10. Kapitel

Sie hat ihr den Brief nicht gezeigt, er liegt in ihrer Schreibtischschublade: Julias Abrechnung mit ihrer Schwester Eva. Die nie abgeschickten Dokumente von Liebe und Hass könnten eine Bibliothek füllen, denkt Anna. Oder Friedhöfe: Hier ruht die verborgene Literatur von Vertrauen und Verrat. Gefühle, die nie eine Adresse gefunden haben.

Anna weiß immer noch nicht, was richtig oder falsch ist. Doch viel mehr noch als der Brief beschäftigt sie das Foto. Sie hat einige Aufnahmen aus der Wohnung mitgenommen, um sie Eva Mauz zu zeigen. Identifizierung von unbekannten Subjekten, nur kennt sie eines leider viel zu gut. Sie hat Liebling bedeutet, dass sie leider keine Zeit für ihn habe, als er anrief, um ihr zu sagen, dass er in Berlin sei. Er schien enttäuscht, vielleicht sogar verletzt, aber in der Analyse von Telefonstimmen war sie nie besonders gut. Sie hat schnell aufgelegt, noch bevor er versuchen konnte, sie umzustimmen. Feigheit, Annas großer Feind. Sie wird sich der Frage stellen müssen, wie er auf das Foto mit Julia Mauz kam. Doch vorher will sie die Schwester befragen.

Eva Mauz sitzt in dem Stuhl vor Annas Schreibtisch und studiert alte Fotografien. Die Lesebrille verändert ihr Gesicht, macht es klüger, sympathischer. Nur wenige Frauen können sich grünen Lidschatten leisten, und Eva Mauz gehört definitiv nicht dazu. Auch ihr Kostüm ist grün, waldfarben, Landhausstil. Die plumpen Finger mit den vielen Ringen halten jedes Foto lange fest. Sie ist in eine Vergangenheit zurückgekehrt, die nicht mehr zu verändern ist: Familie, die Brutstätte alles Bösen und Guten.

Zu Annas Erstaunen weint Eva Mauz. Tränen auf zu viel Rouge, und Anna reicht ihr ein Taschentuch über den Schreibtisch. »Möchten Sie etwas trinken? Wasser? Tee?« Warum weinst du wegen ein paar alten Fotos? Sie beantwortet die ungestellte Frage selbst: Sentimentalität. Selbstmitleid. Der Trauer nahe, aber eben nicht ganz.

Eva Mauz tupft sich mit dem Taschentuch Tränenspuren von den Wangen. »Wasser vielleicht. Ich glaube, ich werde noch verrückt. Ich muss immerzu an sie denken. Ich träume von Julia. Sie steht an einem Abgrund und streckt mir die Hand entgegen. Und ich will sie ergreifen und Julia festhalten, aber ich kann mich nicht bewegen, keinen Schritt. Sie sagt etwas, das ich nicht höre, es ist sehr windig da oben, wo wir stehen.

Und dann fällt sie … und ich wache schreiend auf. Sie müssen diesen Mann finden, Frau Marx, sonst drehe ich durch.«

Ich auch, denkt Anna, und steht auf, um ein Glas Wasser zu holen. »Erkennen Sie denn die Leute auf den Fotos?«

Eva Mauz weint immer noch, als könne sie nie wieder aufhören. Sie hat ihre Brille abgenommen und ihr Gesicht entblößt. Es ist alt und müde, plötzlich maskenlos trotz aller Schminke. Sie ist so einsam wie ihre Schwester, denkt Anna, und ihre gesellschaftliche Geschäftigkeit ist nur der prächtige Rahmen für ein jämmerliches Bild. Sie tut ihr Leid, zum ersten Mal. Und sie wird ihr Julias Brief nicht zeigen. Es ist zu spät … für alles, was zwischen den beiden hätte gut werden können. Das, denkt sie, ist der Ursprung aller Qualen. Das »nicht mehr« und »noch nicht«. Sie kann Julia nicht mehr helfen und sie noch nicht betrauern.

»Danke für das Wasser. Ich habe mir das Weinen eigentlich schon seit Jahren abgewöhnt. Sehe ich schrecklich aus?«

Anna schüttelt den Kopf. Das Leben zwingt zur Lüge.

