3. Kapitel

»Damen über fünfzig sind schwer vermittelbar.«

»Und Sie können ein Lied davon singen«, entgegnet Anna liebenswürdig und mustert ihr Gegenüber mit sorgfältiger Abneigung. Linda Baum ist eine jener alterslosen Brünetten, die dreißig oder fünfzig sein könnten. Makellos geschminkt und gekleidet im Stil des pastellfarbenen Perlenkettenschicks, mit dem Anna sich nie anfreunden konnte. Obwohl sie heute ein Kostüm trägt anstelle der üblichen Hosen und Pullover, und selbst auf den alten Trenchcoat hat sie verzichtet, trotz des Regens, der Berlin überfallen hat wie eine Dusche, die sich nicht abstellen lässt.

Dennoch: Im Vergleich zur Dame Baum fühlt sich Anna wie die letzte Schlampe. Sie nestelt an ihrem Blusenkragen und sieht sich in dem blasslila Raum nach einem Aschenbecher um. Vergeblich. »Ich bin Raucherin, das kommt erschwerend hinzu«, sagt Anna.

Linda Baum seufzt dezent und steht auf, um aus einer Schublade einen winzigen Aschenbecher in Herzform zu holen. Die Couch, auf der Anna sitzt, ist blasslila und ebenfalls herzförmig. Dies ist ein lila Eheanbahnungsinstitut, und Linda Baum hat es »Aphrodite« getauft und eine Gipsfigur von entfernter Ähnlichkeit im Eingang platziert. Hier wird der reiferen Generation gedient, die ja auch ein Recht auf Liebe hat. So oder ähnlich formulierte es die Baum am Telefon. Die Detektivin tappt im Dunkeln, doch sie könnte sich vorstellen, dass Julia Mauz das »Aphrodite« gewählt hat. Deshalb sitzt Anna auf der Herzcouch: Andere Institute gaben ihr bereits telefonisch zu verstehen, dass Damen über vierzig zur »Krisenklientel« zählten. Es klang so herzlos, dass Anna nicht glaubt, Julia Mauz könnte ein solches Institut auch nur in Erwägung gezogen haben. Linda Baum hingegen war zuvorkommend, und sie ist es auch jetzt, obwohl sie Anna taxiert wie ein Preisrichter die Pfingstkuh.

»Sie sind sehr apart auf Ihre Art«, sagt sie schmeichelnd, und Anna hasst diesen Satz. Sie bläst ihrem Gegenüber Rauch ins Gesicht. Wie muss Julia Mauz gelitten haben, nachdem sie sich einmal entschlossen hatte, ihr Glück zu versuchen. Eine kleine graue Person, so unscheinbar, dass sie sich aufzulösen drohte, wenn man sie lange ansah. So sagte ihre Schwester, und Anna gab ihr Recht, nachdem sie die Fotoalben studiert hatte.

»Sie sind kein Uschi-Glas-Typ«, setzt Linda Baum nach.

»So alt bin ich ja auch noch nicht.« Anna lächelt gewinnend und entblößt strahlende Jackettkronen. Neben dem Jaguar das zweite große Loch in ihren Finanzen. Nein, besser nicht an das Auto denken. »Ich suche einen attraktiven, lebensfrohen und sinnlichen Mann, auf den IQ oder Geld lege ich weniger Wert. Obwohl, ein bisschen klug soll er schon sein.«

Die Brünette schenkt Tee nach und versucht, Annas Rauchschwaden auszuweichen. »Sie sind anspruchsvoll, das gefällt mir. Ich hege keinen Zweifel daran, dass wir den passenden Kandidaten für Sie finden werden.« Sie lacht perlend. »Männer gibt es schließlich wie Sand am Meer.«

Wo? Anna drückt ihre Zigarette in dem winzigen Aschenbecher aus. »Ich bin freiberufliche Journalistin, doch ich habe eine hübsche Summe geerbt, deshalb …«

