12. Kapitel

Krankenhäuser sind das Fegefeuer auf dem Weg zur Hölle. Dass Anna ihm dreimal lebend entkommen ist, liegt an der Geringfügigkeit der Eingriffe. Eine Mandeloperation ist ein Bagatellfall. Natürlich kann man auch daran sterben – oder an der Rohheit des medizinischen Personals. Ärzte, die sich über Betten hinweg zu Patienten äußern, als wären diese längst tot. Krankenschwestern, die um fünf Uhr morgens Fieber messen. Fraß, der Todessehnsüchte auslöst. Überall Rauchverbot. In den weißen Fluren riecht es wie Pest und Schwefel. Nie und nimmer wird sie in ein Krankenhaus gehen, Anna will zu Hause sterben, umgeben von Freunden, schmerzfrei natürlich, jeder will so sterben oder besser überhaupt nicht.

Sie findet Sibylle in der Kinderstation an Jonathans Gitterbett, den Kopf auf die Quersprosse gelegt, schlafend. Die Stellung ist so absurd, dass Anna gar nicht erst den Versuch macht, die Freundin aufzuwecken. Mit jedem Atemzug fällt Sibylles Kopf tiefer, und es ist eine Frage von Sekunden, bis sie abrutscht, vom Stuhl fällt und aufwacht. Anna stützt sie ab, als es geschieht. Beinahe fallen sie beide zu Boden, doch Anna ist vorbereitet und hält die Balance. Sibylle stöhnt, als sie aufwacht, und ihre geöffneten Augen sind vom Weinen gerötet. »Wo bin ich?«

»Im Krankenhaus. Du hast mich angerufen. Jonathan schläft.« Anna lässt die Freundin los. »Er sieht doch gut aus, ganz friedlich.«

Sibylle streichelt das winzige Wesen mit ihren Fingerspitzen: »Er hat eine Beule am Hinterkopf und eine Schürfwunde am Arm. Sie haben ihn untersucht: keine inneren Verletzungen.«

Ihre Stimme klingt so gequält, dass Anna die Freundin in die Arme nimmt. »Das ist großes Glück«, murmelt sie und hofft inständig, dass Sibylle nichts weiter sagt, sondern einfach nur an ihrer Schulter weint. Sie tut es leise, um ihr Kind nicht zu wecken. Weil sie dessen Schlaf braucht. Anna nimmt sich vor, Nachtwache zu halten, wenn Jonathan aus dem Krankenhaus nach Hause kommt. Ein Freundschaftsdienst, denn sie kann sein Geschrei nur schwer ertragen. Sie sind Monster, schon vom ersten Atemzug an, und sie bedingungslos zu lieben kostet mehr Kraft, als manche aufbringen können.

»Lass uns rausgehen und Kaffee trinken. Eine rauchen, zumindest vor der Tür.«

»Und wenn er aufwacht?«

»Wird er schreien, dann kommt schon jemand. An Beulen und Schürfwunden stirbt man nicht.« Anna steht schon an der Tür.

»Gott, bist du herzlos.«

Sie hat den Taxifahrer angeschrien, schneller zu fahren. Ist mit ihren Schuhen in Händen durchs Krankenhauslabyrinth gelaufen, Bilder von Särgen und Polizisten vor Augen. Sie ist herzlos, manchmal. Anna öffnet die Tür: »Wenn du mit mir reden willst, musst du schon mitkommen. Ich brauche meine Krücken – und du solltest dir auch wieder welche zulegen. Du lahmst, und Mutterschaft ist keine Heiligsprechung.«

Sie stehen mit Pappbechern und Zigaretten vor der Glastür, nachdem Sibylle ihr schweigend gefolgt ist. Sie sieht erbarmungswürdig aus. »Du könntest mal zum Friseur gehen«, sagt Anna.

