21. KAPITEL

 

Innerhalb weniger Minuten quoll das Sicherheitsbüro bei Romatech über vor Angestellten von MacKay S & I. Die Sterblichen und die Formwandler waren von den Vampiren teleportiert worden.

Angus wandte sich an alle. »Wir müssen Casimir und seine Anhänger so schnell wie möglich finden.«

»Das dürfte nicht zu schwierig werden, sobald sie anfangen, eine Spur aus Leichen zu hinterlassen«, knurrte Connor.

Emma nickte schaudernd. »Hoffentlich finden wir sie, ehe unschuldige Menschen sterben müssen.«

Die Arme vor der Brust verschränkt, verzog Connor das Gesicht. »Wenn sie hier sind, hat das Töten schon angefangen.«

»Wir müssen überall dort kontrollieren, wohin sich Casimir früher schon teleportiert hat.« Robby überlegte laut seine Strategie. »An einem dieser Orte hat er vielleicht das Land betreten.«

»Dem stimme ich zu.« Angus nickte. »Wir wissen, dass er sich gern in Apollos Komplex in Maine aufgehalten hat.« Er drehte sich zu Jack um. »Du kennst dich dort aus. Teleportier dich hin. Nimm Lara mit und Zoltan, Mikhail, Austin und Darcy.«

»Ja, Sir.« Jack führte sein Team zum Waffenlager am Ende des Büros, damit sie sich ihre Waffen auswählen konnten. Er verschwand mit Lara an seiner Seite.

Einige Sekunden später klingelte das Telefon. Connor schaltete den Lautsprecher ein.

»Wir sind da«, sagte Lara. »Es scheint alles ruhig...« Sie redete weiter, während Zoltan und Mikhail sich auf ihre Stimme konzentrierten. Sie teleportierten sich und die Sterblichen, Austin und Darcy.

»Casimir hat sich ebenfalls in das Gebäude des Zirkels von New Orleans teleportiert. Man sollte sie warnen.« Angus blickte in die Runde.

»Das mache ich«, bot Phineas sich an.

Warum Phineas sich freiwillig für New Orleans meldete, war Robby sofort klar.

»Dann los«, sagte Angus. »Ruf uns an, wenn du Hilfe brauchst. Und bleib mit Stanislav in Verbindung, falls er etwas hören sollte.«

Phineas schnappte sich ein paar Waffen aus der Kammer und teleportierte sich.

»Ian und Toni.« Angus sah die beiden an. »Ich will, dass ihr Shanna und die Kinder nach Dragon Nest bringt. Und bleibt in der Schule. Sorgt für die Sicherheit der Kinder.«

Etwas verärgert stimmte Ian zu. »Wenn es eine Schlacht gibt, ruft ihr mich aber an.«

»Werden wir«, versicherte Angus ihm. »Wir werden jeden verfügbaren Krieger brauchen. Vielleicht brauchen wir sogar ein paar von Phils Jungen.« Er wendete sich an den Alpha-Werwolf. »Wie läuft die Ausbildung?«

»Zwei der ältesten Jungen haben den Alphastatus erreicht.« Phil lebte zusammen mit Vanda in der Dragon Nest Academy. Während sie Kunst unterrichtete, bildete er die jungen Werwölfe aus, die er in Wyoming gefunden hatte. »Sie sind zum Kampf bereit.«

»Gut.« Angus sah Dougal an, der sich aus Texas teleportiert hatte. »Du und Howard übernehmt hier. Romatech wird vielleicht zum Hauptziel, wenn Casimir wieder vorhat, etwas in die Luft zu jagen.«

Dougal nickte. »Wir kümmern uns darum.«

»Bleibt South Dakota.« Robby wusste nur zu gut, dass Casimir sich im letzten Sommer mit einer kleinen Armee aus Malcontents dorthin teleportiert hatte. Robby wurde dort gefangen genommen und gefoltert.

