles gut ging, sah sie den Bastard danach nie mehr wieder.

****

Er stand mitten im kleinen Besucherzimmer, schlichte Wände und nur eine verstärkte Plexiglasscheibe trennte seine Hälfte des Zimmers von ihrer. Hinter ihm befand sich eine Metalltür, und neben ihm hatte man einen Metallstuhl mit Bolzen am Boden befestigt.

Die Wachmänner hatten das Überwachungsband eingeschaltet und sich bereit erklärt, draußen zu warten. Sie konnten auf dem Bildschirm im Flur beobachten, was sich drinnen abspielte.

Otis musste den Fitnessraum des Gefängnisses benutzt haben, er sah muskulöser aus. Sein Overall war sauber, sein Haar gekämmt, sein Gesicht glatt rasiert. Er hatte sich auf seine selbstverliebte Art immer für ausgesprochen gut aussehend gehalten.

Olivia fand seine Züge zu schwammig. Wahrscheinlich war es dieses weiche Aussehen gewesen, das in seinen Opfern Vertrauen geweckt hatte. Braunes Haar, braune Augen, durchschnittlich groß, guter Knochenbau. Aber an ihm war nichts Auffälliges. Nichts außergewöhnlich Männliches oder Einprägsames.

Das glich er mit seiner Persönlichkeit wieder aus.

Als sie das Zimmer betrat, lächelte er, und sie konnte spüren, dass er sich wirklich freute, sie zu sehen.

»Komm rein, Olivia. Setz dich.« Er streckte sich auf seinem Metallstuhl aus. »Ich habe dich schon erwartet.«

Vorhersehbar. Er fing mit Befehlen an, um seine Überlegenheit unter Beweis zu stellen.

»Ich mache es kurz.« Mit festen Schritten ging sie auf die Scheibe zu und blieb dann neben dem Metallstuhl stehen. »Ich habe ein paar Fragen...«

»Und ich habe alle Antworten«, unterbrach er sie mit einem selbstgefälligen Grinsen.

»Ich gehe davon aus, dass Sie ohne Ausnahme kooperieren werden.«

»Wirklich?« Er rieb sich mit den Händen an den Schenkeln auf und ab. »Und was ist meine Belohnung?«

»Ich kann dafür sorgen, dass Sie am Leben bleiben.«

»Oh, eine Drohung. Gefällt mir. Starke Frauen machen so viel mehr Spaß. Sie kämpfen und wehren sich bis zum letzten Atemzug. Das macht es so viel befriedigender, wenn man letztlich doch gewinnt.« Er hob eine Hand. »Keine Sorge, mein Schatz. Ich würde dir niemals wehtun. Es ist unser Schicksal, zusammen zu sein.«

Sie könnte ihn daran erinnern, dass er drei aufeinanderfolgende lebenslange Haftstrafen abzusitzen hatte, aber dieses Konzept schien er noch nie begriffen zu haben. »Da Sie mich so gernhaben, erwarte ich, dass Sie meine Fragen ehrlich beantworten.«

»Und ich erwarte etwas im Gegenzug. Ein Beweis deiner Zuneigung zu mir.« Er ließ seine Hand auf seinen Schoß gleiten. »Ich will ein Hochglanzbild von dir, damit ich mich befriedigen kann.«

»Sie verschwenden meine Zeit.« Olivia ging zurück an die Tür.

»Warte.« Er sprang auf und ging auf seiner Seite der Scheibe neben ihr her. »Geh nicht, Olivia. Es ist so lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.«

Sie blieb an der Tür stehen und spürte seine Verzweiflung. Ihr wurde von der Art, auf die er sich zu ihr hingezogen fühlte, jedes Mal schlecht. »Sind Sie bereit, meine Fragen zu beantworten?«

»Du hast sehr gut gelernt, das Spiel zu spielen. Ich bin ein guter Lehrer, findest du nicht?«

Er war so selbstverliebt. Selbst wenn sie die Kontrolle übernahm, schrieb er es sich selbst zu. Sie schlenderte zurück in die Mitte des Zimmers und zwang ihn dadurch, ihr zu folgen.

