5. Kapitel

»Mondscheintarif« kurz vor Mitternacht: Die Kneipe liegt fast gegenüber von Annas Wohnbüro im Scheunenviertel, und um diese Zeit sind die Gäste getränkt von sanfter Melancholie, Alkohol und Müdigkeit. Am Ende des Tages finden sich die üblichen Verdächtigen an Freddys Theke: Anwohner, der schwule Clan des Barkeepers sowie Fremde, die von einem Ort zum anderen ziehen auf der Suche nach dem wahnsinnigen Spaß, der ultimativen Begegnung, dem Rausch des Vergessens. Leiser ist die Musik zur Geisterstunde, und wer nicht schweigen kann, schwelgt in besoffenen Themen von Politik, Geld oder Liebe. Folter im Irak und die deutsche Misere auf hohem Niveau, sinkende Aktienkurse und steigende Arbeitslosigkeit, die ernste Liebe und der leichte Sex. Es ist alles eins, und nur um eines geht es: diesen Tag zu überleben und wenn möglich die nächsten, am besten nicht allein.

Sibylle sitzt an der Theke vor einem Glas Milch und raucht die todbringende Zigarette. Sie sieht müde aus, ein schlafgestörtes Muttertier, das als Kneipenwirtin zu funktionieren hat. Anna hat drei Stunden Nachtwache bei Jonathan gehalten und dabei versucht zu lesen, doch Babys schlafen unsäglich leicht, und wenn sie aufwachen, schreien sie. »Was willst du von mir?«, brüllte Anna irgendwann zurück, und er schien es komisch zu finden, denn er lächelte wie ein Engel und war still. Für ein paar Sekunden. Anna hat die zweifelnde Freundin einst darin bestärkt, dieses Kind auszutragen. Das hat sie nun davon. Sibylles Blick ist flehend: »Hat er geschlafen?«

»Wenig, aber er war lieb.« Anna setzt sich auf den freien Barhocker und überlässt Freddy die Wahl des Getränks. Er stellt ein Bier vor sie hin. »Babys machen durstig.«

Und sehr, sehr aggressiv, denkt Anna. Wenn sie schlafen oder lächeln, sehen sie aus wie verknautschte Engel. Doch das Brüllen ist teuflisch, es zerrt an allen Nerven bis hin zum Zusammenbruch aller Liebe. Seit sie zum Kreis der Kinderhüter gehört, versteht Anna, dass auch die Mutter-Kind-Beziehung nicht perfekt ist. Weil sie aus vollkommener Abhängigkeit besteht. Aus der Fortpflanzung von Schuld. Und der Gedanke Ich könnte dich aus dem Fenster werfen war da, und sie weiß, dass auch Sibylle ihn kennt. Es sind die besseren Mütter, die das zugeben, zumindest nach Annas Auffassung.

»Prost, Mama. Du kannst dich entspannen. Er schläft, und ich habe das Babyfon mitgebracht.« Das Folterinstrument liegt auf der Theke, und Sibylle starrt darauf, als wolle sie es hypnotisieren, still zu bleiben. Anna streicht über ihren verspannten Nacken. »Na komm, er war fast die ganze Zeit wach, jetzt ist drei Stunden Ruhe …«

»With a little help from my friends« ist ein gutes Lied zu dieser Stunde, und Fjodor singt laut mit, weil er Tenor ohne Engagement ist und manchmal die Stimme mit ihm durchgeht. An seinen Gesang zu allen Gelegenheiten hat Anna sich mittlerweile gewöhnt, und auch daran, dass er sie regelmäßig anschnorrt, weil er sie in die Familie seiner Mäzene eingereiht hat. Doch Fjodors Kreuzzug gegen Raucher geht ihr allmählich zu weit. Gemeinsam mit Freddy versucht Fjodor, ein Rauchverbot im »Mondscheintarif« durchzusetzen, die beiden sammeln Unterschriften bei den Stammgästen und husten abwechselnd anklagend, wenn jemand sich eine Zigarette anzündet. Was Anna jetzt tut.

»Roken ist dodelijk«, ruft Fjodor jetzt, die flämische Variante, denn er kann diesen Satz in fast allen Sprachen.