»Emma und ich sind schon auf dem Weg«, entgegnete Angus. »Connor und Carlos, ihr kommt mit uns.« Er sah Robby abschätzend an. »Und du kannst auch mitkommen, wenn du so weit bist.«

»Bin ich.« Robbys Herzschlag beschleunigte sich, als er auf die Waffenkammer zuging. Nach all den Monaten des Wartens war seine Zeit, Rache zu nehmen, fast gekommen.

****

Zehn Minuten später materialisierten sich Robby und seine Gefährten auf einem Campingplatz südlich von Mount Rushmore. Hier hatten die Vampire damals die Armee der Malcontents überrascht. Viele Malcontents waren gestorben. Noch viel mehr waren geflohen.

Sean Whelan vom Stake-out Team der CIA hatte ihnen bei der Verdeckung des Geschehens geholfen. Die Malcontents hatten unschuldige Camper angegriffen, sie gefangen gehalten und von ihnen getrunken, bis sie alle tot waren. Whelans falsche Erklärung, in der er die Opfer einer fanatischen Neonazi-Gruppierung zuschrieb, hatten die Medien anstandslos akzeptiert.

Der Campingplatz war für Sterbliche ein verfluchter Ort, dachte Robby, als er und seine Kameraden die kleinen Holzhütten durchsuchten. Es befanden sich keine Menschen darin, aber zurückgelassene Kleidung und verschiedene Körperpflegeartikel deuteten darauf hin, dass sie benutzt wurden.

»Das ist ein schlechtes Zeichen«, murmelte Robby, als sie auf das Haupthaus zugingen.

Carlos blieb plötzlich stehen und verzog das Gesicht. »Ich rieche Tod.«

Mit gezogenen Waffen stürmten sie in die Hütte. Zu spät. Auf dem Boden waren acht Leichen verteilt, komplett blutleer, die Kehlen aufgeschlitzt, um Bisswunden zu vertuschen.

»Oh nein.« Emma presste eine Hand auf ihren Mund.

Den Leichnam eines Mannes sah Connor sich näher an. »Er ist noch nicht lange tot.«

»Casimir könnte immer noch in der Nähe sein.« Vielleicht hatten sie Glück, und Emmas Vermutung stimmte.

Angus hatte bereits sein Handy aus seinem Sporran gezogen und eine Nummer gewählt. »Jack, wir brauchen dich und dein Team hier.«

Robby rief Phineas in New Orleans an. Innerhalb weniger Minuten hatte sich ihre Gruppe mehr als verdoppelt.

»Verteilt euch«, befahl Angus. »Wenn ihr sie findet, zieht euch zurück und ruft uns an. Wir kämpfen nur gemeinsam.«

Robby raste in Vampirgeschwindigkeit auf die Höhle zu. Was für ausgleichende Gerechtigkeit wäre es, Casimir am selben Ort zu töten, an dem er von ihm gefoltert worden war. Er blieb am Höhleneingang stehen, um die Taschenlampe, die er in seinen Sporran gesteckt hatte, herauszuziehen. Selbst mit seiner übermenschlichen Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen, konnte er in der Höhle zusätzliches Licht gebrauchen.

Emma und Angus kamen auf ihn zugerast und blieben neben ihm stehen.

»Wir haben uns gedacht, dass du direkt hierher gehst«, sagte Emma.

Angus sah ihn eindringlich an. »Nimm ihn dir nicht alleine vor.«

Robby zuckte mit einer Schulter. »Ich habe ihn noch nicht gefunden.«

Auch Angus zog eine Taschenlampe aus seinem Sporran und schaltete sie an. »Geh du voran.«

Sie kletterten gemeinsam den Hauptgang der Höhle hinab. Fackeln aus Schilfrohr lagen ausgelöscht auf dem Steinboden. Als der Weg sich gabelte, ging Robby nach links, und Angus und Emma gingen nach rechts.