»Hat dir dein Urlaub auf Patmos Spaß gemacht?«

»Ich stelle hier die Fragen.« Sie legte ihre Hände auf die Rückenlehne des Metallstuhls. »Wer ist Ihr Komplize? Wer schickt die Äpfel?«

Er machte es sich in seinem Stuhl bequem. »Schmecken dir die Äpfel nicht? Es hat dir so viel Spaß gemacht, einen für mich zu schälen. Du hast es geschafft, die ganze Schale in einer langen Spirale abzuziehen.« Er drehte einen Finger in der Luft. »Ich musste an mehreren Frauen üben, ehe mir das gelungen ist.«

Sie gab sich die größte Mühe, sich keine Emotionen anmerken zu lassen, aber sie spürte, dass er erregt war. »Wer ist Ihr Komplize?«

Er lächelte. »›Quid pro quo‹, Clarice.«

»Das hier ist kein Film.«

»Sollte es aber sein.« Er stand auf und schlenderte auf die Scheibe zu. »Wer sollte mich spielen? Brad Pitt vielleicht?«

»Wer ist Ihr Komplize?«

Er presste eine Hand gegen die Scheibe. »Niemand. Sie bedeutet mir nichts. Ich brauche sie nur, um mit dir in Verbindung zu bleiben. Du bist es, die ich liebe.«

»Wer ist sie?«

»Ich habe geantwortet. Jetzt quid pro quo. Ich bin dran, eine Frage zu stellen.«

Sein Blick wanderte über ihren Körper. »Als du mich zum ersten Mal besucht hast, hattest du einen engen schwarzen Rock an, und deine Beine waren nackt. Du hast in dem Stuhl dort gesessen und deine Beine übereinandergeschlagen, und ich dachte, ich bin im Himmel. Ich hätte dir alles verraten, nur damit du weiter in deinen winzigen engen Röcken zu mir kommst.«

Von Anfang an hatte Olivia gespürt, dass er sie begehrte, und hatte es benutzt, um eine Vertrauensbasis mit ihm zu schaffen. Er würde alles verraten, hatte er versprochen, wenn sie nur einen Apfel für ihn schälte. Sie hatte mitgespielt. Und er hatte gestanden, zehn weitere Frauen gefoltert und umgebracht zu haben.

Otis legte beide Hände gegen die Scheibe und beugte sich zu ihr. »Es hat mich fast umgebracht, als du aufgehört hast, Röcke zu tragen. Du weißt, wie sehr ich deine Beine liebe.«

Nachdem er ihr erzählt hatte, was er mit den Beinen seiner Opfer anstellte, hatte Olivia nur noch Hosen getragen.

»Als du den Apfel für mich geschält hast, wusste ich, dass du die Richtige für mich bist. Niemand versteht mich so wie du. Du weißt, wann ich lüge oder wann ich frech bin, aber du kommst immer wieder zu mir zurück. Gib es zu, Olivia. Du findest mich faszinierend. Wenn du andere Männer vögelst, denkst du dabei an mich.«

Galle stieg ihr in die Kehle, und sie musste heftig schlucken. »Sie haben keine Frage gestellt.«

Er lachte leise. »Na gut. Sag mir, hast du die Apfel geschält, die ich dir geschickt habe? Hast du ein Messer unter ihre Schale gleiten lassen und dieses leise Geräusch gehört, wenn die Klinge in das Fleisch der Frucht eindringt? Hast du das Messer hin und her gleiten lassen und...«

»Nein. Ich habe die Äpfel weggeworfen. Ich bin dran. Der Name Ihrer Komplizin.«

»Ich fürchte, das musst du als Frage neu formulieren.«

»Wer ist Ihre Komplizin?«

Er zuckte mit den Schultern. »Mein Schatz, das weißt du bereits. Wenn du jetzt nur noch zugeben könntest, dass wir füreinander bestimmt sind, müsste ich diese armen dämlichen Schlampen nicht mehr ausnutzen, die mir zur Seite stehen wollen.«

»Das Spiel ist aus, Otis. Sie manipulieren niemanden mehr. Ich bringe Sie für den Mord, den Sie in Texas begangen haben, vor Gericht.«

»Mach das, mein Schatz. Eine Reise nach Texas würde mir Spaß machen. Ich kann die Gelegenheit nutzen, um zu fliehen, und dann können wir endlich für immer zusammen sein.«

»Wenn man Sie dort schuldig spricht, komme ich Sie gern besuchen.«

»Das ist mein Mädchen.«

»Ich werde zusehen, wie man Ihnen die Nadel in den Arm sticht.«

Mit dieser Androhung hatte er anscheinend nicht gerechnet.

»Todesstrafe, Otis. Wie gefällt Ihnen das?«

Seine Miene verhärtete sich. »Während du dastehst und deine leeren Drohungen von dir gibst, kommen meine Komplizen davon.«

»Die bekommen wir schon.« Sie schlenderte auf die Tür zu. Wie immer verspürte sie den Drang, sich so schnell wie möglich unter die Dusche zu stellen.

