6. Kapitel

Das Restaurant im Parterre hat außer Panoramafenstern nicht viel zu bieten. Liebling verabscheut die Edelkantine, weil das Essen schlecht ist und der Service dieser traurigen Tatsache kaum nachsteht. Das Leben ist zu kurz für alles, und sensible Kreaturen zerschellen an den Klippen ihrer Ansprüche.

Wie der irische Abgeordnete am Nebentisch, der Politik nur in konstanter Trunkenheit ertragen kann. Seine Assistentin und Geliebte wird ihn stützen, wenn er aus dem Lokal wankt. Sie sieht aus wie eine abgemagerte, frigide Kuh. Gibt es frigide Kühe? Egal, solange die »Bunten Bentheimer« nicht aussterben, eine gefährdete Schweinerasse, die in Brüssel eine Lobby braucht, um Teil des geplanten EU-Programms zur Erhaltung der Agrobiodiversität On-Farm zu werden. Der Verein der »Bunten Bentheimer« könnte einen wie Liebling nicht bezahlen, hierin liegt die wahre Gefährdung der Schweine. Mal sehen, was er tun kann, Liebling hat ein Herz für bedrohte Minderheiten, das allerdings in keinem konkreten Verhältnis zu seinen finanziellen Bedürfnissen steht. Die Exfrau ist teuer. Brüssel ist teuer. Die Geliebten sind es auch, denn sie wollen verwöhnt werden. Schließlich ist er kein Adonis, sondern ein älterer, leicht beleibter Herr mit Jahresringen. Die Models, die Übersetzerinnen und Assistentinnen, sie alle waren jünger und schöner als er, und das musste bezahlt werden. Anna Marx ist die erste Ausnahme von der Regel, nur muss man sie füttern, denn sie ist ziemlich gefräßig.

Neugierig auch, und deshalb ist sie jetzt in der Luft, auf dem Weg nach Brüssel, um Liebling in seinem natürlichen Lebensraum zu besichtigen. Das Biotop ist eine ewige Baustelle. Der sternförmige Berlaymont-Bau war jahrelang verhüllt, weil größere Mengen Asbest abgetragen wurden. Die Kommission und ihre zwanzigtausend Beamten, die Europaabgeordneten mit ihren Assistenten, die Übersetzer und Verwaltungskräfte sind in allen verfügbaren Gebäuden des europäischen Viertels untergebracht. Provisorien haben in Brüssel Ewigkeitswert.

Im rosafarbenen Haus tagt der Ministerrat, während die Abgeordnetenbüros mit Nasszellen im Parlamentsgebäude untergebracht sind. Das Haus hat viel Glas zu bieten, doch damit ist auch schon alles über Transparenz gesagt. Es braucht einen wie Liebling, sich in dem Wirrwarr der Gänge, Sprachen und Kompetenzen zurechtzufinden. Der Guru der Lobbyisten grüßt nach allen Seiten und registriert beiläufig, wer mit wem an welchem Tisch sitzt. Sein Gedächtnis ist exzellent, er hat es trainiert, so wie seine Liebenswürdigkeit gegenüber allen, die ihm nützlich sein könnten. Er nennt es Babykissing: die Streicheleinheiten, die Geschenke zu Geburtstagen, den Champagner zu Jubiläen. Er versäumt es nie, auch die wichtigen Assistenten und Sekretärinnen zu bedenken, denn sie sind ein Quell von Informationen und verfügen über eigene Kommunikationsnetzwerke im europäischen Labyrinth. Wissen ist Macht, und Macht bringt Geld. Einfache Formeln hat Liebling immer schon schnell gelernt.

Er kennt fast alle, die durchs Haus schwirren, doch mit der europäischen Erweiterung wird die Gemengelage vorübergehend unübersichtlich werden. Nach den Wahlen werden ein paar Abgeordnete verschwinden und durch neue ersetzt werden. Immerhin: Berlusconi wird nicht mehr dabei sein, manche Visagen wird er nicht vermissen. Dass die europäischen Konservativen auf dem Vormarsch sind, lässt Liebling kalt, denn Geld lässt sich auf allen Seiten verdienen. Europas Frischlinge werden an die Subventionstöpfe drängen – und wie man sie effizient öffnet und leert, das ist sein Metier. Ein kompliziertes Geflecht aus Regeln, Haushaltsvorschriften und Beziehungen wartet auf die Jungeuropäer – und Liebling wartet auf sie wie die Spinne im Netz.