Die Höhlen schienen leer zu sein. Nirgends brannten Fackeln. In der Ferne murmelten und hallten keine Stimmen. Robby hielt direkt auf den kleinen Raum zu, in dem die Malcontents ihn gefangen gehalten hatten.

Der Lichtkreis seiner Taschenlampe glitt an den Steinwänden entlang. In der Luft hing noch der Geruch von Blut. Sein Lichtstrahl landete auf einem Stuhl. Der Holzrahmen hatte unter seinen brutalen Bemühungen, sich zu befreien, gelitten. Silberne Ketten hingen von den Sprossen der Stuhllehne bis auf den Steinboden hinab. Diese Ketten hatten ihn an den Stuhl gefesselt, ihm das Fleisch verbrannt und ihn davon abgehalten, sich in die Freiheit zu teleportieren. Blut - sein Blut - färbte den Boden burgunderrot.

Finstere Erinnerungen blitzten in seinen Gedanken auf. All der Schmerz, die Demütigung, die Verzweiflung kamen zu ihm zurück, als wäre das alles erst letzte Nacht geschehen. Der Strahl der Taschenlampe begann zu wackeln, denn seine Hand zitterte vor Wut.

»Ich dachte mir, ich würde dich hier finden.« Eine leise Stimme ertönte hinter ihm.

Er wirbelte herum und sah Connor im schmalen Höhleneingang stehen.

»Die Höhle ist leer«, verkündete der Vampir. »Der Campingplatz ebenfalls. Casimir und seine Anhänger haben sich eine andere Futterstelle gesucht.«

»Ich werde ihn umbringen«, flüsterte Robby. »Wenn ihr ihn findet, muss ich es sein, der ein Schwert durch sein schwarzes Herz treibt.«

»Du brauchst Rache. Das verstehe ich.« Connors Blick war von Trauer überschattet. »Pass auf dich auf, Lad. Rache kann einen Mann dazu bringen, schreckliche Dinge zu tun. Du wirst dich nicht besser fühlen, wenn du dabei deine Seele verlierst.«

»Ich habe nicht vor...« Robby verstummte, als Connor sich umdrehte und die Höhle verließ. Er warf einen letzten Blick auf den klapprigen Holzstuhl. »Ich werde mich rächen.«

****

Am Donnerstagabend war Olivia gerade dabei, sich zum Aufbruch fertig zu machen, als Barker seine Bürotür öffnete und rief: »Harrison, Wang, Sotiris - in mein Büro, sofort!«

Sie warf J. L. einen fragenden Blick zu, während sie eilig ins Büro ihres Vorgesetzten gingen.

»Was ist los?«, fragte Harrison.

»Wir haben gerade die Nachricht von einem County Sheriff in Nebraska bekommen. Ein paar Anwohnern ist aufgefallen, dass in einer örtlichen Farmergemeinschaft niemand ans Telefon ging, also ist er hingefahren, um sich die Sache anzusehen.« Barker seufzte und schüttelte den Kopf. »Alle dort sind tot.«

Olivia keuchte entsetzt auf. »Wie viele?«

»Etwa zehn Personen, denke ich. Es gibt in der Nähe keinen Flughafen, wir fahren also. Es kann sein, dass wir mehrere Tage dort verbringen müssen, packen Sie also ein, was Sie brauchen, und dann geht es los.«

»Ich habe eine gepackte Tasche im Wagen«, sagte Harrison.

»Und ich habe meine hier«, sagte Barker zu ihm. »Wir treffen uns in fünf Minuten auf dem Parkplatz. Sie fahren.«

»Verstanden.« Harrison eilte aus dem Büro.

Da sie noch nie mit den Special Agents auf einen Außeneinsatz geschickt worden war, hatte Olivia keine Reisetasche für den Notfall. »Ich muss kurz zu meiner Wohnung, um ein paar Sachen zu packen.«

»Ich bringe dich«, bot J. L. ihr an. »Dann können wir zusammen fahren. Ich habe eine Tasche im Kofferraum.«

»Hier müssen wir hin.« Barker reichte J. L. ein Blatt Papier mit einigen Informationen darauf. »Olivia, ich bin mir sicher, Sie wundern sich, warum ich Sie bei dem Einsatz dabeihaben will. Tatsache ist, dort geht irgendetwas Seltsames vor. Alle Anwohner sind tot, aber es gibt keine Anzeichen auf einen Kampf.«

»Komisch«, murmelte J. L.

