1. Kapitel

Es waren die teuersten zehn Sekunden ihres Lebens.

Anna Marx sah nach rechts auf den Beifahrersitz statt geradeaus auf die Straße. Suchte in ihrer Handtasche die Zigaretten, die sich dem tastenden Griff ihrer Hand entzogen hatten. Zehn Sekunden, in denen ein Wagen in die ampellose Kreuzung einfährt, die Anna in diesem Augenblick passiert. Als sie hoch sieht und reagiert, ist es zu spät. Sie weiß es, während sie mit quietschenden Bremsen auf das Auto zuschlittert. Der Himmel ist so nah, und der andere Wagen groß und blau. Metall auf Metall kreischt gemein bei Feindberührung. Kann sie das Weiß in den Augen des anderen sehen, oder ist es nur der Reflex ihrer Angst? Der Gurt schneidet in ihr Fleisch beim Zusammenprall. Es gibt Geräusche, die Ohren nie berühren dürften. Augenblicke, die so bodenlos sind, dass man in ihnen versinken möchte. Sekunden der absoluten Stille. Anna schließt ihre Augen und wünscht sich an einen anderen Ort. Nicht die Hölle, vielleicht die Fidschi-Inseln oder die namibische Wüste. Denn sie lebt noch, sie kann sich fühlen, und alles scheint an seinem Platz zu sein. Nur der Ort ist falsch, die Zeit, die Umstände. Und wenn sie die Augen nicht öffnet, wird dann alles nur ein Traum sein?

Auf der kaum befahrenen Seitenstraße in Zehlendorf stehen zwei ineinander verkeilte Autos, ein neuer BMW und ein alter Jaguar. Der Mann steigt aus, er hält die Hand am Nacken, als wolle er seinen Kopf festhalten. Er betrachtet kurz die traurige Gestalt seines Wagens und öffnet dann vorsichtig Annas Tür. Er berührt ihre Schulter. »Sie sind doch nicht tot, oder?«

Anna öffnet die Augen und sieht durch die gesprungene Scheibe in den blauen Himmel. »Nein. Sie?«

»Wir leben noch«, sagt er, »und ich hatte Vorfahrt.«

Es ist Zeit, der Katastrophe ins Gesicht zu sehen. Es ist blass, irgendwo angesiedelt zwischen alt und jung, nicht gänzlich unsympathisch, obwohl sie ihn zum Teufel wünscht. »Ich weiß das. Sie hätten trotzdem bremsen können.«

»Hab’ ich, aber zu spät, wie Sie auch. Man darf sich nicht auf Vorfahrtsschilder verlassen. Und Sie sollten jetzt aussteigen. Vielleicht läuft ja Benzin aus, es war eine ziemliche Karambolage.«

Annas Hände zittern, und er hilft ihr, den Gurt zu öffnen. Sie nimmt ihre Tasche, die an allem schuld ist, und hebt vorsichtig die Beine aus dem Wagen, fühlt Asphalt unter den Füßen und blinzelt in die unbeteiligte Sonne. Er stützt sie leicht am Arm, als sie steht, und führt sie auf die andere Seite. »Sieht ziemlich schlimm aus. Schade um den schönen, alten Wagen.«

Anna bringt es kaum fertig hinzusehen. Der Jaguar, der so viele Jahre ihr Lieblingstier war. Sie kaufte ihn, obwohl sie wusste, dass er ihre finanziellen Verhältnisse in eine einzige Mesalliance verwandeln würde. Diese hier ist abgründig: Der Wagen ist abgemeldet. Keine Versicherung. Der MK II stand die ganze Zeit über in der Garage, sie wollte ihn an diesem schönen Tag ja nur ein wenig ausführen, das Brummen des alten Motors hören, das Leder riechen …

… und nun hat sie ihn zu Schrott gefahren und obendrein einen Unfall verursacht, mit Folgen, die sie nicht bezahlen kann. Anna wischt sich mit dem Handrücken eine Träne von der Wange. Eine Blutspur bleibt daran, sie hat sich ihren Handknöchel aufgeschlagen. Nur eine kleine Wunde, doch alles andere schmerzt schrecklich.

