9. Kapitel

»Der Kommissar muss weg.«

Mildes Erstaunen ist die angemessene Mimik, denkt Martin Liebling und zieht seine Augenbrauen nach oben. Er ist nicht im Mindesten überrascht, ganz im Gegenteil: Er hat diesen Satz schon vor dem Dessert erwartet. Alles, was John Schultz während der vier Gänge sagte, führte exakt in diese Richtung. Amerikaner seines Typs kommen immer zum Punkt, weil sie die Zwischentöne so gering achten. Schade eigentlich, Liebling fand Wortakrobatik immer recht amüsant. Die Kunst der Verschleierung gegen die Axt der Wahrheit. Zeit ist Geld, und die meisten Vertreter der Neuen Welt sind ungehobelte Mistkerle von scharfem Verstand. Der geeiste Kaiserschmarrn schmilzt in Lieblings leicht geöffnetem Mund. Mildes Erstaunen. Er sieht in hellbraune, fast gelbe Kojotenaugen und murmelt: »Sie überschätzen meine bescheidenen Fähigkeiten.«

Er nippt nur am teuren Bordeaux. Es gibt keine billigen Weine im »Crocodile«, denn dies ist die feinste Adresse Straßburgs. Das Lokal der kleinen Gefälligkeiten zu großen Preisen. Bangemann pflegte hier zu speisen, der Kommissar, der sich in europäische Telefonnetzwerke verstrickte. Das Krokodil ist ein gefräßiges Tier, und die Männer, die hier dinieren, haben den Hang zu fetter Beute.

John Schultz ist Vertreter eines amerikanischen Tabakkonzerns, er hat sich Liebling als »Senior Consultant« vorgestellt und ihn zum Essen ins »Crocodile« eingeladen. Er schaufelte das Zwei-Sterne-Essen in sich hinein, als ob er in einem Fastfoodladen säße. Den Wein trinkt er wie Bier in durstigen Schlucken.

Keine Manieren, keine Skrupel und die Selbstsicherheit eines Mannes, der viel Geld hinter sich hat: Schultz, wenn der Name denn stimmt, ist neu in der Brüssel-Straßburg-Szene. Dass niemand etwas über ihn weiß, macht Liebling nervös. Er schätzt es, seine Feinde zu kennen, bevor er sich mit ihnen einlässt. John Schultz hat ihm einen Beratervertrag angeboten, an dessen Ende eine astronomisch hohe Zahl steht. Ich sollte ablehnen, aufstehen und gehen, denkt Liebling. Sein Dessertteller ist leer. Sein Konto ist gefüllt. Doch Gier, gepaart mit Neugierde, bannt ihn auf seinen Stuhl.

»Ich erwarte ja nicht, dass Sie ihn abknallen«, sagt Schultz eine Spur zu laut. Sein Lachen dröhnt durchs Lokal, und für einen Augenblick erstirbt das dezente Gemurmel an den Nebentischen. Liebling registriert, wie ihn Wollschläger, einer der mächtigen Direktoren der Brüsseler Kommission, mit verächtlichem Blick streift, bevor er sich wieder seinem Hummer widmet. Wollschläger steht auf der Spendenliste eines Chemiekonzerns, das weiß Liebling aus zuverlässiger Quelle. Der Mann hat kein Recht, auf einen wie ihn herabzusehen. Und doch, es schmerzt manchmal, im Krokodilbecken nicht geachtet zu werden. Liebling wollte einmal ein berühmter Anwalt werden, der Unschuldige vor dem Gefängnis rettet. Jungenträume, er ist viel zu alt geworden, und Krokodile haben eine dicke Haut.