»Das kann man laut sagen.« Barker sah Olivia eindringlich an. »Und wenn es um die wirklich merkwürdigen Fälle geht, sind Sie die Expertin.«

»Danke.«

Fünfundvierzig Minuten später stellte sie ihre Reisetasche in den Kofferraum von J. L.s Wagen. Eine weitere Tasche, in der sich ihr Laptop und die Webcam befanden, stellte sie auf den Rücksitz. Die Webcam war bloß Wunschdenken, dessen war sie sich bewusst. Wahrscheinlich würde sie ihre Verabredung mit Robby um neun Uhr verpassen. Auch gut. Er hatte selber die letzten zwei Abende verpasst.

»Los geht's.« J. L. setzte sich hinters Steuer.

Während J. L. den Motor anließ, setzte Olivia sich auf den Beifahrersitz und schnallte sich an. Robby hatte vor zwei Nächten kurz bei ihr angerufen. Er hatte gehetzt geklungen und erzählt, dass besondere Ereignisse bei MacKay S&I eingetreten waren, aber er wollte ihr nicht erklären, welche. Wahrscheinlich würde er noch nicht einmal in der Lage sein, sie Freitagabend zu besuchen.

Jetzt sah es aus, als befände sie sich selbst in der gleichen Lage. »Meinst du, wir sind morgen Abend wieder zurück?«

J. L. schüttelte den Kopf und bog auf den Freeway ein. »Das bezweifle ich.«

Sie seufzte und rief Robby auf seinem Handy an. Wie üblich hob er nicht ab, also hinterließ sie eine Nachricht. »Robby, ich bin wegen eines Falles verreist. Es sieht nicht so aus, als könnte ich morgen Nacht wieder zu Hause sein. Ruf mich an, damit wir etwas anderes ausmachen können. Liebe dich. Mach's gut.« Sie legte auf.

J. L. sah sie von der Seite an. »Hattet ihr ein großes Date geplant?«

»Ja.« Sie steckte ihr Handy in das Innenfach ihrer Handtasche. »Er wollte mir etwas Wichtiges sagen.«

»Über sich selbst?«

»Ich denke schon.« Sie legte das Pistolenhalfter, in dem sie ihre Waffe trug, in die Handtasche. Im Auto war er ihr zu unbequem. Sie war froh, heute einen ihrer bequemeren Hosenanzüge angezogen zu haben. Die Leinenhosen und die passende Jacke waren marineblau, und ihr T-Shirt war weiß mit kleinen roten Sternen, was ihr einen patriotischen Anstrich verlieh. In ihrer Wohnung hatte sie außerdem ihre blauen Pumps gegen ein paar schwarzer Turnschuhe eingetauscht.

»Robby hat also ein düsteres Geheimnis.« J. L. überholte auf dem Freeway einen Wagen. »Wie interessant.«

»Wieso gehst du gleich von düster aus? Robby ist ein lieber Kerl.«

»Er trägt ein riesiges Schwert auf dem Rücken, Liv. Und er ist wie ein Bulldozer gebaut.«

»Danke.«

J. L. zuckte mit den Schultern. »Könnte schlimmer sein. Er könnte etwas Schreckliches zu verbergen haben, vielleicht ist er ein Kleptomane.«

»Das glaube ich kaum.«

»Nymphomane?«

Auf keinen Fall, war Olivias erster Gedanke. Obwohl J. L. recht haben könnte, Robby war sehr versessen darauf, mindestens drei Runden einzulegen.

»Ich habe es! Er ist aus einer Nervenheilanstalt geflohen.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Aus dem Zoo?«

Olivia boxte J. L. gegen die Schulter.