»Klingt witzig«, sagt Anna, pafft ungerührt weiter und nimmt sich vor, ihm nie wieder etwas zu leihen und die Polizei zu rufen, wenn er das nächste Mal bei offenem Fenster Arien schmettert. Seit Jonathan auf der Welt ist, raucht sie nicht mehr in Sibylles Wohnung, die oberhalb der Kneipe liegt. Raucht nicht in öffentlichen Gebäuden oder Verkehrsmitteln, auf Flug- und Bahnhöfen, in Gegenwart von Kleinkindern und Asthmatikern. Sie findet, das reicht. Es muss Refugien geben für die süchtige Minderheit, die genauso stirbt wie alle anderen. Vielleicht schneller, aber andererseits gibt es viele Arten, zu Tode zu kommen. Zum Beispiel durch Herzensbrecher und – Diebe, und Julia wählte den Strick, eine Form des Selbstmords, die Anna fast so martialisch findet wie die Samuraivariante. Sie wäre eher der Schlaftablettentyp, in Verbindung mit einer Flasche Wodka, aber nein, da ist immer noch diese Neugier auf das Leben, und die kann sie nicht töten, solange sie fühlt.

Die Putzfrau fand Julia Mauz im Schlafzimmer, es war der Donnerstag, an dem sie immer kam, und da hatte Julia Mauz schon drei Tage an einem Wäscheseil gehangen. Bis auf die umgeworfene Trittleiter war die Wohnung ordentlich aufgeräumt. Julia hatte ihre Tagebücher verbrannt und die Asche in den Mülleimer geworfen. Es gab nichts mehr zu tun, als die Notrufhummer zu wählen.

Anna hat mit der Putzfrau gesprochen, zumindest in Ansätzen, denn Deutsch ist nicht immer die gängige Sprache in Berlin. Olga beherrscht die Diskretion der drei Affen. Über die Tote sagte sie nur Gutes, obwohl sie Julia Mauz offensichtlich nicht mochte. Fünf Euro die Stunde, das Wort »Hungerlohn« kam Olga schnell über die Lippen. Die Ausgebeuteten sind sich ihrer Lage bewusst, doch sie wissen auch um das kapitalistische Spiel von Angebot und Nachfrage. Die Schwester hat Olga in ihre Dienste übernommen, sie begründete es mit moralischer Pflicht, obwohl Olga vermutlich billiger ist als die Tschechin, die sie bisher hatte. Anna mag Eva Mauz nicht, und in solchen Fällen unterstellt sie stets niedrigste Motive. Doch ihr Geld braucht sie dringend, obwohl sie im »Mondscheintarif« anschreiben lassen darf, bis sie wieder flüssig ist. Es wird nie sprudeln, denkt Anna, weil ich eine lausige Detektivin und noch schlechtere Autofahrerin bin. Bisweilen sackt die Stimmung in Weltschmerz, den mit Alkohol zu bekämpfen müßig ist: Er macht alles nur noch schlimmer.

»Ist noch was zu essen da?«

Sibylle sieht Anna mit müden Augen an. »Nur noch ein paar Sushi.«

»Ich hasse Sushi.«

Anna hasst fast alles, was gesund und kalorienarm ist. Sibylle murmelt etwas von Käse und Wein.

»Das klingt schon besser. Bleib sitzen, ich hole es mir aus der Küche.«

»Im kleinen Kühlschrank«, ruft Sibylle ihr nach. »Und bring mir auch was mit.«

Freddy schüttelt den Kopf, denn er missbilligt Fressorgien nach Mitternacht. Disziplin ist, was den beiden Frauen fehlt, die er anbetet, weil sie so lasterhafte Geschöpfe sind. Bevor Sibylle Mutter wurde, war sie eine bisexuelle Allesfresserin, doch nun scheint sie von Sex so weit entfernt wie die Erde von der Sonne. »Was macht deine Feindberührung?«, fragt Freddy tückisch, als Anna mit einem Tablett aus der Küche kommt.