Darauf trinkt er von dem Bordeaux, den der lispelnde Belgier zu warm serviert hat. Wenn nur jeder seinen Job ordentlich machen würde, wäre die Welt vielleicht ein besserer Ort. Vielleicht aber auch nicht. Es gibt ordentliche Folterknechte und Generäle. Daran denkt er, als Claudia Riviera im Speisesaal auftaucht, gefolgt von ihrer lesbischen Assistentin, mit der sie Büro und Bett teilt. Claudia, europäische Gralshüterin der Hygiene, trägt wie immer ihren Mundschutz, den sie nur zum Essen und Reden vor dem Parlament abnimmt.

Vielleicht auch beim Sex – wäre zumindest vorstellbar. Liebling meint, ihren hasserfüllten Blick trotz der Entfernung zu spüren. Nicht nur, dass er raucht und somit zu ihren erklärten Feinden gehört, nein, er berät auch noch die Tabaklobby, was in Claudias Weltbild einem Massenmord gleichkommt. Die italienische Abgeordnete hat sich zur Galionsfigur der europäischen Antiraucherkampagne stilisiert. Auf der Fanatismusskala hat sie Bin Laden oder Bush weit hinter sich gelassen, und Martin ist davon überzeugt, dass sie zumindest eines schaffen wird: das Rauchen in allen europäischen Gebäuden verbieten zu lassen. Aber nein, es wird ihr nicht genügen: Ganz Europa soll zur rauchfreien Zone werden. Die Welt … und wenn Gott Raucher wäre, würde sie darauf dringen, ihn zu exkommunizieren.

Ein Teil der Kommission ist auf Claudias Seite, aber noch überwiegen die nationalen Kompetenzen und vor allem eins: die wirtschaftlichen Interessen. Tabaksteuer, dieses schmutzige Wort, und wie sollten die Länderetats ohne sie auskommen? Die Tabaklobby kämpft in Brüssel mit dem Rücken zur Wand, doch diese Wand ist sehr stabil, denn sie besteht aus Euroscheinen.

Anna hat verkündet, dass sie auswandern wird, wenn die Diktatur der Nichtraucher greifen sollte. Am besten auf eine Fußgängerinsel, denkt Martin, und er fühlt ein leichtes Ziehen in einer Gegend, wo sein Herz zu vermuten ist. Sehnsucht. Er hat sie vor acht Tagen zum letzten Mal gesehen, und er vermisst ihr Lachen, ihren Mund. So groß und großzügig, und nichts muss er sein in ihrer Gegenwart, das ihn anstrengen würde. Kein überwältigender Liebhaber, kein dynamischer Held, kein Mann ohne schlechte Eigenschaften. Anna ist so fehlerhaft, dass in ihrer Gegenwart alles leicht und warm erscheint. Ja, sie wärmt ihn, und dafür ist er ihr dankbar bis an die Schwelle zur Liebe.

Liebe, liebe Anna, verpass nicht das Flugzeug, weil du auch mit der Zeit schlampig umgehst. Brich dir nicht das Bein auf viel zu hohen Schuhen, wenn du die Gangway hochgehst. Trink nicht zu viele Wodkas gegen Höhen- und Flugangst.

Dein Gesicht, nicht unbedingt schön, aber vollkommen in seinen Unregelmäßigkeiten, will ich als erstes sehen, wenn die Passagiere durch die Glastür ins Freie kommen …

Liebling träumt und trinkt warmen Rotwein, als sich ein anderes Gesicht vor Annas schiebt: Der österreichische Abgeordnete schwebt durch die Kantine, der selbst ernannte Brüsseler Spesenrevolutionär und Privilegienterminator. Hat er wirklich abgehoben? Nein, er tänzelt nur, und ihm fehlt seine Leibgarde, die Journalisten mit den Kameras und Mikrofonen, die den Parlamentariern vor den Wahlen die Hölle heiß machen. Sind die pauschalen Tagesspesen gerechtfertigt, die Abgeordnete in Brüssel und Straßburg kassieren? Legal, egal, Hauptsache, die Presse zieht ihre Spesenkampagne durch, und der Mann in dem beigen Jopperl wärmt sich am Fegefeuer seiner Eitelkeiten. Dass ihn seine Partei gefeuert hat, scheint ihn nicht zu stören. Er ist ein Kreuzzügler, ein Märtyrer, ein Fanatiker – und um seinesgleichen hat Liebling immer einen großen Bogen gemacht. Weil man gegen sie nur verlieren kann …

Eine Welle der Abneigung begleitet den Weg des Abgeordneten durch die Parlamentskantine, und Liebling sieht zur Seite, um ihn nicht grüßen zu müssen. Meide Menschen, die keinen Funken Humor besitzen, diese Regel hat er zumindest in seinem Privatleben konsequent verfolgt. Helena, seine Frau, lachte gerne und sah sehr hübsch dabei aus. Sie war fröhlich, als sie von Liebling Abschied nahm, fast beiläufig und ohne Bedauern, denn sie war eine herzlose Person. Viel zu schön, um sich mit Fragen der Moral zu beschäftigen.