»Hey, pass auf. Ich fahre.«

»Du fährst zu schnell.«

»Wir haben einen langen Weg vor uns.« J. L. überholte einen weiteren Wagen. »Ich will ankommen, ehe es dunkel wird.«

»Was gibt es Neues von unserem vermissten Wachmann und Yasmine?« Olivia hatte von den beiden nichts mehr gehört.

»Es gibt nichts Neues. Sie sind vom Bildschirm verschwunden, wie es im Buche steht.« J. L. sah sie von der Seite an. »Hast du etwas Nützliches herausgefunden?«

»Nein.« Sie hatte die letzten zwei Tage damit zugebracht, die anderen Wachmänner in Leavenworth zu verhören. Alle behaupteten, nicht die geringste Ahnung von den Vorgängen gehabt zu haben. Sie hatten nicht gewusst, dass Joe jemandem dabei behilflich war, zu Otis Crump zu kommen. Und sie waren alle ehrlich gewesen.

Müdigkeit übermannte sie. Die letzten paar Nächte hatte sie nicht gut geschlafen. Yasmines Verrat machte ihr immer noch zu schaffen, und sie machte sich Sorgen wegen Robby.

»Willst du schlafen?«, fragte J. L.

Sie gähnte schon zum zweiten Mal. »Brauchst du mich nicht, um den Weg zu finden?«

»Ich habe mein Navigationsgerät. Ruh dich ruhig aus. Ich habe das Gefühl, heute Nacht werden wir sehr lange aufbleiben.«

Um es sich gemütlich zu machen, nahm Olivia die Klammer aus ihrem Haar. So konnte sie sich gegen die Kopfstütze zurücklehnen, und dann schloss sie die Augen.

Einige Zeit später schüttelte J. L. ihre Schulter. »Hey, willst du Hamburger, Fishburger, oder Burger mit Hähnchen? Das ist alles, was es hier zur Auswahl gibt.«

Als sie langsam wach wurde, merkte Olivia, dass sie auf der Drive-in-Spur eines kleinen Fast-Food-Restaurants standen. »Ah, Hähnchen.« Sie warf einen Blick auf die Digitaluhr. Es war 7:38 Uhr. »Sind wir schon in Nebraska?«

»Jepp. Wir sind nicht mehr in Kansas.« J. L. kurbelte sein Fenster herunter und gab ihre Bestellung auf.

»Ich mache das schon.« Bevor ihr Kollege bezahlen konnte, kramte Olivia in ihrer Handtasche und reichte ihm zwanzig Dollar. »Wie weit ist es noch?«

»Wir sollten in einer halben Stunde da sein.« J. L. bezahlte ihr Essen, reichte die Papiertüten an Olivia weiter und stellte ihre Getränke in den Becherhaltern ab. »Ich habe Harrison und Barker vor etwa fünfzehn Minuten auf dem Highway überholt, deswegen fand ich, wir könnten uns eine Auszeit nehmen.«

Sie verließen den Parkplatz und hatten innerhalb weniger Minuten die Stadt hinter sich gelassen. Maisfelder säumten die Straße. Olivia schätzte, dass die Pflanzen nicht ganz zwei Meter hoch waren. Als sie den letzten Bissen von ihrem Burger verzehrte, hatte sich der Ausblick nicht verändert. Sie nahm ein paar von J. L.s Pommes frites und nippte an ihrem Softdrink. Die Maisfelder streckten sich nach allen Seiten endlos hin.

»Hier wächst echt viel Mais.«

»Jepp.« J. L. trank von seiner Cola. »Die Einöde hat angefangen, mich einzuschläfern. Ich brauchte das Koffein.«

Kurz nach acht kamen sie in der kleinen Stadt an, in der Barker ihnen Zimmer reserviert hatte. Olivia und J. L. waren gerade dabei, in ihr Motel einzuchecken, als Harrison und Barker auf den Parkplatz fuhren.

