Stadtgeschichte
K. u. k. Monarchie und Industrialisierung
In Wien selbst standen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. (abgesehen von der Hochzeit Kaiser Franz Josephs I. mit Prinzessin Elisabeth in Bayern, 1854) die territoriale, verwaltungstechnische und bauliche Erweiterung des Stadtgebietes sowie dessen infrastrukturelle Erschließung auf der Tagesordnung.
1850 wurden die Vorstädte zwischen Glacis und
Linienwall sowie diejenigen nördlich des heutigen Donaukanals
eingemeindet. 1857 fällte der Kaiser den Entschluss zum Abriss der
Stadtmauern, sodass wenig später eine erneute Ausweitung der
Hofburg und die Bebauung des Glacis begannen. Letzterer firmierte
fortan unter dem Namen „Ringstraße“
und wurde mit zahlreichen Monumentalbauten im Stil des Historismus
gesäumt.

Während sich ihr bis dahin von Festungsmauern eingezwängtes Zentrum bis in die kurz zuvor eingemeindeten Vorstädte ausdehnte, wuchs die Stadt gleichzeitig über sich hinaus, indem die außerhalb des Linienwalls und nördlich der Donau gelegenen Vororte bis zum Beginn des 20. Jh. bebauungs- und verwaltungstechnisch mit ihr verschmolzen.
Infolge einer rasanten Industrie- und Bevölkerungsentwicklung wandelten sich einige ehemalige (Wein-)Bauern- und Waldarbeiterdörfer zu Produktionsstandorten und Arbeiterwohnquartieren, andere zu vornehmen Villensiedlungen. Ein reines Produkt der Industrialisierung war dagegen der aus großen Ziegelfabriken und deren Werkskolonien hervorgegangene 10. Bezirk Favoriten.
Im Zuge von massenhafter Arbeitsimmigration (v. a. Tschechen, Ungarn, Polen und Italiener) und Eingemeindungswelle schnellten die Einwohnerzahlen im Zeitraum zwischen 1840 und 1910 von 400.000 auf gut zwei Millionen empor, sodass die Infrastruktur erneut an ihre Grenzen stieß. Gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen und teilweise katastrophale Wohnverhältnisse in den privat bewirtschafteten „Zinskasernen“, in denen sich mehrere Mietparteien einen Wasseranschluss im Treppenhaus (Bassena von ital. bacino) miteinander teilten, führten zur Ausbreitung von Seuchen wie der Cholera und der Lungentuberkulose, was die Dringlichkeit einer besseren Trinkwasserversorgung unterstrich. Die Ausweitung des städtischen Territoriums und die Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte erforderten den Ausbau des Verkehrsnetzes, und der gewerbliche sowie private Energiebedarf stieg deutlich an.
So installierte man in der zweiten Hälfte des 19. Jh. die erste und zu Beginn des 20. Jh. die zweite Wiener Hochquellwasserleitung, die fortan frisches Wasser aus dem mehr als 100 km entfernten Voralpengebiet in die Hauptstadt schickte. Ein Ausbau der Kaiserin-Elisabeth-Westbahn ergänzte das Fernverbindungsnetz. Die Verdichtung und Elektrifizierung des Straßenbahnverkehrs und die rund um die Vorstädte gezogene dampfbetriebene Stadtbahnlinie erhöhten die innerstädtische Mobilität. Um der wachsenden Nachfrage nach Gas und Strom nachzukommen, entstanden weitere Gas- und seit den 1880er Jahren auch Elektrizitätswerke. Die wurden ebenso wie der Nah- und Fernverkehr von privaten Gesellschaften betrieben und erst seit Ende des 19. Jh. kommunalisiert. Initiator der breit angelegten Kommunalisierungswelle war Dr. Karl Lueger, von 1895 bis 1910 Bürgermeister der seit 1861 selbstverwalteten Stadt.
Lueger war Wortführer verschiedener antiliberaler Bezirksvereine, die sich 1893 als reichsweit agierende Christlichsoziale Partei konstituierten. Die profilierte sich durch einen antikapitalistischen, antisemitischen und deutschnationalen Kurs, etablierte sich in Wien als Mehrheitspartei und löste den bis dahin von liberalen, parteilich noch nicht organisierten Kräften dominierten Gemeinderat 1895 ab. Weil er auf die Rechtsgleichheit der verschiedenen Nationalitätengruppen seines Vielvölkerstaates bedacht sein musste, hatte der Kaiser, dem nach wie vor das Recht auf die Bestätigung von Bürgermeister und Gemeinderat vorbehalten war, Lueger zunächst seinen Segen verwehrt, ihn aber 1897 dann doch als Bürgermeister anerkannt.
Luegers großer Erfolg resultierte nicht zuletzt aus der durch die Weltausstellung im Jahre 1873 ausgelösten Wirtschaftskrise der Stadt, für die jüdische Finanziers verantwortlich gemacht worden waren. Da die Juden seinerzeit wieder 10 % der Stadtbevölkerung stellten – viele waren nach den dortigen Pogromen aus Russland eingewandert – und vornehmlich angesehene Positionen als Rechtsanwälte, Ärzte, Journalisten und Bankiers bekleideten, fiel der von Lueger propagierte, geschickt mit sozialreformerischen Ideen verquickte Antisemitismus auf den fruchtbaren Boden kleinbürgerlichen Sozialneids.
Als geistiger Vater des damaligen Bürgermeisters gilt der deutschnationale Abgeordnete Georg Ritter von Schönerer (1842–1921), der in Wien schon Jahre zuvor das antisemitische Feld bestellt und damit den Zusammenschluss der von Theodor Herzl („Der Judenstaat“, 1896) geführten zionistischen Bewegung an den örtlichen Universitäten forciert hatte.
Obgleich die Regierungsbank feudal-konservativ und kaisertreu besetzt blieb, erreichten deutschnationale Positionen auch die Diskussion im Reichsparlament, wo im ausgehenden 19. Jh. insgesamt 501 Abgeordnete aus 10 Nationalitätengruppen, Christsoziale und Mitglieder der 1889 von dem Juden Victor Adler gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei saßen.