2. Kapitel

Das Bier ist kalt, und die Buletten sind genießbar. Die Kneipe, die sie nach halbstündigem Fußmarsch fanden, ist vom alten, schäbigen Berliner Schlag, eine Orgie in holzgetäfeltem Mief, jedoch mit einem kleinen Garten, in dem Kastanienbäume Schatten werfen. Die lokalen Trinker stehen drinnen an der Theke, während Anna und Martin Liebling auf unbequemen Stühlen in der Sonne sitzen. Anna tankt Wärme, die sie braucht, um nicht zu frieren angesichts der finanziellen Lage, in die sie sich gefahren hat. Sie trinkt Bier in langen, durstigen Zügen.

Liebling hat sein Jackett über den Stuhl gehängt und seinen Bauch ihren neugierigen Blicken preisgegeben. Er ist annehmbar, ein sanft gewölbtes Monument des Genießens, und Anna weiß nur zu gut, dass nicht alles möglich ist: der perfekte Körper und die Erfüllung leiblicher Begierden.

Er ist ein Mann, der gut zuhören kann. Sie hat ihm auf dem Fußmarsch die Geschichte des MK II erzählt, es war ein Nachruf, den sie brauchte, um Bilder aus ihrem Kopf zu verbannen: Das Wrack an der Kette und auf dem Transporter, und das Letzte, was sie sah, war ein blaues Hinterteil mit einem ungültigen Nummernschild. Beide Wagen wurden in eine Werkstatt gebracht, die Liebling ausgesucht hat. Ihr ist es egal, Anna weiß, dass sie die Reparaturkosten für den Jaguar nie bezahlen kann.

Alkohol verflüssigt Skrupel, und Anna spricht aus, was nicht zu verschweigen ist. »Ich weiß nicht, ob ich das Geld auf einmal aufbringen kann. Wären Sie denn mit zwei, drei Ratenzahlungen einverstanden?« Du hast keine Wahl, Liebling, also sag Ja: Anna sieht ihm in die Augen und leckt sich Bierschaum von den Lippen. Ihr Glas ist leer, genau wie ihr Bankkonto. Der Kühlschrank, den sie letzte Woche kaufen musste, fraß das magere Guthaben. Anna lebt von der Hand in den Mund, und für unvorhergesehene Ereignisse gibt es keine Reserven aus bedrucktem Papier.

»Was machen Sie beruflich?«, fragt er, um Zeit zu gewinnen. In diesem Augenblick bereut er, dass er nicht doch die Polizei gerufen hat. Er ist ein Spieler, was daran liegen mag, dass er sein Geld zu leicht verdient. Doch dieses Spiel nimmt Wendungen, die ihm missfallen. Wie kann sie einen alten Jaguar fahren, wenn sie pleite ist?

»Freischaffende Detektivin«, murmelt Anna.

»Wie bitte?«

»Privatdetektivin. Schnüfflerin. Private Eye. Man kann davon leben … zur Not.« Anna wendet ihr Gesicht zur Sonne und schließt die Augen. »Und was tun Sie für Geld?«

»Berater, ich arbeite in Brüssel, habe aber hier meinen ersten Wohnsitz. Eine Riesenaltbauwohnung in der Potsdamer Straße. Ich habe sie von meiner Großmutter geerbt, und da ich sie nicht zu einem anständigen Preis vermieten kann, wohne ich halt selbst darin, wenn ich in Berlin bin.«

Der Ärmste. Annas Großmutter hinterließ einen Rosenkranz aus Elfenbein, das war’s auch schon. Berater von was und für wen? Anna denkt sofort an windige Geschäfte, sie hat eine kriminelle Phantasie. So ein dummes, kleines Vorfahrtsschild: Hätte es nicht ihn treffen können, wenn er schon so viel mehr hat als sie? Das Leben ist nicht fair. Das hat sie schon oft gedacht, und es ging weiter, das Leben, ohne Rücksicht auf Anflüge von Weltschmerz oder Zweifel an irdischer Gerechtigkeit.

Liebling scheint immer noch zu überlegen, wie er ihrer Bitte begegnen könnte. »Vielleicht kann ich mir das Geld auch borgen, es wird schon irgendwie gehen. Machen Sie sich keine Sorgen! Soll ich irgendwas unterschreiben? Ein Schuldanerkenntnis?«

Liebling nimmt einen Bierdeckel und zieht einen silbernen Kugelschreiber aus seinem Jackett. Er schreibt: Am 30. Mai hat Anna Marx Martin Lieblings Auto zu Schrott gefahren. Sie zahlt.