Im Badezimmer spritzte Olivia sich kaltes Wasser ins Gesicht, und fünf Minuten später machten sie sich auf den Weg zu den dicht beieinanderstehenden Farmen, wo man die Leichen entdeckt hatte. Barker hatte den Sheriff angerufen und darum gebeten, dass sie sich alle dort trafen.

Sie bogen auf eine unbefestigte Straße ein, die zwei große Maisfelder voneinander trennte. Die Sonne näherte sich dem Horizont. Sie würden einige ihrer Ermittlungen wohl bei Taschenlampenlicht vornehmen müssen.

»Da ist der Wagen des Sheriffs.« Olivia deutete aus dem Fenster, als J. L. daran vorbeiraste.

Er bog auf eine Auffahrt ein, die zu einem alten Farmgebäude aus Holz führte, und sie stiegen aus dem Wagen. Olivia legte sich das Pistolenhalfter um die Hüfte und schob ihre Taschenlampe in den Gürtel. Dann zwirbelte sie ihre Haare am Hinterkopf wieder zusammen und steckte sie mit der Klammer fest.

Während sie auf den Sheriff zuging, registrierte sie vier Farmhäuser, zwei auf jeder Straßenseite. Weiter die Straße hinab entdeckte sie zwei rote Scheunen. Jede Farm war zwei Stockwerke hoch und weiß gestrichen, und vor jedem der Häuser befand sich eine Veranda. Das Einzige, was sie voneinander unterschied, war die Farbe ihrer Fensterläden. Eines hatte schwarze, eines grüne, und die anderen zwei waren schieferblau und kastanienbraun getüncht. Ein großer Schatten spendender Baum wuchs vor jedem Haus. Um das kleine Nest aus Farmhäusern und Scheunen herum erstreckten sich grüne Maisfelder meilenweit in die Ferne. Die Sonne hing tief am Horizont und malte den Himmel rosa und golden an.

Harrison hatte hinter dem Wagen des Sheriffs geparkt, und Barker war bereits dabei, den Fall mit dem örtlichen Officer zu besprechen. J. L. und Olivia stellten sich vor.

»Ich sage Ihnen, es ist einfach nur merkwürdig.« Der Sheriff schüttelte ratlos den Kopf. »Ich kann es mir nicht erklären. Das waren alles gute gottesfürchtige Leute. Wer sollte sie umbringen wollen?«

»Sehen wir uns die Sache an«, schlug Barker vor.

»Kommen Sie.« Der Sheriff führte die FBI-Agenten zu dem Haus mit den schieferblauen Fensterläden, das ihnen rechts am nächsten stand.

Eine Brise strich durch das Maisfeld, als Olivia daran vorbeiging. Erst als sie das Rascheln hörte, merkte sie, wie still es sonst war. Keine Erntemaschinen. Keine Mütter, die ihre Familie zum Essen riefen. Keine Geräusche von Fernsehern, die durch offene Fenster drangen.

Im Haus zeigte der Sheriff ihnen die Leichen. Ein Mann und eine Frau lagen auf dem Holzboden ausgestreckt im Wohnzimmer. Ihre Kehlen waren aufgeschlitzt, aber es befanden sich keine Blutlachen unter ihnen.

Olivia musste schlucken. Sie war nicht daran gewöhnt, am Tatort mitzuarbeiten. Normalerweise blieb sie im Büro und verhörte dort die Verdächtigen, um zu sehen, wer von ihnen log.

»Sie müssen irgendwie anders ausgeblutet sein«, sagte Harrison. »Erst dann hat der Mörder sie hierher geschleppt.«

J. L. umrundete die Leichen. »Es gibt kein Anzeichen, dass sie bewegt wurden. Keine Blutspur. Keine Kratzspuren von ihren Schuhen. Und ich wette, es war mehr als ein Mörder.«

Olivia presste eine Hand auf ihren Bauch. Sie hätte den Burger nicht essen sollen.