Fjodor schielt auf den Käse. Eine göttliche Stimme wie seine braucht Nahrung. »Er hat sie in der Laterne geküsst – wie Lili Marleen.« Ein wunderbares Lied, und alles, was danach an Schlagern kam, war nur noch Schrott. Fjodor hat Anna und den Mann observiert, als die beiden nach Hause kamen, zu später Stunde, und sie stiegen die Treppen gemeinsam hoch, was zu verraten einem noblen Mann unmöglich wäre. Anna sieht ihn jetzt an, als ob sie ihn töten wollte. Sagt: »Ich wünschte, dein Gesang wäre so gut wie dein Deutsch. Wie lange lebst du schon in Berlin – zehn Jahre?«

Zwölf Jahre. Fjodor verzichtet auf eine Antwort, denn Anna Marx ist keine musikalische Kapazität. Taub wie Beethoven. Zickig wie die Callas, nur leider ohne Gesang. Aber sie hat ein großes Herz, und er liebt sie auf seine impotente Art, selbst wenn ihre Rauchschwaden seine Stimmbänder in den Ruin treiben. Ein Russe im Exil braucht viele Freunde, die ihn füttern und tränken. Er nimmt sich Käse vom Tablett, während Freddy den Rotwein öffnet und Anna und Sibylle miteinander flüstern.

»Du hast diesen Liebling ge …?«

»Gewas … auch immer: Nein.«

Anna lügt. Sie hat. Und einen Teufel wird sie tun, dies zu erzählen. Weil sie sich ein bisschen schämt, man könnte niedrige Beweggründe unterstellen, da sie doch mit dem Mann geschlafen hat, dem sie viel Geld schuldet. »War nur ein harmloser Abschiedskuss nach einem wundervollen Essen im ›Margaux‹.«

»Sah aber nicht dergleichen aus«, wirft Fjodor ein und stiehlt noch ein Stück Käse. Anna hat große Lust, seine weiche, weiße Hand mit der Gabel aufzuspießen. »Du bist ein russischer Spion. Und von Sex verstehst du gar nichts.«

»Ich bin nur unten impotent, meine Liebe. Mein Kopf ist sehr sexy.« Fjodors leicht hervorquellende Augen mustern Annas Oberkörper. »Und du hast immer einen Knopf zu viel offen. Du wirst dich erkälten, mich anstecken und meine Stimmbänder morden.«

»Ist er in dich verliebt?«, fragt Sibylle. Sie meint Liebling, doch Fjodor fühlt sich angesprochen. »Sie ist meine Angebetete, doch leider stinkt sie wie eine Räucherkammer. Du wirst sterben, Anna, und ich werde dir weiße Orchideen aufs Grab legen. Und Mozarts ›Requiem‹ singen. Alle werden weinen. Ich auch.«

Anna verdrängt die Vorstellung ihrer letzten Party und greift nach dem Glas. Wein auf Bier, das rat ich dir. Einer der tausend Sprüche ihrer Mutter, die an Krebs gestorben war, bevor Anna ihr sagen konnte, dass sie sie trotz allem liebte. So vieles, das sie bedauert, auch, dass sie Martin Lieblings Verführungskünsten so schnell erlegen ist. Oder war es umgekehrt? Sie haben beide ganz sicher zu viel getrunken, und sie wollten nicht, dass der Abend endet, und hatten Angst vor dem Alleinsein. Das war’s auch schon. Nein, er ist nicht verliebt, denkt Anna, er hat nur mitgenommen, was er gerade kriegen konnte. Und ich auch, womit wir einander verdienen, gewissermaßen. Martin Liebling ist jetzt wieder in Brüssel, und er hat sich nach der Nacht nicht mehr gemeldet, nur Blumen schicken lassen, nachdem er im Morgengrauen gegangen war, als Anna noch schnarchend im Bett lag. Vermutlich hat sie geschnarcht, tut sie immer, wenn sie zu viel getrunken hat. Es waren siebzehn rote Rosen, und sie hatte keine passende Vase und stellte sie in den Putzeimer.

Es war guter Sex, nicht von großer Leidenschaft getragen, sondern eher von flüchtigem Verlangen und behutsamer Zuneigung. Sie haben beide sehr gelacht, als Liebling aus dem Bett fiel, dabei die Nachttischlampe umwarf und einen Kurzschluss auslöste. Der zweite Verkehrsunfall, den sie mit ihm erlebte, war eindeutig komischer, doch danach war die Erotik zum Teufel. Sie rauchten noch eine Zigarette im Bett, versicherten einander, dass sie das allein nie tun würden, und schliefen Rücken an Rücken ein. Annas letzter Gedanke vor dem großen Schlaf war die Horrorvorstellung, neben einem fremden Mann im harten Morgenlicht aufzuwachen. Nun, das hat er mit seinem frühzeitigen Abgang abgewendet. Gut möglich, dass sie ihn nie wieder sieht. Aber eigentlich schade. Sie hatten Spaß miteinander, so viel, wie Fremde haben können, die einander sympathisch und nicht gänzlich unerotisch finden.