Eva Mauz sieht Anna dankbar an. »Ja, die meisten kenne ich. Freunde der Familie, Vettern und Cousinen. Einige sind schon tot, und zu den Lebenden habe ich keinen Kontakt mehr. Mein Mann, wissen Sie, legte keinen Wert auf Familie oder Freundschaften. Er meinte, dass wir zwei uns genügen sollten. Ich fand das auch richtig so, bis er starb und mich allein zurückließ. Dann hatte ich praktisch nur noch Julia, aber sie verhielt sich sehr kühl, sie wollte einfach keinen engen Kontakt mehr. Ich hätte mich mehr um sie bemühen müssen … ich habe sie doch geliebt.«

Wenn die Fassaden bröckeln, bleiben immer noch Mauern aus Selbstschutz. Anna liegt der Brief auf der Zunge, nein, sie wird es nicht tun. Sie zeigt stattdessen auf das Foto, das Liebling und Julia auf dem Schiff zeigt. »Und was ist mit diesem hier? Kennen Sie ihn?«

Eva Mauz setzt ihre Brille wieder auf und studiert das Bild. Es dauert eine Weile, bis sie antwortet: »Nein, er ist mir unbekannt. Hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Vetter von uns, der jetzt in Australien lebt. Aber nein, Helmut war kleiner als dieser Mann hier, deutlich kleiner. Ich kenne ihn nicht.« Sie sieht zu Anna hoch, die neben ihr steht. »Ist das der Mann, der Julia umgebracht hat?«

Sie hat aufgehört zu weinen. Ihr Gesicht ist hart geworden, hart und rachsüchtig. Sie führt einen Feldzug, denkt Anna, stellvertretend für alle Fehler und Unterlassungen während Julias Lebzeiten. Einer muss schuld sein, anders wird sie mit dem Selbstmord nicht fertig. Liebling lächelt in die Kamera, ein wenig verzerrt, was auch an der schlechten Qualität der Aufnahme liegen mag. Anna liebt ihn, liebt ihn nicht. Im Moment hasst sie ihn. Sie wird ihn fragen müssen und hat Angst vor der Antwort.

»Es ist nur ein Foto, Frau Mauz. Wir wissen nicht, wann und von wem es aufgenommen wurde. Nicht jeder Mann, der zufällig neben Ihrer Schwester steht, muss der Heiratsschwindler sein.«

»Ich glaube nicht an Zufälle«, erwidert Eva Mauz. Sie weint nicht mehr. »Alles ist schicksalhaft, zumindest, wenn wir das Leben von rückwärts betrachten. Das Foto kann nicht älter als zwei Jahre sein. Vorher hatte Julia braune Haare. Sie sind dann praktisch über Nacht grau geworden. Habe ich ihr nicht immer gesagt, sie soll sie färben lassen! Als ob es nicht reicht, alt zu sein: Man muss es nicht noch zur Schau stellen.« Sie greift an ihre Haare, deren Farbe Anna immer schon blendete. »Disziplin ist alles. Hat mein Mann stets gesagt.« Sie zeigt auf ein Bild eines sehr dicken Mannes. Wenn er Disziplin gepredigt hat, war diese Ehe auf Täuschung aufgebaut, denkt Anna. Und dass Eva Mauz ihren Mann zumindest einmal betrogen hat. Wenn es stimmt, was ihre Schwester in dem Brief schreibt.

»Warum hat Julia dieses Foto in der Hutschachtel versteckt?«

Anna kehrt von ihrem Ausflug in die Region Liebe und Betrug zurück in die Gegenwart. Verteidigt den Mann, dem sie nicht traut: »Es waren viele Bilder, Frau Mauz. Vermutlich hat sie diese vergessen, weil doch alle anderen so penibel eingeordnet und beschriftet waren. Es kann etwas bedeuten, muss aber nicht.«

»Finden Sie ihn!« Eva Mauz weint nicht mehr, sondern erteilt einen Befehl. Der Feldzug geht gegen den konkreten Feind, und Anna fühlt sich in der Defensive. Sie muss Liebling fragen. Sie wird ihn fragen, und es wird eine simple Erklärung für dieses Foto geben. Anna glaubt an Zufälle. An das Absurde und Unwahrscheinliche und an den Untergang der Welt. Daran, dass nichts stiller ist als eine geladene Kanone. Heinrich Heine. Ein besserer Dichter als Josef Gangwein.