»Olivia!«, rief Otis ihr nach.

Als sie sich umsah, zog er etwas aus der Brusttasche seines Overalls. Es war rot und aus Spitze. Ihr Slip.

Er rieb das Höschen an seiner Wange. »Bis zum nächsten Mal, mein Schatz.«

Ihr Magen drehte sich um, und sie ging so schnell sie konnte aus dem Besuchszimmer und zurück ins Büro am Empfang.

J. L. stand mit dem Wachmann hinter dem Tresen. »Wir haben sie, Olivia.« Er drehte den Monitor, damit sie das Bild darauf erkennen konnte.

Die Frau schien etwa den gleichen Körperbau wie Olivia zu haben. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille, und ihr dunkles Haar hatte sie unter einer Baseballmütze verborgen. Joe war der Wachmann. Sie zeigte ihm einen Ausweis und trug sich in die Liste ein.

Yasmine. Olivias Herz zog sich zusammen. Sie hatte gehofft, dass es nicht ihre Kollegin war, aber es hatte einfach alles darauf hingewiesen. »Sie hat meinen Ausweis kopiert.«

J. L. nickte. »Und sie weiß, wo du deine Handtasche aufbewahrst. Wahrscheinlich hat sie einen Wachsabdruck von deinem Haustürschlüssel gemacht. Dafür braucht man nur wenige Sekunden.«

Konnte sie noch mehr solcher Horrornachrichten ertragen?, fragte sich Olivia. Es war schlimm genug, mit Otis fertigwerden zu müssen, aber noch dazu herauszufinden, dass Yasmine ihre Freundschaft ausgenutzt hatte - das war wirklich zu viel. »Hast du Barker angerufen?«

»Ja. Nach ihr wird bereits gefahndet.«

»Sie war nicht im Büro?« Olivia stutzte, doch dann wurde ihr klar, was geschehen sein musste. »Joe muss sie gewarnt haben.«

»Sieht so aus. Er ist ebenfalls verschwunden.« J. L. ging um den Tresen herum. »Wie ist dein Gespräch mit Otis gelaufen?«

»Er hat keinen Namen verraten, aber er hat zugegeben, dass er sie benutzt.« Olivia verzog das Gesicht. »Wie konnte Yasmine so etwas tun? Weiß sie nicht, was der Kerl für ein Monster ist?«

»Hast du nie gespürt, dass sie dich hintergeht?«, fragte J. L.

»Nein! Sie hat nie gelogen. Sie ist immer neugierig gewesen, aber soweit ich es gespürt habe, war ihre Freundschaft echt.«

»Sie wusste von deiner Gabe, also hat sie wahrscheinlich aufgepasst, wenn sie in deiner Nähe war.«

Wie hatte ihr das entgehen können? Solche Lügen aufzuspüren war ihr Spezialgebiet.

J. L. begleitete sie zur Tür. Er drehte sich noch einmal zu dem Wachmann um. »Sie können damit rechnen, dass heute Nachmittag einige Agenten herkommen werden, um alle Wachen zu verhören. Wenn Sie in der Zwischenzeit etwas von Joe hören, rufen Sie die Nummer auf der Karte an, die ich Ihnen gegeben habe.«

»Wird gemacht.« Der Wachmann sah besorgt aus, als er ihnen nachblickte.

Voller Sorge führte J. L. sie über den Parkplatz zu seinem Wagen. »Ist alles in Ordnung? Du siehst richtig blass aus.«

»Ich habe ihr vertraut«, flüsterte Olivia. Ihre Gedanken richteten sich auf Robby und seine leuchtend roten Augen. Wenn sie sich von Yasmine hatte hintergehen lassen, dann konnte auch Robby sie hintergehen. »Mir ist schlecht.«

»Ich fahre dich nach Hause.«

»Nein. Ich will arbeiten.« Wenn sie den ganzen Tag zu Hause blieb, dachte sie nur zu viel nach. Dann hatte sie zu viel Zeit, ihren schrecklichen Verdacht über die Geheimnisse, die Robby vor ihr verbarg, zu nähren. War es ein Fehler gewesen, sich in ihn zu verlieben?

****

Wie an den meisten Abenden stellte Robby auch heute seinen Laptop und seine Webcam im Konferenzzimmer auf, das dem Sicherheitsbüro gegenüberlag. Schon als Olivias Gesicht auf dem Bildschirm auftauchte, merkte er, dass etwas nicht stimmte. In ihrem Blick lag Traurigkeit, und ihre ganze Miene war müde und eingefallen.