Wie viel ist die Frage, die im Raum steht und nicht ausgesprochen wird. Anna hat den Angelhaken ausgeworfen, und Linda Baum hat angebissen, denn ihr Lächeln ist ein wenig breiter geworden. Geld ist so nett, denkt Anna, und ich habe keines. Sie hätte durchaus sparen können in der Zeit, als sie als Redakteurin ordentlich verdiente. Doch sie hat gelebt und ausgegeben. Und einen Großteil der Abfindung, die ihr die Zeitung zahlte, in todsicheren Aktien angelegt, die abgesoffen sind. Julia Mauz hat es einem Heiratsschwindler in den Rachen geworfen. Ist das nun schlimmer oder besser? Vielleicht, denkt Anna, hat sie für die halbe Million ein paar ekstatische Momente genossen. Sie hätte sich nicht umbringen dürfen, nicht des Geldes oder eines Mannes wegen. Ihre Schwester sagt, dass Julia eine stolze Frau war. Sie hat die Demütigung nicht ertragen, das wäre ein Motiv. Stolz stirbt aus. Anna hängt an Gefühlen, die aus der Mode gekommen sind.

Linda Baum hält ihre Teetasse mit abgespreiztem kleinen Finger und nippt graziös daran, während Anna in großen Schlucken trinkt. Maßhalten zählte noch nie zu ihren Stärken, und unter Baums Blicken schrumpft Anna zur Frau mit Unterleib, die einen Mann sucht, weil sie Sex braucht.

Weit gefehlt. Oder nicht? Anna, die eine Reihe einschlägiger Institute angerufen hat, ist sich fast sicher, dass Julia Mauz in diesem lila Zimmer war. Zum einen, weil das Institut mit Diskretion und Fingerspitzengefühl wirbt. Weil Julia sich gewiss überwinden musste, diesen Schritt zu tun.

Zum anderen, weil »Aphrodite« in Julias Stadtteil liegt. Sie besaß keinen Führerschein und gab nicht gern Geld für Taxen aus. Julia ging am liebsten zu Fuß, lange Spaziergänge, die sie mit Menschen in Berührung brachten. Menschen machten ihr Angst und zogen sie an. Sie war zehn Jahre lang mit einem Insektenforscher verheiratet, der in Amazonien an Malaria verstarb. Keine Kinder, sie hat stundenweise in einer Bibliothek gearbeitet, bis sie eingespart wurde und ihre Tage und Abende und Nächte zu Hause verbrachte.

Es sei eine kühle Ehe gewesen, sagte Eva Mauz, und die wenigen Familienfotos bestätigten diese Aussage. Nicht einmal auf dem Hochzeitsfoto lächeln sich die beiden an. Menschen verkommen zu Gefriertruhen, in denen Gier und Leidenschaft in kleinen Häppchen gelagert und selten aufgetaut werden. Bis der Stecker herausgezogen wird … Anna verdrängt dieses Bild und konzentriert sich auf ihr Ziel: einen Mann zu finden, der Gefühle und Geld gestohlen hat. Welche Anforderungen hätte Julia Mauz an einen möglichen Kandidaten gestellt? Von Sinnlichkeit hat sie gewiss nichts erwähnt, das war ein Fehler. Anna begeht ihrer viele, weil sie impulsiv ist und wenige ihrer Begierden tiefgekühlt sind.

»Darf ich nachschenken?« Linda Baum hat einen Fragebogen auf den Tisch gelegt und hält die Teekanne in der Hand. Das Papier ist fliederfarben.

»Nein, danke. Haben Sie denn schon irgendwelche Kandidaten für mich – auf Fotos oder Video?«

Linda Baum lächelt nachsichtig: »Sie sind ein wenig ungeduldig, Frau Marx. Erst einmal bitte ich darum, dass Sie den Fragebogen in aller Ruhe ausfüllen. Exakte Angaben helfen uns, den geeigneten Kandidaten zu finden. Und Videos, mit Verlaub, sind eine eher vulgäre Variante der Kontaktaufnahme. Die meisten Menschen machen vor der Kamera keine gute Figur, deshalb ziehen wir bei ›Aphrodite‹ den Weg der Worte vor. Auch keine Fotos, nur Beschreibungen, anhand derer man sich beim ersten Treffen erkennen kann. Das ist viel romantischer, glauben Sie mir: die gute alte Rose im Knopfloch.«

Julia war hier, denkt Anna, während sie den Fragebogen überfliegt. Niemals hätte sie sich der Selbstdarstellung mittels Kamera ausgesetzt, dazu war sie viel zu scheu.