»Wirst du ihn wiedersehen?«, forscht Sibylle. Neugierig war sie immer schon, doch seit sie Mutter ist und dem Sex-assex-can abgeschworen hat, schwingt leichte Eifersucht in ihren Fragen. Sie will Anna ganz für sich haben, als Freundin, Klagemauer und Leihmutter, und Männer empfindet sie in diesem Zusammenhang als Bedrohung.

»Ich weiß nicht. Wenn er mich so tollkühn füttert, schon. Er ist einfach nett, und ich schulde ihm was, wie du weißt.«

»Aber keinen Sex«, sagt Sibylle.

Fjodor zwinkert Anna zu, und sie weiß, dass er als Geheimnisträger nichts taugt. Sie sollte jetzt sagen, dass Sibylle sich aus ihrem Intimleben raushalten soll, doch Anna schweigt feige und wechselt das Thema. Sie erzählt von Josef Gangwein, dem Dichter, der ein Heiratsschwindler sein könnte, und nimmt sich vor, Julias Bücherregal noch einmal zu durchforsten. »Hautfetzen« heißt sein Gedichtband, und wenn er Julia kannte, wird er ihn ihr geschenkt haben. Ein kleines, unscheinbares Buch, und wenn sie es fände, wäre dies ein fast unschlagbarer Beweis. Fast, denn natürlich gab es die »Hautfetzen« auch zu kaufen, doch dies wäre ein unwahrscheinlicher Zufall. Julia hat alles vernichtet, was auf den letzten Mann in ihrem Leben hindeuten könnte. Aber die Geschenke …?

Jetzt fällt ihr ein, was sie vergessen hat: Das Präservativ mit Monsterkopf, das sie in der Dunckerstraße für Freddy besorgt hat. Sie holt es aus ihrer Tasche und legt es vor Freddy auf die Theke. »Ein neues Teil für deine Sammlung …«

Freddy, zurzeit in einen arbeitslosen Investmentbanker verliebt, der Blumen in Kneipen verkauft, nimmt das Geschenk huldvoll in Empfang. Sex ist komisch, traurig, aufregend, unschlagbar … und ist alles, das ihn am Leben hält. Wäre er impotent wie Fjodor, er würde sich auf der Stelle umbringen. Mit dem schönen venezianischen Dolch, den ihm einer seiner Liebhaber geschenkt hat. Helmut starb an Aids, das kommt vor, und die konsequente Anwendung von Präservativen hat Freddy vor diesem Schicksal bewahrt. Seither sammelt er sie wie Reliquien, und Anna, die Gute, hat nicht vergessen, dass er heute sein Jubiläum feiert: Fünf Jahre Barkeeper im »Mondscheintarif«. Sibylle hat nicht daran gedacht, doch er verzeiht dem Muttertier, weil es von seinem kleinen Monster allmählich aufgefressen wird. Sie sieht erbärmlich aus, Frauen ihres Alters sollten auf den Schönheitsschlaf achten. Und wären nicht Anna und die Kellnerinnen und Freddys vorübergehend beschäftigungslose Kumpel, die Jonathan betreuen, dann müsste Sibylle die Kneipe glatt aufgeben. Was schade wäre, denn sie ist seine Heimat, das Hauptquartier seiner sexuellen Beutezüge, die Oase seines Wohlbefindens, denn er braucht Gesellschaft wie andere die Luft zum Atmen. Alles erträgt er, nur nicht die Stille des Alleinseins. Weshalb ihm egal ist, wenn Gäste kein Ende finden, außer natürlich, er hat schon einen Lover für die Nacht gefunden und muss nicht allein sein.

Freddy wartet auf seinen Blumenverkäufer und gibt in der Zwischenzeit eine Flasche Schampus aus, zur Feier des Tages. Er wird vergessen, sie zu bezahlen, und Sibylle wird es nicht merken. Sie vertraut ihm, denn sie hat keine Wahl, und im Großen und Ganzen kann sie sich auf seine Anständigkeit verlassen. Mehr oder weniger.