»Wir brauchen einen Kommissar, der sich für die Interessen der Tabakindustrie einsetzt«, sagt Schultz jetzt. Leiser zumindest. »Der Grieche wäre gut. Und der Engländer muss weg. Ihnen muss ich ja wohl nicht sagen, dass er den Deal zwischen der EU und meiner Firma hintertreibt. Und wir wollen diesen Deal. Haben keine Lust auf langwierige Prozesse mit ungewissem Ausgang … obwohl wir selbstredend unschuldig sind.«

Die Unschuldsvermutung liegt Liebling eher fern. Schultz’ Konzern wird beschuldigt, sich am Zigarettenschmuggel zu beteiligen. 400 Milliarden Zigaretten werden jedes Jahr illegal auf den Markt gebracht, eine Zahl, die einfach zu groß ist, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, dass der eine oder andere Tabakkonzern seine Finger im Spiel hat. Die Firma, die John Schultz ins Rennen schickte, ist zurzeit im Brüsseler Visier. Sie soll am Schmuggelgeschäft über Andorra nach Spanien beteiligt sein. Wenn EU-Ländern Milliarden an Zigarettensteuer entgehen, werden sie penetrant. Aber natürlich ließe sich auch diese Sache mit Geld regeln, dem guten, schönen, alten Kompromiss anstelle der juristischen Konfrontation, die Jahre dauern kann. Bloß der Engländer ist vehement dagegen. Er will die Tabakleute hängen sehen.

»Man muss den Mann verstehen«, sagt Liebling leise. »Seine Frau ist an Lungenkrebs gestorben. Seither führt er so eine Art Privatkrieg gegen die Tabakindustrie.«

»Seine privaten Angelegenheiten interessieren uns nicht«, erwidert Schultz kalt. »Es ist der schädliche Einfluss, den er auf Kommission und Parlament ausübt, den wir unterbinden müssen. Es heißt, dass Sie so eine Art Biograph der Brüsseler Laster sind. Ein bestimmtes Kapitel Ihres Wissens würde uns viel wert sein. Sie haben den Vertrag, den ich Ihnen schickte, sicher sorgfältig gelesen. Die Kohle stimmt doch, oder?«

Viel Geld ist vulgär, denkt Liebling und trinkt den letzten Schluck vom Chateau Latour, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Eine Million Euro ist er ihnen wert. In Schultz’ Kojotenaugen tanzen die Lichter der Versuchung. Er sollte aufstehen und gehen. Liebling stellt sein leeres Glas auf den Tisch. »Es gibt keine Dossiers. Und Erpressung ist nicht mein Gewerbe.«

John Schultz ballt die Faust auf dem Tisch. Er trägt einen unvorstellbar hässlichen Siegelring. »Ach, kommen Sie, Mister Liebling, vergeuden Sie nicht meine Zeit. Ich habe genaue Erkundigungen eingezogen, und ich weiß genau, wen ich vor mir habe. Sie müssen nichts weiter tun für das viele Geld. Wenn ich die Informationen habe, werde ich meine Journalisten auf Trab bringen. Gleichzeitig mit der Medienkampagne läuft natürlich die politische Schiene. Vielleicht könnten wir den Engländer auch ohne Ihre Beratung abschießen, aber ich bin ein Mann, der immer gern mehrere Eisen im Feuer hat. Der Kommissar ist so gut wie tot. Welche Chancen gibt man dem Griechen als seinem Nachfolger?«

»Er ist der ideale Kompromisskandidat«, erwidert Liebling vorsichtig. »Niemand will ihn, aber niemand ist auch wirklich gegen ihn.«

»WIR«, sagt Schultz, »wollen ihn. Der Grieche repräsentiert ein Land der Tabakbauern.«

»Und raucht wie ein Schlot«, fügt Liebling hinzu. Die Faust hat sich wieder geöffnet, und Schultz bestellt Cognac beim Ober, der von unnachahmlicher Arroganz ist. Und gefällig, wie Liebling weiß, der ihn gelegentlich über Gespräche aushorcht, die Gäste miteinander führen.

Der englische Kommissar hat eine somalische Geliebte, die illegal in Brüssel lebt. Er hat ihr einen Job bei einer Werbeagentur besorgt, die manchmal für die Kommission tätig ist. Die Geliebte ist erst siebzehn und betrügt ihn mit einem senegalesischen Straßenmusiker. Liebling kann sich nicht an alle Einzelheiten des Dossiers erinnern, doch diese Informationen hat er im Kopf gespeichert. Vermutlich würde das, was er weiß, seinem Gesprächspartner genügen. Was zu einer weiteren Frage führt: Wozu braucht er weitere Millionen? Er hat genug Geld. Nun, er könnte mit Anna zwei Wochen nach »Treasure Island« fliegen. 2000 Dollar die Nacht. Die Nächte mit Anna sind schön und warm. Er wünschte, sie wäre hier, und er könnte sie um Rat fragen. Ein interessanter Gedanke: In welchem Verhältnis steht Annas Moral zu sehr viel Geld?