Sibylle wirft ihren leeren Becher in den Mülleimer und dreht sich zu Anna um: »Ich glaube, ich habe ihn vom Wickeltisch gestoßen.«

Sie hat laut gesprochen, beinahe geschrien. Ein Priester, der die beiden Frauen passierte, bleibt abrupt stehen. Er hat mitgehört, und einen Augenblick erwägt er, die Letzte Ölung zu vergessen und sich einer Lebenden zuzuwenden. Doch der abweisende Blick der Rothaarigen lässt ihn diesen Gedanken verwerfen. Vielleicht hat die andere Person es nur so dahingesagt. Frauen neigen zu Hysterie und Männer zum Weghören. Er geht durch die Drehtür und bereitet sich auf seine Sterbende vor. Gott ist der einzige Trost, den er zu bieten hat. Doch manchmal ist der Tod zu groß, selbst für die gläubige Seele.

Anna sieht in den Himmel, der voller Wolkenfetzen ist. Er ist zu weit entfernt und sieht abweisend aus. An Gott zu glauben schien ihr schon als Kind sehr schwierig. Menschen als sein Ebenbild zu sehen ist noch anspruchsvoller. Was soll sie mit Sibylles Geständnis anfangen? Ihr Absolution erteilen? Sie mit Entsetzen strafen? Freundschaft kommt der Liebe sehr nahe, und Liebe verzeiht – fast – alles. Anna greift nach zitternden Händen: »Glauben ist nicht wissen. Wahrscheinlich redest du dir das ein, weil du in dem Wahn lebst, eine schlechte Mutter zu sein.«

Ihre Stimme ist brüchig vor Schlaflosigkeit und Kummer. »Aber ich habe daran gedacht, verstehst du? Als ich ihn wickelte und er plärrte und mir ins Gesicht pinkelte, da habe ich daran gedacht, wie schön mein Leben war, als es ihn noch nicht gab.«

Es war nicht immer schön, denkt Anna. Es war gierig und atemlos und ziemlich oberflächlich, wenn man es auf die Sinnwaage legt. Einsam, trotz oder vielleicht wegen der vielen Männer. Jetzt muss sie, verdammt noch mal, mit diesem kleinen Mann fertig werden. »Aber du hast nicht wirklich daran gedacht, ihn von der Kommode zu stoßen.« Kein Fragezeichen am Ende, und Annas Blick fleht um Zustimmung.

Sibylle schlägt die Augen nieder. »Nicht direkt, ich meine, ich weiß es nicht mehr. Nur, dass das Telefon klingelte und ich eine Bewegung machte – und da ist er runtergefallen.«

»So was kommt vor«, sagt Anna. Es ist ein Satz von großer Idiotie. Dass Sibylle sie fast dankbar ansieht, macht ihn nicht besser. »Und außerdem ist er unverletzt bis auf die paar Schrammen. Also hör auf, dich zu quälen. Es bringt nichts, und es ändert nichts. Wenn er aufwacht, nimm ihn mit nach Hause – und ich organisiere eine Babysittertruppe. Dann gehst du zum Friseur und in den Schönheitssalon. Da kann man prima schlafen.«

»Der Arzt hat mir komische Fragen gestellt.«

»Das müssen sie tun.« Anna, die Verdrängungskünstlerin, würde der Freundin gern von ihrem Talent etwas abgeben. Obwohl es nicht immer funktioniert. Das Mauz-Liebling-Bild ist allgegenwärtig, selbst jetzt. »Aber du hast ihm doch nicht diesen Blödsinn erzählt, oder?«

»Natürlich nicht.« Sibylle lauscht wieder, als ob sie Weinen bis hierher hören könnte. Doch ihre Stimme klingt fester: »Komm, lass uns zurückgehen. Es geht mir schon besser. Und … danke, dass du so schnell gekommen bist. Ohne meine Freunde wäre ich verloren.«

Sie hakt sich unter, und Anna fühlt sich besser. Es ist leichter, anderen zu helfen, als sich selbst. Sie muss Distanz finden, vor allem zu Martin Liebling. Damit sie ihn fragen kann, ohne vor seiner Antwort zu zittern. Wenn Liebe und Vertrauen zusammengehören, dann fehlt etwas in dieser Beziehung. Die Liebe.