Er sieht sie besorgt an, nein, sie ist nicht der Typ, der anmutig in Ohnmacht sinkt. »Schöne Scheiße«, sagt sie und folgt ihm an den Straßenrand. Anna setzt sich auf einen Stein, der groß genug erscheint, und sucht in ihrer Handtasche nach den Zigaretten. Das Tatmotiv, ein Zeichen des Himmels, dass sie endlich aufhören sollte. Anna nimmt eine Zigarette und hält ihm die Packung hin. »Wollen Sie auch eine? Ich finde es nett, dass Sie nicht Ihr Wrack bejammern oder die Frau hinterm Steuer verdammen.« Das meint sie ernst. Es hätte schlimmer kommen können. Es kann immer noch schlimmer kommen …

Er nimmt eine Zigarette und gibt ihr Feuer. Anna zieht den Rauch tief ein und sieht ihm in die Augen. Sie sind braun und von Fältchen umkränzt. Wird er lachen, wenn sie ihm sagt, dass sie nicht versichert ist?

Ihr Opfer bläst Rauch in Annas Richtung. Sein Lächeln erscheint sorglos. »Ich habe nichts gegen Frauen, auch nicht am Steuer. Autos sind nur Dinge, und die sind austauschbar. Dafür gibt es Versicherungen … sollten wir nicht die Polizei rufen?«

»Nein.« Anna hält sich die Hand vor den Mund, denn es war ein Schrei, und er sieht sie zum ersten Mal misstrauisch an. Sein Gesicht ist hart geworden, es liegt mehr darin als nur Liebenswürdigkeit und die leichte Sicht der Dinge. »Haben Sie getrunken? Wie heißen Sie überhaupt?«

»Anna Marx. Und Sie?«

»Martin Liebling. Sehr angenehm, wäre jetzt nicht die richtige Formel, oder? Was haben Sie gegen die Polizei?«

Ich habe vor einem Jahr einem Bullen in den Unterleib geschossen, denkt Anna, und dass es vielleicht klug wäre, dies nicht zu erwähnen. Die Wahrheit schmeckt nach Zyankali, und sie muss ihm das Gift in kleinen Dosen beibringen. Sie weiß nur nicht, wie. Schnell und schnörkellos: »Der Wagen ist nicht versichert. Er war abgemeldet.«

Anna sieht ihn an, während sie das sagt. Mit einem Blick, der um Gnade fleht, vielleicht sogar winselt. Sie hat schöne, grüne Augen, das weiß sie. Doch der Rest ist nicht unbedingt geschaffen, Männerherzen zu erweichen. Zu alt, sie ist fast einundfünfzig. Etwa sein Jahrgang, aber was heißt das schon im Geschlechterkampf? Dass sie ihn nicht gewinnen kann.

Liebling schweigt, als ob er ihre Worte verdauen müsste. Anna verordnet sich Demut und Buße. »Ich weiß, dass es dumm von mir war. Es tut mir so Leid. Aber konnte ich ahnen, dass ich einen Unfall baue, wenn ich einmal in zwei Jahren mein Auto in Bewegung setze? Ich zahle den Schaden, das verspreche ich. Polizei würde die Sache nur komplizieren … zumindest für mich. Ich unterschreibe alles, was Sie wollen.«

Sie schafft eine Träne, die, mit Mascara verbunden, über ihre Wange läuft. Er steht mit verschränkten Armen vor ihr, ein Fremder, der sie ruinieren wird, so oder so. Eigentlich ist es ihr egal, soll er doch die Polizei rufen, Anna hat keine Lust mehr auf bedingungslose Unterwerfung. Sie steht auf und zertritt die Zigarette mit der Schuhspitze. Rote Schuhe von Baldini, sie waren auch zu teuer. Für alles zahlt man, für jeden gottverdammten Fehler, und Anna könnte davon ein Lied mit vielen Strophen singen.