John Schultz hat den alten Cognac in seinen Kaffee gekippt und trinkt die Tasse leer, ohne abzusetzen. Sein »Garçon«, das er dem Ober nachbrüllt, klingt alles andere als französisch. Liebling versucht, seine Abneigung zu neutralisieren. Der Mann macht nur seinen Job. Er hat keine Manieren und keinen Respekt vor der Integrität anderer. Warum sollte er? Seine Firma ist vermutlich nicht nur am Zigarettenschmuggel, sondern auch an Geldwäsche beteiligt. Illegale Zigaretten werden mit illegalem Geld aus Waffen- und Drogenhandel finanziert. An jedem Glimmstängel hängt ein Tröpfchen Blut, wenn man es denn dramatisch sehen möchte. Liebling würde jetzt gerne rauchen, doch Schultz hat ihm, als sie noch nicht saßen, mitgeteilt, dass er leidenschaftlicher Nichtraucher sei. »Die Firma verordnet nur ihren Managern die tödliche Glut«, fügte er lächelnd hinzu. Seine Zähne sind weiß und makellos. Ein attraktiver Mann, wenn die Augen nicht wären. Kojotengelb. Annas Augen sind grün. Smaragde würden ihr gut zu Gesicht stehen. Liebling hegt keine große Zuneigung zu dem Engländer, der dafür bekannt ist, Lobbyisten zu verachten und ihnen aus dem Weg zu gehen, wann immer er kann. Der Idiot muss doch wissen, dass er mit einer illegalen Geliebten, fast noch minderjährig, nicht davonkommt – nicht in dieser Schlangengrube von Gerüchten und Intrigen.

»Nun spannen Sie mich nicht auf die Folter«, sagt Schultz, der die Rechnung prüft, die ihm der Ober gebracht hat. Wenn ihn ihre Höhe schockiert, lässt er sich dies nicht anmerken. Er legt einen Hunderteuroschein auf seine Kreditkarte und fordert einen Beleg für das Trinkgeld. John Schultz zeigt noch einmal seine Zähne: »Bei Spesenabrechnungen kennt die Firma kein Pardon. Nun, werden Sie den Vertrag unterschreiben, Mister Darling?«

Everybody’s Darling: Liebling widerstrebt dem Impuls, den Kopf zu schütteln. »Ich gebe Ihnen morgen Vormittag Bescheid. Vorausgesetzt natürlich, dass ich mit meinen Informationen Ihren Wissensdurst befriedigen kann.«

John Schultz lächelt etwas gequält: »Sie sind ein pain in the ass, Darling, aber ich brauche Sie. Und Sie sollten bei Ihrer Entscheidung nicht vergessen, dass auch andere Tabakleute davon Wind bekommen. Sie sind doch mit denen gut im Geschäft.«

Erpressung, serviert mit Krokodilslächeln, denkt Liebling. Dass jetzt der Grieche ins Lokal kommt, gefolgt von Vertretern des Reedereiverbandes, erscheint ihm als böses Omen. Alles wird so laufen, wie das Geld es will. Und er, Liebling, wird mitkriechen. Die Schleimspur ist schon zu lang, als dass er sich davon noch lösen könnte. Lang und klebrig und süß wie Honig. Annas Lippen schmecken nach Rauch und Schokolade. Er wird ihr eine Kette aus grünen Steinen kaufen und mit ihr auf eine Insel fliegen. Vielleicht ist es gut, dass die Diskette verschwunden ist. Ein Zeichen der Götter, dass man nicht alles wissen darf und dass es Grenzen gibt, die zu überschreiten gefährlich wäre. Die Wahrheit mag den Ausschlag geben. Doch der Stil rettet.