»Der Austausch von E-mails ist allerdings erlaubt, wenn dies gewünscht wird. Wir können uns dem Zug der Zeit nicht ganz verschließen. Obwohl: Die Kunst zu lieben ist stets romantisch gewesen, wie schon Novalis schrieb. Die Rechnung ist übrigens beigefügt: Zweitausendfünfhundert Euro plus Mehrwertsteuer, zahlbar innerhalb einer Woche.«

Adieu, Novalis. Anna denkt an unbezahlte Rechnungen und sagt: »Das entspricht in etwa den Kosten einer Oberlidstraffung.«

Linda Baum lächelt nicht mehr. Vielleicht liegt es daran, dass ihr altersloses Gesicht, von Chirurgen nachgebessert, nicht allzu viel Mimik verträgt. Oder es mangelt ihr an Humor. »Wie ich sehe, haben Sie noch nicht daran gedacht, Frau Marx. Sehr klug von Ihnen. Die Männer bevorzugen die natürlichen Geschöpfe Gottes.«

Aber nur bis fünfundzwanzig, denkt Anna. Von da an können wir zusehen, wo wir mit unseren Falten bleiben. Bei Anna sind sie um die Augen verteilt und auf der Stirn eingeprägt, nur die Mundpartie ist bisher verschont geblieben. Linda Baum hingegen ist beinahe faltenlos, und dennoch könnte dieses Gesicht eine alte Maske sein, die abscheuliche Kopie jugendlicher Schönheit. Frauen sind ja so erbarmungslos mit ihren Geschlechtsgenossinnen, während sie Männern fast alle körperlichen Makel verzeihen. Nur stark und sensibel sollten sie sein, klug und humorvoll. Anna vermutet, dass Julia Mauz diese Worte wählte. Sie wünschte sich den ritterlichen Romeo und bekam einen Freibeuter.

»Und wie ist das weitere Prozedere?«

Sie entfernt Annas Aschenbecher mit spitzen Fingern. »Wenn wir den Fragebogen analysiert haben und das Honorar überwiesen ist, stellen wir Ihnen schriftlich einen Kandidaten vor. Sie können dann entscheiden, ob Sie ihn treffen wollen oder ob Sie einen weiteren Vorschlag wünschen. Und so weiter …«

»Das klingt nach grenzenlosem Vorrat«, sagt Anna in den Baum-Rücken, der in rosa Chanel verpackt ist.

Sie dreht sich um: »Es gibt viele einsame Herzen in Berlin, Frau Marx. Ich bin zuversichtlich, dass wir Ihren Herzenspartner finden.«

»Das ist schön. Aber ich habe es ziemlich eilig.« Gott, das war wieder so ein Marx-Lapsus. Linda Baum hat den Mund geöffnet und sieht jetzt leicht dümmlich aus. »Ich meine, dass ich es gar nicht erwarten kann, den Mann meiner Träume zu finden. Ich werde Ihnen Geld und Fragebogen also umgehend zusenden.« Aber nur, wenn Eva Mauz die Kosten trägt, denkt Anna, und dass sie es tun wird, weil sie sich in die »Suche nach dem Mörder« verbissen hat wie ein Bullterrier. Eine Rasse, der sie auch äußerlich ein wenig ähnelt: klein, kräftig, mit dicken Speckfalten um den Hals. Julia war ganz dünn, und sie war grau. Ob sie begonnen hat, sich zu schminken, als sie ihrem Ritter begegnete?

Die herzförmige Couch ächzt, als Anna sich erhebt. Sie hat die Papiere in ihre Handtasche gestopft und schüttelt jetzt eine Hand mit sorgfältig lackierten Nägeln. Dieses Kunststück hat Anna noch nie fertig gebracht. Sie ist der unvollkommenste Mensch, den sie kennt. Allerdings mit Humor gesegnet, der die Schwächen etwas abfedert. Sie hat noch nie von einem Mann gehört, der sich eine humorvolle Frau wünscht. Das wird sie also nicht in den Fragebogen schreiben. »Ich danke Ihnen für die Audienz, Frau Baum.«

Nicht ein Gran ironischen Verständnisses ist erkennbar. Die »Aphrodite«-Kupplerin verzieht ihre Lippen zu einem süßen Lächeln und begleitet Anna zur Tür. »Geliebt wird nur, wer sich selbst liebt«, sagt sie zum Abschied.