»Die Zigarette kann nichts dafür«, sagt Liebling, er ahnt ja nichts. »Also gut, lassen wir die Polizei. Aber es wird Sie eine Stange Geld kosten.«

»Spielt keine Rolle«, erwidert Anna, die vollkommen pleite ist. Seit Tagen, Monaten und Jahren. Seit sie ihren Job bei der Zeitung verloren hat und sich als Privatdetektivin durchs Leben schlägt. Marlowe lässt grüßen, aber der hatte zumindest aufregende Fälle, während sie sich überwiegend mit entlaufenen Katzen und Ehebrechern befasst. Nun, Marlowe ist eine Kunstfigur, und manchmal denkt Anna, dass sie auch eine ist. Erschaffen von einem Meister, der mit Verlierern Pingpong spielt. Sie ist einer seiner Lieblingsbälle, und dieser Aufschlag war zu hart. Sie würde gerne weinen, aus Selbstmitleid, und weil sie sich hier und jetzt vom Leben überfordert fühlt.

Martin Liebling hingegen sieht aus, als ob ihn wenig erschüttern könnte. Gut gefülltes Konto, gut gefüllter Bauch im guten Anzug, die richtigen Schuhe und ein nettes Auto, das schon mal besser ausgesehen hat. Warum musste er in dem Augenblick einbiegen, als sie für Sekunden unaufmerksam war? Shit happens, würde Sibylle sagen. Die beste Freundin, die ihr vielleicht Geld borgen kann. Bis Anna ihren Heiratsschwindler zur Strecke bringt und die Prämie kassieren kann.

»Eine schicksalhafte Begegnung«, sagt Liebling, während er sein Handy aus der Brusttasche holt. »Wir hätten beide tot sein können. Gott sei Dank bin ich einmal nicht zu schnell gefahren. Ich rufe jetzt den Abschleppdienst, wenn’s recht ist. Ich wage nicht, mir vorzustellen, was die Reparatur Ihres Wagens kostet. Meinen schätze ich so auf die zehntausend.«

Mark oder Euro? Anna bremst die Frage, bevor sie ihre Lippen erreicht. Sie winkt ein Auto weiter, das stehen blieb. Nein, sie brauchten keine Hilfe, keine Gaffer, kein Handy. Jeder hat heute eines, und Liebling weiß sogar die Nummer des Abschleppdienstes. Ein Mann, der alles im Leben unter Kontrolle hat, genauso sieht er aus. Eine schicksalhafte Begegnung? Sie wäre ihr zu gerne ausgewichen. Doch es ereilt dich immer, das Schicksal, weil du Fehler machst. Letztendlich ist es nur die Summe aller Dummheiten und Zufälle, und diese Summe ergibt null: den Tod. Ihm noch einmal entkommen zu sein, ist tröstlich, aber nicht glückbringend.

Ihr Crashpartner steht an seinem demolierten Wagen und telefoniert, während Anna ihr Auto ausräumt: Turnschuhe, eine Wasserflasche, leere Zigarettenschachteln, Zeitschriften. Sie stopft alles in ihre große Tasche, das Füllhorn ihres ungeordneten Lebens, und setzt sich dann wieder auf den Stein am Straßenrand. Rauchend. Anna Marx ist ihren Lastern treu ergeben und pfeift auf Himmelszeichen. Sie nimmt Abschied von ihrem geliebten MK II, und hierzu braucht sie eine Krücke.

Ein Glas Whisky wäre auch gut, aber mitten in der Pampa kaum zu kriegen. Und sollte er es sich überlegen und doch die Polizei rufen, wäre es auch nicht klug.

Er steht in der Sonne und sieht erbarmungswürdig aus. Fünfzehn Jahre ist es her, dass sie den Wagen kaufte, mit ihren ersten und letzten Ersparnissen, denn fortan war der alte Jaguar ihr Sparschwein, ein Gefährt von solcher Fragilität, dass ein plötzlicher Wetterumschwung ihn zum Erliegen brachte. Bei heftigen Regenfällen blieb er grundsätzlich stehen, und den Winter mochte er so wenig wie seine Fahrerin, sodass sie ihn meistens in der Garage ließ. Er war einfach nur schön, und vielleicht liebte sie ihn, weil er nicht perfekt funktionierte und kein austauschbares Ding war wie Lieblings Fahrzeug. Sie wird den nachtblauen Gefährten vermissen, obwohl sie ihn in Berlin so gut wie nie gefahren hat. Deshalb hat sie ihn ja auch abgemeldet, und welcher Teufel hat sie geritten, ihn an einem Samstagnachmittag aus der Garage zu holen?