»Ich will mein Bestes tun, halte aber den Poeten nach wie vor für den Hauptverdächtigen. Schließlich hatte Julia sein Gedichtbändchen in ihrem Regal.«

Eva Mauz ergreift Annas Hand über den Schreibtisch hinweg. »Finden Sie ihn. Damit ich wieder schlafen kann. Julia verfolgt mich. Sie will ihre Rache.«

Das war melodramatisch. Anna entzieht ihre Hand und lenkt sie zur Zigarettenpackung. Dieser Fall beginnt sie zu quälen. Lieblings Foto, Gangweins Gedichte, der schlaflose Racheengel. Als ob alles nicht schlimm genug wäre, beginnt Fjodor jetzt oben zu singen. Wagner, die Arie des Holländers. Die bekennende Wagnerfeindin hält sich an ihrer Zigarette fest und sieht auf den Gummibaum, der zu zittern scheint. Verzerrte Wahrnehmung. Annas Auge zuckt nervös, der Tick, der sie manchmal überfällt, wenn sie sich überfordert fühlt.

»Was ist das?« Eva Mauz hat den Kopf seitlich gesenkt und starrt zur Decke. Ihre Ohren zittern. Nein, es ist der Tick.

»Der ›Fliegende Holländer in der Interpretation eines Russen. Er heißt Fjodor und wohnt über mir.«

»Es klingt wundervoll«, sagt Eva Mauz, bevor sie von einem Weinkrampf geschüttelt wird, der schließlich Fjodors Gesang übertönt. Das Telefon klingelt, als ob es darauf gewartet hätte, einer grauenhaften Situation den geräuschvollen Rest zu geben. Anna hebt den Hörer ab, während sich ihre Klientin im Duett mit Fjodor in ihre Gehörnerven gräbt.

Sibylles Stimme klingt hysterisch: »Du musst sofort kommen, ich bin im Krankenhaus. Jonathan ist vom Wickeltisch … gefallen … was ist das für ein Lärm bei dir?«

Anna hat trotz allem die Pause vor dem Verb gehört. Drei Sekunden. Einundzwanzig Gramm. So viel wiegt die Seele, wenn die Theorie eines amerikanischen Sterbeforschers stimmt. So wenig. »Ist er verletzt?«

»Ich weiß es nicht. Ja. Du musst kommen.« Sie nennt Anna das Krankenhaus und legt sofort auf.

Eva Mauz ist ein Bild des Jammers, doch sie weint nicht mehr. Sie starrt Anna aus roten Augen an. »Wer ist verletzt? Haben Sie ihn gefunden?«

Ist sie verrückt geworden? »Nein. Das war meine Freundin. Ihr Sohn ist im Krankenhaus, und sie braucht meinen Beistand. Ich muss sofort los.«

Anna steht auf und sucht erst ihre Handtasche, die unter dem Schreibtisch liegt, und dann den Schlüssel, bis ihr einfällt, dass er im Türschloss steckt.

»Sie müssen mich mit diesem Fjodor bekannt machen, wenn wir den Fall abgeschlossen haben. Vielleicht kann ich einen Gesangsabend arrangieren.«

Eva Mauz ist in ihre Welt zurückgekehrt, und dazu passt die Sonnenbrille von Dior. Sie knöpft ihre grüne Kostümjacke zu, während sie aufsteht. »Aber Sie lassen sich doch nicht wegen dieser Sache von Ihrer Suche ablenken!«

»Keineswegs«, murmelt Anna, während sie ihrer Klienten den Weg in den Flur weist. Ihr Schirm hängt am Gummibaum, doch sie vergisst ihn. Eva Mauz zeigt auf den Baseballschläger, der neben der Eingangstür lehnt. »Und wozu brauchen Sie den?«

»Zum Baseballspielen«, sagt Anna. Eine Lüge. Aber diese Geschichte ist zu lang und kompliziert, um sie Eva Mauz zu erzählen. Sie hat mit einem mörderischen Polizisten und einem Engel zu tun. Er ist verschwunden, als ob es ihn nie gegeben hätte. Die Stadt ist voller Engel. Doch man begegnet ihnen nicht.