»Aber das ist das Schwerste«, erwidert Anna, die immer das letzte Wort haben muss. Doch die Tür hat sich bereits geschlossen, und Anna steht im Flur des Treppenhauses, das nicht herzförmig ist. Sie braucht jetzt Nervennahrung und beschließt, ihre Stammkneipe aufzusuchen, ihr Wohn- und Speisezimmer, Sibylles Kneipe, die »Mondscheintarif« heißt, von mittags bis Mitternacht geöffnet ist und einsamen Herzen zwar keine bessere Hälfte anbietet, doch immerhin Gesellschaft, Lärm und Gelächter, kühle Getränke und heißes Essen.

Sie ist aus Annas Leben nicht wegzudenken, diese Kneipe, so wenig wie die Freundin, die nach Annas Umzug von Bonn nach Berlin der einzige Mensch ist, der ihr wirklich nahe steht. Jemand, den man anrufen kann in Verzweiflung und Freude, eine, die Anna zuhört, wenn sie traurig ist, und mit ihr lacht, was beide lieber tun, aber nicht immer können. Ihre kleine Straße im Scheunenviertel ist Annas Kosmos, den sie nur verlässt, um zu arbeiten, einzukaufen, in ein Restaurant, Konzert oder einen Film zu gehen. Im Sommer radelt sie manchmal an den Wannsee, dies ist ihre einzige sportliche Note, denn sie hasst Leibesübungen in jeglicher Form.

Ausgenommen Sex, und natürlich fällt ihr jetzt Martin Liebling ein, während sie im Bus steht, der durch Regen und Verkehr schlittert. Der unselige Samstag, die Schulden, die Auskunft der Werkstatt, dass sie das Lenkrad und die Kühlerfigur einzeln verkaufen und den Rest verschrotten solle. Mechaniker sind so humorvoll. Sie hat die Figur geholt und den Wisch unterschrieben, dass ihr MK II in die ewigen Jagdgründe eingehen soll. Ihr Namenszug war ein wenig verwischt, und auf dem Nachhauseweg kehrte sie bei Sibylle ein und trank zu viel. »Noch ein Toast auf die schönsten Autos der Welt«, und Freddy, der schwule Barkeeper, tröstete sie damit, dass er wie ein Teufel Caipirinhas mixte. Sibylle bot ihr ein Darlehen von dreitausend Euro an, die Anna mit Babysitten abstottern könne, wenn sie das wollte.

»Nur, bis ich die Prämie für den Heiratsschwindler kassiert habe«, sagte Anna.

Sofern dies jemals geschehen sollte, und ihre größte, vielleicht einzige Chance ist das Heiratsinstitut. Unwahrscheinlich, dass Julia Mauz ihrem Verehrer bei einem Spaziergang begegnet ist. Sie war schüchtern und ließ sich nicht so ohne weiteres ansprechen. Eva Mauz ist davon überzeugt, dass ihre Schwester im Wege der Vermittlung zu Fall gekommen ist. Und beklagt, dass man sie nicht zu Rate gezogen habe. Sie ist, anders als ihre Schwester, ein kommunikativer Mensch. Eine Endlossprechblasenmaschine, die mit beängstigender Herzlichkeit über Menschen herfällt und sie nicht mehr loslässt. Obwohl Eva Mauz allein lebt, wie ihre Schwester es tat, ist sie pausenlos unterwegs zu Bridgeclubs, literarischen Matineen, Wohltätigkeitsveranstaltungen, Ausstellungen, um nur niemals mit sich selbst allein zu sein. So verschieden, doch Anna versteht, warum Julia die Gesellschaft ihrer Schwester mied, so gut sie konnte. Eva Mauz sägt an den Nerven ihrer Mitmenschen. Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht anruft und die Detektivin nach »Fortschritten« fragt, um dann von diesem und jenem zu erzählen oder Anna zu einer »wundervollen Lesung im kleinen Kreis« einzuladen. Jeder Tag wird zu einem Ereignis deklariert, und Berlin liebt die älteren, gut situierten Damen, die Kultur, Kaffeehäuser, Friseure und Hundesalons fördern.