Fjodor hat bei geöffnetem Fenster gesungen, das war ein Grund. Fjodor haust über Annas Wohnung und Büro, und er hält sich für Caruso mit russischem Akzent. Eva Mauz rief an und fragte, ob der Heiratsschwindler, der Mörder ihrer Schwester, schon gefasst sei. Der Wasserhahn tropfte, und auf dem Schreibtisch lagen unbezahlte Rechnungen. Draußen schien die Sonne. Straßenlärm kroch durch schmutzige Scheiben. Der Gummibaum grinste sie an, ach, es gab tausend Gründe, warum sie auf diese wahnwitzige Idee verfiel.

»Der Abschleppdienst ist in fünfzehn Minuten da. Meinen Termin habe ich abgesagt, er war ohnehin nicht so wichtig. Sollen wir irgendwo einen trinken gehen? Darauf, dass wir noch leben?«

Anna sieht Liebling von schräg unten an. »Ich habe auch Hunger. Die normale Reaktion meines Magens auf katastrophale Ereignisse.«

»Passieren die öfter?« Vielleicht wollte Martin Liebling gar nicht auf Annas Rundungen anspielen, doch so interpretiert sie seine Frage und funkelt ihn böse an. »Ich kann auch in meine Stammkneipe fahren und mir dort überlegen, wie ich Ihr blödes Auto bezahlen soll.« O nein, das war falsch. Sie will doch einen guten Eindruck machen, selbst in aussichtsloser Lage. »Nein, ich trinke gerne einen. Es muss der Schock sein. Ich bin böse auf mich und traurig, weil ich mir nie wieder ein so schönes altes Auto leisten kann. In Zukunft werde ich zu Fuß gehen …«

»… aber nicht mit solchen Schuhen.« Liebling beginnt zu lachen und erwärmt damit Annas Herz. Sie ist ein Single mit Sexproblemen. No Sex. Er trägt einen Ehering, was nicht mehr viel heißt in treulosen Zeiten. Anna hat vor kurzem ernsthaft erwogen, sich einen Ring zu kaufen. Vorspiegelung falscher Tatsachen, aber Sibylle hätte dies ausgiebig kommentiert, und die Begründung »Ich wäre aber gern verheiratet« erscheint selbst Anna als abwegig.

»Sollen wir zu Fuß gehen oder ein Taxi rufen?«, fragt Anna, und sie entscheiden sich für einen Spaziergang durch Zehlendorf, bis sie eine Kneipe finden, die geöffnet hat. Anna wechselt schon einmal in die Turnschuhe, Fußbekleidung, die sie hasst, aber hier und jetzt ist ihr das egal. Wenn Männer zu beneiden wären, dann um ihre Schuhe, die immer Bodenhaftung haben. Liebling steht abseits und telefoniert, dies scheint seine Krankheit zu sein. Danach rauchen sie gemeinsam, diesmal seine Zigaretten, und sehen in den wolkenlosen Himmel, der von Sommer kündet und Tagen, nach denen sich alle sehnen, um dann unter der »Affenhitze« zu stöhnen.

Wie lebt man damit, Liebling zu heißen? Anna sieht ihn von der Seite an. Sein Gesicht ist nicht schön, aber sehr entspannt. Braune, freundliche Augen und graue Haare, die Nase ist zu groß, und die Lippen sind eine Spur zu schmal. Attraktivität unterliegt keinen Normen, zumindest nicht bei Männern. Er sieht aus, als habe er mit sich und der Welt Frieden geschlossen, ohne allzu selbstgefällig zu werden. Er raucht und trinkt, das ist beruhigend, und die sanfte Wölbung des Bauches unter dem schwarzen Jackett lässt darauf schließen, dass er auch der Völlerei nicht abgeneigt ist.

Menschen mit Lastern sind glücklicher, daran glaubt Anna Marx, und zählt sich also zu jenen, die vielleicht kürzer leben, aber länger genießen. Sport ist Mord. Wenn sie über eine Stunde radelt, fühlt Anna sich schon fast olympiareif. Nun, sie wird zumindest nicht mehr Auto fahren. Berlins Straßen werden sicherer. Ist es Glück zu nennen, dass sie einen gerammt hat, der Liebling heißt?