Er schiebt ihr den Bierdeckel hin, und Anna stutzt nur kurz, bevor sie lachend unterschreibt. »Jurist sind Sie offenbar keiner.«

»Doch, zumindest ansatzweise. Nachdem ich durchs erste Examen gefallen bin, habe ich mit Politologie weitergemacht. Ich mag Ihr Lachen. Sie sind die erste Detektivin meines Lebens. Sind Sie gut?«

Es gibt Fragen, auf die weder Wahrheit noch Lüge passen. Anna entscheidet sich für die ausweichende Antwort: »Gut genug, um Ehebrecher mit ihren Geliebten zu fotografieren. Meistens regnet es, wenn ich vor einer Absteige stehe und darauf warte, dass sie für mich posieren. Und viele Klientinnen weinen, wenn ich ihnen die Fotos zeige. Es ist ein trauriges Gewerbe, überwiegend.« Anna sieht auf seinen Ring: »Ich hoffe, dass Sie mir nie auf diese Weise begegnen. Ein Zusammenstoß reicht mir.«

»Ich bin geschieden«, erwidert Martin Liebling. »Meine Frau ist mit dem Golflehrer abgehauen. Immerhin hat sie inzwischen ein beachtliches Handicap.«

Seine Augen lächeln nicht, während er das sagt. Verrat ist eine Wunde, die nie ganz verheilt. Warum er den Ehering immer noch trägt, verrät er nicht. Anna tippt auf das Naheliegende: Der Ring ist eine gute Abwehrwaffe gegen heiratswütige Frauen. Nett von ihm, dass er sie nicht dazuzählt. Oder er denkt, dass sie schon zu alt ist, um davon zu träumen. Falsch gedacht: Frauen bleiben bis ins Greisenalter romantisch und von der Idee besessen, dass ihr Ritter in strahlender Rüstung noch zu ihnen unterwegs ist. »Ich habe nie geheiratet. Um ehrlich zu sein: Es hat mich nie einer gefragt. Was zu bedauern wäre, wenn ich an die Institution der Ehe glaubte.«

Liebling hat den Bierdeckel mit Annas Unterschrift in seine Jackentasche gesteckt. Sie deutet es als eine Geste des Aufbruchs, doch er bestellt noch zwei Gläser Bier. Das ist gut, weil Annas Durst groß ist und sie nie wieder überlegen muss, ob Alkoholpegel und Autofahren zusammenpassen. Sie holt eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche, schließlich muss der Mann wissen, wo er sein Geld eintreibt.

Welches Geld? Liebling studiert die Karte, als ob sie ihm Aufschluss gäbe über Anna Marx im Besonderen. »An welchem Fall arbeiten Sie gerade?«

Anna öffnet einen Knopf ihres T-Shirts. Nicht, um ihn zur Heirat zu verführen, sondern um Sonne an ihre Haut zu lassen. Dieser Tag wäre wunderschön, wenn sie rechtzeitig auf die Straße geschaut hätte, statt nach Zigaretten zu suchen. Sein Blick ist schwer einzuschätzen, doch böse ist er nicht. Es scheint ihn wenig zu berühren, dass sein Wagen demoliert ist. Ein Mann, der nicht an Dingen hängt, das gefällt ihr. Und so erzählt sie ihm unter Weglassung der Namen die Geschichte des Heiratsschwindlers, den sie unbedingt finden muss, um Eva Mauz ihren Seelenfrieden zurückzugeben. Und eine Prämie zu kassieren, auch dieser Aspekt ist von Bedeutung, besonders jetzt.

»Die Schwester meiner Klientin hat sich umgebracht, das war vor vier Wochen. Nennen wir sie Helga. Helga war siebenundfünfzig, als sie sich in ihrem Wohnzimmer erhängte. Es war Selbstmord, und die Schwester ist überzeugt, dass ein Mann daran schuld ist. Einer, dem Helga ihr Erspartes anvertraut haben muss, denn es ist nichts mehr auf den Konten. Ungefähr eine halbe Million, die Schwestern hatten ein Grundstück geerbt und es verkauft. Meine Klientin kennt diesen Mann nicht, sie hat ihn nur einmal von weitem auf der Straße gesehen. Helga war eine Frau, die ihr Privatleben sehr unter Verschluss hielt. Sie war einsam, sie hatte keinen Freundeskreis, und die Schwestern verstanden sich auch nicht besonders gut. Das ist zumindest mein Eindruck. Doch der Selbstmord hat Schuldgefühle ausgelöst. Sie will diesen Mann unbedingt finden, denn sie braucht einen, der verantwortlich ist. Vielleicht will sie auch nur das Geld zurück, ich weiß es nicht, aber es spielt für den Auftrag ja auch keine Rolle. Ich durchkämme also Berlin nach einem Heiratsschwindler, von dem ich weder weiß, wie er heißt, noch, wie er aussieht.«

Anna hält in ihrem Redefluss inne, um einen Schluck zu trinken.