Anna bleibt bei Rotwein. Und raucht schon wieder. Rauchen lässt die Haut altern, ach, was hat Fjodor ihr schon alles erzählt, und sie glaubt dennoch, dass sie unsterblich sei. Er röchelt theatralisch und eilt zum Fenster, um es zu öffnen. Die letzten zahlenden Gäste verlangen nach der Rechnung, und Sibylle sieht ihnen dankbar nach, als sie das Lokal verlassen.

Fjodor bietet Anna an, sie heimzubegleiten, und weil sie im selben Haus wohnen, kann sie nicht gut ablehnen. Sibylle überlegt, ob sie mit dem Stillen aufhören soll, weil sie den Alkohol vermisst und die wenigen Zigaretten, die sie raucht, immense Schuldgefühle auslösen. Das Leben ist viel komplizierter geworden – oder einfacher? Alles dreht sich um das Kind, und alles, was vorher wichtig schien, ist hinter seinen Bedürfnissen zurückgetreten, verschwunden … und manchmal glaubt Sibylle, dass sie sich allmählich auflöst.

»Ich habe geschwiegen wie die Gräber«, sagt Fjodor auf dem Nachhauseweg. Die Nacht ist noch jung und laut im Scheunenviertel, und Anna weicht Betrunkenen aus, deren Köpfe kahl geschoren sind. »Halt die Klappe«, flüstert sie Fjodor zu, der zwar aussieht wie ein fetter Germane, aber nicht so spricht. Sie hakt sich bei ihm unter und fragt sich, wer wen beschützen würde. Der russische Tenor würde nicht einmal schreien, weil er seine Stimmbänder schonen will. Ihre rechte Hand umklammert die Spielzeugpistole in der Handtasche. Die Fremden sind zu dritt, das sind zwei zu viel, wenn es ernst werden sollte. Doch nach ein paar Sekunden, in denen Anna die Luft anhält und ihr Körper Adrenalin produziert, ziehen die Glatzköpfe grölend weiter.

Anna atmet aus und tastet erleichtert nach dem Hausschlüssel.

»Er hat bei dir genächtigt«, sagt Fjodor. Sie öffnet die vermoderte Holztür, die sich auch mit einem kräftigen Tritt aufstoßen ließe. Das Flurlicht ist kaputt, wie immer, und sie tasten sich Stufe für Stufe nach oben. Ich hätte ihn den Wölfen zum Fraß vorwerfen sollen, denkt Anna. »Na, und wenn schon. Mach keine Oper daraus.«

»Er ist ein gefährlicher Mann.« Fjodor ist weiter nach oben gegangen, und Anna steht vor ihrer offenen Wohnungstür. Dahinter ist die Leere, die sie fürchtet. Liebling – gefährlich? Fjodor ist ein Idiot, er hat ja nicht einmal begriffen, wie bedrohlich die Glatzköpfe waren. Dennoch ruft sie ihm durchs dunkle Treppenhaus hinterher: »Wie zum Teufel meinst du das?«

Keine Antwort, sie hört das Knarren der Stufen. Alles in diesem Haus tönt absonderlich und entspricht somit seinen Bewohnern. Die Wasserhähne rauschen nicht, sie gurgeln. Die Fenster quietschen, wenn man sie öffnet. Der neue Kühlschrank rattert, weil er auf schiefem Boden steht. Die Glühbirnen zirpen wie altersschwache Grillen. Irgendwann wird einer das Haus sanieren und teuer vermieten. Wenn Geld in die Stadt kommt, die so hoffnungslos pleite ist. Also vielleicht nie. Und alles bleibt, wie es ist, was schrecklich, aber auch schön ist.

Liebling – gefährlich? Für wen und warum?, denkt Anna, während sie ihr Gesicht in den kalten Wasserstrahl taucht. Fjodor ist ein Idiot, aber manchmal lag er mit seinen düsteren Prognosen nicht gänzlich falsch. Natürlich besitzt er kein zweites Gesicht, wer glaubt denn an sowas? Trotzdem sollte sie nicht einen Fremden in ihr Bett nehmen. Liebling zu heißen, ist noch keine Charaktergarantie. Als Anna hoch sieht, in den Spiegel, glaubt sie für einen Augenblick, Julia Mauz zu sehen. Das Gesicht eines traurigen Kamels. Ein totes Kamel. Es hat alles abgeworfen, was wehtun könnte.

»Du wirst schon sehen, ich krieg ihn noch«, sagt Anna zum Spiegel. Rotweinschwer. Und glaubt daran, bis sie einschläft.