Ich bin ein boshaftes altes Weib ohne Geld, denkt Anna, während sie nach einer leeren Bierdose tritt, die scheppernd auf die Straße rollt. An der Bushaltestelle musste sie sich ihren Weg durch diejenigen boxen, die einsteigen wollten. Jugend forscht, wie rücksichtslos man sich durchs Leben und ins Trockene kämpfen kann, wenn die Sintflut kommt. Dann verwandeln sich die Straßen in ein Meer der Gehetzten, die Schirme als Lanzen einsetzen. Anna wünscht sich Gummistiefel anstelle der teuren, italienischen Schuhe, die alles sind, nur nicht wasserdicht. Verfluchte Eitelkeit, die Frauen nicht verlässt, solange sie auf den Füßen stehen.

Kurz bevor sie die Kneipe erreicht, klingelt ihr Handy. Sie fischt danach in ihrer großen Handtasche, findet es auf wundersame Weise und drückt auf den richtigen Knopf.

»Was machen Sie gerade?«

Martin Lieblings Stimme: »Ich stehe im Regen«, sagt Anna.

»Klingt gut. Ihre tausend Euro sind bei mir eingegangen, herzlichen Dank.«

»Keine Ursache.« Anna springt auf die Treppe und steht unter dem Vordach. Vor ihr der Regen und hinter ihr die Tür zur trockenen Zuflucht. Er muss sich noch ein paarmal bedanken, bis ich meine Schulden bezahlt habe, denkt Anna und drückt das Handy an ihr nasses Ohr. Am Telefon wird sie immer sehr wortkarg, was daran liegen mag, dass sie modernen Kommunikationsformen nur bedingt gewachsen ist.

»Ich rufe aus Brüssel an, aber ich bin übermorgen in der Stadt. Sollen wir essen gehen?«

Die Tür geht auf, Anna erschrickt und lässt das Handy fallen. Es liegt in einer Pfütze am Fuß der Treppe, und eine weibliche Stimme sagt: »Kannste nicht woanders telefonieren?«

Anna dreht sich um. »Kannste nicht aufpassen, du Trampel?«

»Selber Trampel.« Das Mädchen schiebt sich an Anna vorbei, und das Wunder geschieht: Es bückt sich und hebt Annas Telefon auf. »Hier. Scheint noch zu leben, obwohl’s schon so ein olles Ding ist.«

Die Verbindung ist unterbrochen. Bevor Anna etwas sagen kann, verschwindet das Mädchen im Regen. Die Welt ist in dieser Ecke Berlins nicht höflich, doch für überraschende Gesten immer gut. Neulich hat ihr ein junger Mann das Fahrrad aufgepumpt, statt es zu klauen. Anna schämt sich für den »Trampel« und alle bösen Worte, die ihr so schnell über die Lippen kommen. Sie wartet, ob Liebling sich nochmals meldet, doch das Handy bleibt stumm. Natürlich könnte sie zurückrufen, es ist nur ein Tastendruck, doch sie bringt es nicht fertig. Eine Barriere aus Stolz und Scheu, die Anna nie gänzlich überwunden hat. Man darf sich den Männern nicht an den Hals werfen, ein Spruch ihrer Mutter, die längst tot ist, doch in all ihren furchtbaren Sätzen weiterlebt. Regen bringt Segen.

Anna wischt sich ein paar Regentropfen, die sich unters Vordach verirrt haben, aus dem Gesicht und öffnet die Tür zum »Mondscheintarif«. Liebling wird wieder anrufen. Sie schuldet ihm noch siebentausend Euro. Sie wird nicht mit ihm ins Bett gehen. Doch gegen ein anständiges Abendessen wäre nichts einzuwenden. Warum ruft er nicht an?