Sibylle kauft im Krankenhausshop einen Plüschbären, der viel zu groß ist. Die Schuld ist klein, daran will sie jetzt glauben. Sie hat Anna die Wahrheit gesagt: Sie weiß nicht, was geschehen ist. Vielleicht ist sie für einen Augenblick eingeschlafen, im Stehen. Dann spürte sie den Urin im Gesicht, und das Telefon klingelte. Sie erschrak, und sie war wütend. Jonathan schrie lauthals, und sie griff nach den Tüchern neben dem Tisch … er strampelte … vielleicht hat sie ihn berührt, ungeschickt angefasst … es fehlen Sekunden … und das Nächste, das sie weiß, ist, dass er am Boden lag und noch lauter brüllte … und dass sie ihn vorsichtig in die Arme nahm und anflehte, am Leben zu bleiben. Ihn in eine Decke wickelte, während sie aus der Wohnung rannte, zum nächsten Taxistand … ins Krankenhaus … und die ganze Fahrt über schrie er, und sie dachte, dass dies ein Zeichen des Himmels ist, dass er noch lebt … und sie betete … und der Taxifahrer fluchte auf Türkisch, weil alle Ampeln auf Rot sprangen …

Sie hat immer noch ihre Hausschuhe an. Sie ist noch einmal davongekommen. Anna hat Recht: Sie kann gar nicht in Absicht gehandelt haben, weil sie Jonathan liebt wie niemanden sonst auf der Welt. Sibylle sieht auf die Wahnsinnsstilettos, die neben ihr auf das Linoleum klacken. »Wie kannst du nur in diesen Schuhen gehen?«

»Kann ich das? Ich warte darauf, dass ich mir den Knöchel breche und von einem hübschen Arzt versorgt werde. Dann bin ich von Eva Mauz verschont – und von Liebling auch – und muss mir um nichts mehr Sorgen machen.«

Die Sorgen ihrer Freunde, denkt Sibylle erschrocken, hat sie seit vielen Wochen nicht mehr wahrgenommen. Ihre Welt ist so klein geworden, dass sie selbst darin zu verschwinden scheint. Sie späht durch die Tür und sieht, dass ihr Baby immer noch schläft. Schließt sie wieder. »Was ist mit Liebling? Ist die Liebe schon zu Ende?«

Anna setzt sich auf den Boden vor die Tür und zieht ihre Schuhe aus. Gebrechliche Gestalten in gestreiften Bademänteln schlurfen vorüber und sehen durch sie hindurch. Dies ist ein Krankenhaus, und die Leiden der anderen interessieren nicht. »Nein«, sagt Anna, »aber vielleicht hat sie gar nie angefangen. Wenn er der Mann ist, den ich im Mauz-Fall suche, wäre dies ein solcher Witz des Schicksals, dass ich mich darüber totlachen könnte.«

Sibylle hat sich neben Anna gesetzt. »Sprichst du absichtlich in Rätseln?«

Anna erzählt ihr von dem Foto, das sie in der Wohnung gefunden hat. »Zufall«, sagt Sibylle spontan. »Er ist auch auf dem Schiff gewesen, und jemand hat sie fotografiert. Der Mann hat doch Geld, wie du sagst. Warum sollte er heiratsschwindeln?«

Wir haben in all den Jahren die Gabe entwickelt, einander zu trösten, denkt Anna. Und dass geteiltes Gelächter nur die eine Hälfte der Freundschaft ist. »Vielleicht macht er es aus Spaß. Weil er Frauen hasst oder so … und vielleicht hat er gar nicht so viel Geld, wie er tut. Manchmal denke ich, er ist ein Blender. Einer, der nichts von dem hält, was er verspricht.«

Sibylle legt Anna den Arm um die Schulter. »Und dann lacht er sich eine arme Kirchenmaus wie dich an? Ich bitte dich, Anna, komm mir jetzt nicht mit Verschwörungstheorien. Was ist mit dem Dichter?«

So beruhigend, diese Worte. Anna drückt die Hand an ihrer Schulter. »Er schickt mir ab und zu Gedichte, und gestern sind wir spazieren gegangen. Gangwein kommt mir so harmlos vor. Können Poeten böse sein? Irgendwie glaube ich nicht daran. Gestern habe ich den Namen Julia Mauz erwähnt, sagte, dass sie eine Freundin von mir war und sich umgebracht hat. Ich habe ihn dabei genau beobachtet – und es gab keine Reaktion, absolut nichts. Anschließend hielt er mir einen Vortrag über die Würde, die in einem Freitod liegen kann. Seneca ließ grüßen, und Gangwein hört sich gerne reden, aber das ist kein Verbrechen.«