Um besser sehen zu können, beugte Barker sich zu den Leichen. »Keine weiteren Wunden. Sie scheinen sich nicht gewehrt zu haben.«

Sie wendete sich von dem schrecklichen Anblick ab und bemerkte Spielzeug in einer Plastikkiste neben dem Fernseher. Oh Gott. »Gibt es hier noch mehr Leichen?«

»Nein, das war alles«, antwortete der Sheriff. »Wollen Sie die anderen Häuser sehen?«

Draußen beschlossen sie, sich zu trennen, weil es rasch immer dunkler wurde. Der Sheriff und Harrison überquerten die Straße zur Farm auf der anderen Seite. Barker, J. L. und Olivia gingen ins zweite Haus auf der rechten Seite der Straße.

Genau wie im ersten Haus lag ein totes Paar auf dem Boden, die Kehlen aufgeschlitzt, ohne jegliche Anzeichen von Blut. In der Küche befand sie noch eine ältere Frau, genauso zugerichtet.

Sie gingen nach oben und sahen dort in den Schlafzimmern nach.

»Kommen Sie, sehen Sie sich das an«, rief Olivia aus einem der Schlafzimmer.

»Noch eine Leiche?«, fragte Barker, als er und J. L. das Zimmer betraten.

»Nein.« Sie deutete auf den Boden, wo Spielzeug verstreut lag. »Im ersten Haus habe ich auch Spielzeug gesehen.«

»Verdammt.« J. L. verzog das Gesicht. »Wo sind die Kinder?«

»Ich weiß es nicht.« Sie zog die Rüschenvorhänge zur Seite und spähte aus dem Fenster. Die letzten Sonnenstrahlen schienen auf einen kleinen Hof mit einer rostigen Schaukel. Dahinter erstreckten sich Maisfelder, so weit das Auge reichte. »Ich kann keine Emotionen spüren, bis auf unsere eigenen und die von den Jungs auf der anderen Straßenseite.«

»Vielleicht sind die Kinder entkommen«, schlug J. L. vor. »Wenn ein Mörder zu mir ins Haus käme, würde ich davonrennen und mich im Maisfeld verstecken.«

Olivia schüttelte sich. Sie konnten genauso gut entführt worden sein.

»Mal sehen, ob ich welche von ihnen aufspüren kann.« Barker griff sich ein abgelegtes Kinder-T-Shirt vom Boden. »Sie zwei bleiben hier.« Er verließ das Zimmer und ging die Treppe hinab.

Olivia und J. L. sahen sich fragend an. Sie hörten, wie eine Tür knallend ins Schloss fiel.

»Da unten ist er.« Olivia zeigte aus dem Fenster. Barker hielt das T-Shirt an sein Gesicht und ging mit schnellen Schritten auf das Maisfeld zu.

»Was macht er da? Im Mais verläuft er sich doch. Die Felder sind die reinsten Ozeane.«

»Merkwürdig«, murmelte J. L.

Olivia beobachtete, wie Barker verschwand und der letzte Rest Sonnenlicht verlosch. Das Haus war in Dunkelheit gehüllt. Als sie nach ihrer Taschenlampe greifen wollte, ging im Hof plötzlich gleißendes Licht an.

»Sehr gut.« J. L. sah erleichtert aus. »Sie haben draußen automatische Beleuchtung. Wenn Barker sich verläuft, kann er einfach dem Licht nachgehen.«

»Lass uns nachsehen, was Harrison macht.«

Gemeinsam gingen sie in ein Schlafzimmer an der Front des Hauses und sahen aus dem Fenster. Vor jedem Haus strahlte die Außenbeleuchtung, zwischen den Häusern allerdings klafften dunkle Abgründe.

»Sieht gruselig aus.« J. L. wurde es ganz mulmig zumute.