»Liebes, was ist los?«

Sie erzählte ihm von ihrer Fahrt nach Leavenworth und wie J. L. entdeckt hatte, dass ihre Büroleiterin, Yasmine Hernandez, sich als Olivia ausgegeben hatte, um Otis Crump zu besuchen. Einer der Wachmänner im Staatsgefängnis hatte ihr dabei geholfen.

»Sind die beiden verhaftet worden?«, fragte Robby.

»Wir sind auf der Suche nach den beiden, aber sie scheinen verschwunden zu sein.«

»Wenigstens weißt du jetzt, wer dir die Apfel geschickt hat«, sagte Robby. »Das sollte dir ein kleiner Trost sein.«

Ein schmerzhafter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. »Ich dachte, Yasmine wäre meine Freundin. Ich habe ihr vertraut. Ich habe beim FBI angefangen, damit ich meine Gabe als Lügendetektor nutzen kann, um Verbrecher zu fassen, und sie war die ganze Zeit direkt vor meiner Nase, ohne dass ich etwas gemerkt habe.«

Robby beugte sich vor. »Du solltest jetzt nicht an dir selbst zweifeln. Du hast immer geglaubt, dass es einen Komplizen gibt, und damit hattest du recht. Und hast du nicht deine Gabe benutzt, um Crump dazu zu bringen, noch mehr Morde zu gestehen?«

Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte spüren müssen, dass sie mich hintergeht.«

»Du kannst dir keine Vorwürfe deswegen machen. Natürlich fühlst du dich jetzt schlecht. Jemand, den du gemocht hast, hat dich hintergangen.«

Misstrauisch sah sie ihn an. »Kommst du immer noch am Freitag her?«

»Aye. Ich werde kurz vor neun da sein.«

Sie blinzelte, als versuchte sie, nicht zu weinen. »Ich wünschte, wir hätten Patmos nie verlassen. Dort war alles so... magisch.«

»Wir kehren eines Tages dorthin zurück. Nur du und ich.« Wenn sie akzeptieren konnte, dass er ein Vampir war.

»Sei ehrlich zu mir: Hast du mich auch hintergangen?«

Sich als normalen Menschen ausgeben, das konnte man als Hintergehen zählen. »Olivia...«

»Vergiss es.« Sie hob eine Hand, um ihn aufzuhalten, und schüttelte dann spöttisch den Kopf. »Wenn du mich angelogen hast, warum solltest du es dann jetzt zugeben? Ich will es nicht einmal hören. Eine Täuschung am Tag ist mehr als genug.«

Zweifelte sie schon wieder an ihm? Verdammt noch mal. Aber er hatte bereits zugegeben, dass es Dinge gab, die er ihr noch nicht erzählt hatte.

»Olivia, hör mir zu. Wenn ich sage, dass ich dich liebe, ist das die Wahrheit. Wenn ich sage, dass ich jede wache Minute nur an dich denke, stimmt das ebenfalls. Wenn ich sage, dass du mein Leben verändert hast, weil mein Herz früher nur mit Rache angefüllt war, und jetzt voller Liebe ist, ist das die verdammte Wahrheit.«

Eine Träne lief ihre Wange hinab. »Ich liebe dich so sehr, Robby. Es würde mich umbringen, von dir hintergangen zu werden.«

Jetzt konnte er nur noch beten, dass sie sein Vorenthalten der Wahrheit nicht als Hintergehen ansehen würde.

»Yo, Robby!« Phineas platzte ins Konferenzzimmer.

»Jetzt ist es gerade schlecht.« Robby hasste diese Störungen.

»Ja, es sieht wirklich schlecht aus«, entgegnete Phineas. »Wir haben gerade Alarmstufe Rot ausgelöst.«

Angespannt wendete sich Robby wieder dem Bildschirm zu. »Olivia, ich muss gehen. Wir unterhalten uns morgen wieder.«

Sie runzelte die Stirn. »Was ist los?«

»Das erzähle ich dir später. Ich liebe dich, Kleines.« Er trennte die Verbindung und stand auf. »Was ist los?«

Phineas ging auf dem Weg ins Sicherheitsbüro voran. »Angus und Emma haben sich gerade zu uns teleportiert. Ich habe vor etwa fünf Minuten einen Notruf von Stanislav erhalten. Casimir und seine fröhlichen blutsaugenden Mannen haben sich in Bewegung gesetzt.«

»Weißt du, wohin?«, fragte Robby, nachdem sie das Büro betreten hatten. Angus, Emma und Connor waren bereits dort.

Angus warf ihm einen besorgten Blick zu. »Laut Stanislav befinden sie sich hier in Nordamerika.«