»Vielleicht ist er nur ein guter Schauspieler.«

Es ist möglich, denkt Anna. Alles ist möglich, doch das hilft in der Sache nicht weiter. »Vielleicht bin ich nur eine schlechte Detektivin. Seit ich das Foto habe, blocke ich Liebling ab, weil ich Angst davor habe, ihn zu fragen. Und vor Eva Mauz fürchte ich mich allmählich auch. Die Frau balanciert am Rande eines Nervenzusammenbruchs – und ich habe sie bisher als herzloses Miststück eingeschätzt. Sie wird mit ihren Schuldgefühlen nicht fertig …«

Es war der falsche Satz, sie sieht es in Sibylles Gesicht. Verdüsterung, und jetzt beginnt sie zu weinen, und sie tauschen wieder die Rollen. Anna streichelt Sibylles Hand auf ihrer Schulter. »Blöde Lesben«, murmelt ein bleicher junger Mann, der seinen Tropf spazieren führt. Er schlurft weiter, und Anna fällt keine politisch korrekte Antwort ein. Dass die Hölle immer die anderen sind, weiß sie schon lange. Und auch, dass der Himmel, wenn es ihn denn gäbe, ein langweiliger Ort wäre.

»Sie können hier nicht einfach so sitzen. Dies ist ein Krankenhaus«, sagt die Schwester, die aus dem Nebenzimmer auftaucht.

Die Begründung erscheint Anna unlogisch, und die weiße Gestalt reizt zum Widerspruch. »Können wir doch«, sagt sie. Denkt, dass die Schwester aus einer Fernsehserie entsprungen ist, weil sie so blond und hübsch ist. Vielleicht drehen sie irgendwo, und dies ist gar kein richtiges Krankenhaus, sondern ein Studio für eine Endlosserie. Sie ist müde und traurig und möchte genau hier sitzen bleiben. Der Blonden ein Bein stellen, um einen ungraziösen Fall zu provozieren … die guten, alten, anarchistischen Anwandlungen, die stets zu nichts führen außer Ärger.

»Nein.«

»Doch.«

Die Schwester droht mit dem Oberarzt, und Anna ballt die Fäuste. Es ist genug, jetzt braucht sie eine Schuldige. Sie steht auf und baut sich drohend vor der Schwester auf, die erschrocken einen Schritt zurückweicht, doch keineswegs bereit ist, das Feld kampflos zu räumen. Das Duell der Blicke endet unentschieden, und die Frage, wer diesen Kampf gewonnen hätte, bleibt unbeantwortet, weil Jonathan in seinem Zimmer zu schreien beginnt. Sibylle springt auf, stößt die Tür auf. Schnitt, denkt Anna, und dass sie diesen Film nicht mag, weder Ort noch Handlung. Ihr Telefon klingelt in der Handtasche. »Handys sind auch verboten«, sagt die Schwester triumphierend, während Sibylle ans Bett eilt, um ihr Kind zu trösten.

»Schon bekannt«, sagt Anna und drückt auf die Aus-Taste. Es war Lieblings Nummer. Sie wird ihn zurückrufen, sobald sie zu Hause ist, ein Bad genommen und etwas gegessen hat. Der Wahrheit ins Auge zu sehen geht am Telefon vielleicht sogar besser. Man kann auflegen, wenn es zu schlimm wird. Sie sieht der Schwester nach, die ihre schmalen Hüften schwenkt. Sie hasst Krankenhäuser, Serien, die in Krankenhäusern spielen, und Detektivinnen, die darin vorkommen.

»Ich fahre schon mal zurück und organisiere die Babysitter«, sagt sie zu Sibylle, die das Wunder fertig brachte, ihr Kind zum Schweigen zu bringen. Es hängt an ihrer Brust und sieht zufrieden aus. Anna schaut weg, sie fühlt sich ausgeschlossen.

»Könntest du dich vorher um die Entlassungspapiere kümmern, ich kann hier nicht weg.«

»Aber sicher«, erwidert Anna. Sie ist der Fels in der Brandung. So sehen es die anderen. So steht sie da und weiß doch, dass eine einzige Welle ausreichen könnte, sie wegzuspülen.