»Die Welt ist schlecht«, sagt Liebling, und sieht so aus, als ob er wüsste, wovon er spricht.

»Und viele Leute leben gut davon«, erwidert Anna. Sie lächeln einander an. Sie wissen nichts voneinander. Darin liegt die Erotik jedes Anfangs – und vielleicht die Tragödie jedes Endes. Anna fühlt ihren Bauch, das ist ein schlechtes Zeichen. Das letzte Mal war es ein schöner Jüngling mit schlechtem Charakter, der chemische Reaktionen auslöste. Man kann sich nicht auf sie verlassen. Vielleicht wäre Helga alias Julia Mauz noch am Leben, wenn sie ihren Bauch ignoriert hätte. Oder sie hätte sich eines Tages aus Einsamkeit umgebracht … es gibt viele Gründe, das Leben nicht zu lieben … und keinen einzigen, der gegen die Liebe spricht.

Immerhin bin ich noch keinem Heiratsschwindler aufgesessen, denkt Anna. Einer Reihe von Männern mit guten Manieren und fragwürdigen Eigenschaften, aber sie haben mich nicht umgebracht. Nicht einmal das Prinzip Hoffnung haben sie getötet …

»Wenn Sie die erste Rate bezahlt haben, lade ich Sie zu einem guten Essen ein«, sagt Liebling. »Es gibt ein paar nette Lokale in Berlin oder Brüssel.«

Es klingt gleichermaßen drohend und verlockend. Ich werde hungern müssen, um meine Schulden zu bezahlen, denkt Anna. Eine Nulldiät wäre angebracht. Sie sieht über den Glasrand hinweg in seine braunen Augen. »Das wäre nett.«

»Ich bin nicht nett.« Er blickt zurück, und Anna senkt als Erste die Augen. »Aber ein Heiratsschwindler bin ich nicht – und wenn, würde ich mir keine darbende Detektivin aussuchen, die ein Auto zu Schrott fährt, das sie sich nicht leisten kann.«

Eine Wolke schluckt die Sonne, und Anna friert plötzlich und greift nach ihrer Jacke. »Ich könnte verstehen, wenn Sie böse auf mich wären.«

Wovon ich mir nichts kaufen könnte, denkt Martin Liebling. Sie ist anziehend. Nicht mehr jung, nicht stromlinienförmig, doch mit schönen Augen und Zähnen, die sie oft zeigt, weil sie gerne lacht. Ein bisschen verrückt, doch eine wohltuende Abwechslung von den dynamischen jungen Frauen, die Brüssels Büros und Betten säumen. Eine Armee von Glücksritterinnen: Sie wollen entweder Karriere machen oder einen heiraten, der es an ihrer Stelle tut. Gott, er ist ein abgebrühter Hai, der die Goldfische nur noch aus Gewohnheit mitnimmt. Alles gelebt und genossen, das ist eine Lebensformel, die ihm zunehmend aufstößt. »Ich bin nicht böse. Ich wollte mir sowieso einen neuen Wagen kaufen. Und wenn Sie Ihre Schulden abstottern, ist das schon in Ordnung. Das wirklich Komische daran ist, dass ich zu einem Termin unterwegs war, den ich abscheulich fand.«

»Warum?«, fragt Anna. Ein Marx-Wort von starker Frequenz.

Martin Liebling sieht in eine Ferne, in die Anna ihm nicht folgen kann. »Ach, ist nicht so wichtig. Ich bin froh, dass ich ihm ausgewichen und Ihnen reingefahren bin. Ehrlich! Und darauf sollten wir noch einen trinken.«

»Sie sind ziemlich schräg.«

Er mustert sie auf eine Weise, die sie unverschämt finden könnte. »Sie auch. Was machen wir nun mit diesem angebrochenen Karambolage-Samstag?«

»Nicht das, was Sie denken«, erwidert Anna. Ihre raue Stimme kann sehr spitz werden. Sie knöpft ihr T-Shirt zu und verhüllt sich in ihrer Jacke. Er grinst, als ob er ihre Bemerkung komisch fände. Seine Augen sind hart in manchen Augenblicken. Sie muss auf der Hut sein: vor sich selbst und anderen. Eine Einstellung, die zu nichts führt außer Einsamkeit in schmerzfreier Zone. Julia Mauz hatte den Sprung ins Leben gewagt und war tödlich enttäuscht worden. Anna versteht sehr gut, warum sie abgehoben hat ohne Netz und Seil. Sie muss nur noch herausfinden, für wen sie es tat. Nicht in Wirtschaften sitzen, Bier trinken und das alte Spiel spielen. Bube sticht Dame, das war schon immer so. »Ich denke, wir sollten uns auf den Weg machen. Die Sonne ist weg.«