Welche Angst diese armen Menschen wohl ausgestanden hatten, ehe sie gestorben waren. Olivia wollte gar nicht darüber nachdenken. Und was, wenn die Mörder immer noch in der Nähe waren? Sie lauerten vielleicht in einem Feld oder einer der Scheunen. »Du hast mir einmal gesagt, wenn unser Leben in Gefahr ist, verrätst du mir, wofür deine Initialen stehen.«

»Wir sind nicht in Gefahr.«

»Machst du Witze? Da draußen läuft irgendwo ein Massenmörder rum. Vielleicht sogar mehrere.«

»Ich glaube, sie sind verschwunden. Sie haben ihren Job erledigt und sind weitergezogen.«

»Hoffentlich geht es den Kindern gut.« J. L.s Worte beruhigten sie ein wenig.

»Sieh mal.« J. L. deutete auf zwei Lichter, die aus einem der Häuser auf der anderen Straßenseite kamen. »Das müssen Harrison und der Sheriff sein.«

»Sie sind es.« Die beiden Männer waren emotional so aufgeladen, dass Olivia sie auch aus der Ferne spüren konnte. Der Sheriff war am Boden zerstört, denn er trauerte um Menschen, die er gekannt hatte. Harrison war stinkwütend.

Die zwei Männer gingen im Licht ihrer Taschenlampen zur Straße zurück.

»Lass uns zu ihnen gehen.« J. L. wendete sich zur Schlafzimmertür um.

»Warte.« In der Ferne tauchten noch zwei Lichter auf. »Hier ist noch jemand.«

»Was?« J. L. kam ans Fenster zurück und spähte hinaus.

Die zwei Lichter näherten sich. Sie kamen am ersten Haus vorbei, und dank der Außenbeleuchtung konnte Olivia die Gestalten von zwei Männern erkennen. Vor Schreck trat sie einen Schritt zurück.

»Was zum Teufel...?« J. L. brach seinen Satz ab.

Die Männer trugen Kilts. Sie blieben mitten auf der Straße stehen. Harrison und der Sheriff gingen auf sie zu und blieben dann ebenfalls stehen.

»Sagen sie irgendwas?«, wollte J. L. jetzt von Olivia wissen.

»Ich glaube, nicht. Ich kann nicht sehen, ob sich ihre Lippen bewegen.« Komisch, Olivia empfing weder von Harrison noch vom Sheriff irgendwelche Emotionen. Sie schienen vollkommen leer zu sein. Und sie spürte auch nichts bei den Fremden.

Der Sheriff ging an den Männern im Kilt vorbei, stieg in seinen Wagen und fuhr davon. Auch Harrison folgte ihm in seinem Wagen.

Fassungslos starrte J. L. seine Kollegin an. »Was zum Teufel...?«

Die Fremden kamen bedrohlich näher. Schnell schmiegten sich Olivia und J. L. an die Wand neben dem Fenster. Ein Lichtstrahl glitt durch den Raum, als einer der Fremden seine Taschenlampe auf sie richtete.

Olivia hielt den Atem an. Ihr Herz raste. Wer waren diese Männer? Sie erinnerte sich an ein Foto, das Robby im Kilt gezeigt hatte. Aber es konnte keine Verbindung bestehen. Er war in New York. Andererseits konnte sie ihn auch nicht lesen. Er war ebenso leer wie die zwei Männer auf der Straße draußen.

J. L. öffnete sein Handy und gab eine Nummer ein. Er wartete und flüsterte dann: »Harrison, lassen Sie das verdammte Telefon an. Und warum sind Sie einfach abgefahren? Kommen Sie sofort wieder her.« Er legte auf und stopfte das Telefon zurück in seine Anzugtasche.

»Harrison hat sein Handy ausgestellt?« Warum sollte er so etwas tun? Warum sollte er sie zurücklassen? Beim Blick aus dem Fenster sah sie die Männer auf sich zukommen.

J. L. zog seine Waffe. »Keine Sorge, Liv. Es wird alles gut. Das weiß ich genau.«

Und Olivia wusste, dass das eine glatte Lüge war.