»Metaphorisch gesprochen?«

Anna schaut in den blassen Himmel. »Nein, tatsächlich. Und ich kann auch kein Bier mehr trinken.«

Martin Liebling zieht sein Jackett an, es sieht leicht und teuer aus. Er könnte ein Hochstapler sein, denkt Anna, oder ein Mafioso. Kein Mann, den sie jemals kannte, ging mit größeren Summen so sorglos um. »Haben Sie sehr viel Geld?«

Liebling sieht sie an, als wäre sie ein kleines Mädchen, das lustige Fragen stellt. »Nein, aber genug. Wir könnten auch irgendwo anders hingehen und Champagner trinken.«

Anna winkt dem Kellner, der sich in den Garten verirrt hat. »Davon kriege ich erst Schluckauf und dann Kopfschmerzen. Ich war nie der Champagnertyp. Womit verdienen Sie Ihr Geld?«

Während sie bezahlt, zündet sich Liebling noch eine Zigarette an. Er will nicht gehen, sondern mit ihr sitzen bleiben, bis es dunkel wird und so kalt, dass sie einander wärmen müssen. Vielleicht liegt es gar nicht an ihr, sondern daran, dass es Tage gibt, an denen er nicht allein sein kann. In dem Augenblick des Zusammenpralls dachte er, dass er sterben müsse. Dass Engel rothaarig sind und Oldtimer fahren, erschien ihm logisch, und dass Shit sein letztes Wort gewesen wäre, auch. Sie bezahlt mit einem Hunderter, dem einzigen Schein in ihrem Portemonnaie. Und sieht ihn dann fragend an. Womit verdient er sein Geld? Er spricht nicht gern darüber, aber sie würde ohnehin nicht lockerlassen.

»Mit Wissen, Beziehungen und Kontakten. In Brüssel sitzen Parlamentarier und Bürokraten, und sie werden umschwirrt von Lobbyisten. 6000 sind registriert, aber tatsächlich sind es viel mehr – Vertreter von Industrien, Verbänden und Vereinigungen, die ihre Interessen in der EU vertreten. Es ist ein Spiel, bei dem es um sehr viel Geld geht. Ich berate sie – gegen Honorar natürlich. Stillt das Ihren Wissensdurst?«

Anna steht auf und blickt auf ihn herab. »Ein Lobbyist der Lobbyisten? Das ist fast so komisch wie Detektivin. Ich wäre nie darauf gekommen.«

Er sieht sie von unten fast zärtlich an. »Geld ist nie komisch, Anna Marx. Das sollten Sie in Ihrem zarten Alter schon gelernt haben.«

Er berührt ihren Unterarm, als er aufsteht, und Anna zuckt zurück. Es geht nicht, denkt sie, und an das nie mehr nach dem letzten Scheitern. In Turnschuhen ist sie fast auf gleicher Höhe wie er, sie ist eine große Frau, die immer klein und zierlich sein wollte. Das Hirn ist ein Traumspeicher. Doch immerhin befiehlt es ihren Beinen, sich zu bewegen. »Rufen wir zwei Taxen?«, fragt Anna und rekapituliert das noch verbliebene Bargeld.

Martin Liebling hat sein Handy in der Hand. Es hat ein paarmal in seiner Jackentasche vibriert, während sie unter dem Kastanienbaum saßen, doch er hat es ignoriert. »Wir nehmen eines, und ich setze Sie ab.«

»Ich liege nicht auf Ihrem Weg.« Gott, geht es noch zweideutiger? Anna greift an ihre Nase, das tut sie immer, wenn sie verlegen ist. Doch er telefoniert schon, während Anna mit den Füßen im Kies schart. Vielleicht hätte sie doch mit ihm Champagner trinken sollen, statt auf Aufbruch zu drängen. Wenn etwas zu Ende geht, ist sie immer traurig. Also jeden Abend, wenn sie in ihr Bett fällt, das zu groß für eine Person ist. Wer die Mär vom fidelen Single erfunden hat, ist nie alt genug geworden, um die Grausamkeit des Alleinseins zu begreifen. Sibylle hat zumindest ihr Baby. Jemand, mit dem sie reden kann, während es schreit. Jonathan hat kräftige Lungen, und er ist das hässlichste Baby, das Anna je gesehen hat. Und seine Mutter findet ihn schön. Das ist Liebe.