Hasst er sie immer noch? Liebling drängt diesen Gedanken in den Müllhaufen unbeantworteter Lebensfragen. Er ist ziemlich groß, dieser Haufen, und niemand außer ihm selbst nimmt den Gestank wahr. Liebling ist ein diskreter Mann mit guten Manieren und teurem Aftershave. Anna sagt, dass sie ihn gut riechen kann. Sie sagt eine Reihe von reizenden Dingen, doch das Wort »Liebe« ist zwischen ihnen nicht gefallen. Vielleicht sind sie beide zu alt für den romantischen Sprachschatz.

Wie kommt er überhaupt dazu, sich mit einer älteren Dame einzulassen? Überall sitzen sie, die hübschen jungen Dinger, haben studiert, sind vielsprachig und prinzipiell willig, auf die eine oder andere Weise Karriere zu machen. Der Duft der Frauen, die Schwäche für Todsünde halten, erfüllt den Raum. Er ist müde, vom guten Leben betrunken, zu träge, sich selbst oder gar den Rest der Welt verändern zu wollen.

Vielleicht ist es das, was Anna und ihn verbindet: die Angst vor der fliehenden Zeit. Die jungen Damen verstehen das nicht, weil sie sich für unsterblich halten. Und er dachte immer, dass er ein Stück dieser Zuversicht stehlen kann, wenn er sich mit ihnen einlässt. Falsch gedacht, dieses Gefühl hielt nur sehr kurz und mündete stets in Überdruss und Melancholie. Das Leben darf alles sein, nur nicht langweilig: ein Motto seiner Ex. Er wünscht ihr einen aufregenden Tod.

Der Österreicher mit dem eingefrorenen Lächeln ist die einsamste Figur in Brüssel, hat er es doch geschafft, die Parlamentarier aller Fraktionen und Länder gegen sich aufzubringen. Europas Spesenburg hält zusammen, doch »die Hose«, so sein Spitzname, hat einen Stein ins Rollen gebracht. Sie werden die Spesenregelungen ändern, um die Pressekampagne zu stoppen. Wahlen wollen gewonnen werden, und viele Abgeordnete aus dem sozialistischen Lager zittern um ihr Mandat. Mein Gott, es gäbe einiges aufzudecken in Brüssel, doch die Journaille schießt sich auf Spesen ein. Kassieren selber welche, die Journalisten, aber das steht auf einem anderen Blatt und nicht in ihren Blättern. Wie weit müsste sich der Brüsseler Apparat noch aufblähen, wenn 732 Abgeordnete aus 25 Ländern penibel ihre Reisespesen abrechnen?

Unterm Strich würde es vermutlich teurer werden, denkt Liebling, und dann, dass es nicht sein Problem ist. Er kassiert keine Spesen, sondern Honorare – und sie sind fett, fetter am fettesten. Zusammen mit dem Erbe besitzt er mehr Geld, als er vernünftig ausgeben könnte. Ein kleines Problem nagt allerdings an seinem Seelenfrieden. Die verschwundene Diskette.

In einer Welt, in der alles so klein geworden ist, gehen Dinge leichter verloren. Ständig sucht er sein Handy, seinen Palm, die Brille, die Aufladegeräte … seine Integrität. Das Kleinste von allem, und auch dieser Gedanke landet auf Lieblings Müllhaufen … Everybody’s Asshole hat ihn seine Frau genannt. Am Anfang ihrer Beziehung war er noch Everybody’s Darling.

Auf der Diskette sind Daten über Brüsseler Spitzen: Kommissare, Direktoren, Beamte, Abgeordnete, Assistenten. Informationen, die Liebling im Lauf seiner Arbeit gesammelt hat, und sie sind ein Kaleidoskop der Leidenschaften: Trunksucht, Drogenabhängigkeit, Völlerei, Promiskuität, Homosexualität, sexuelle Präferenzen, manchmal auch nur Hobbys oder Vorlieben für bestimmte Zigarren, Weine, Bücher, Kunstwerke. Und natürlich der Faktor Bestechlichkeit. Sie beginnt mit einer Einladung ins »Comme Chez Soi«, führt über Geschenke und Reisen und endet im Niemandsland eines Schweizer Nummernkontos. Die Grenzen sind so fließend, dass es der Brüsseler Betrugsbehörde schwer fällt, den ersten Stein zu werfen. Und würde in dem Steinhagel nicht alles, alles zusammenbrechen?

Und wer von euch ohne Schuld ist … im Buch seines Lebens hat Liebling alles notiert, was er in Brüssel und Straßburg an allzu Menschlichem gesammelt hat. Nicht, um Leute zu erpressen oder bloßzustellen, Gott bewahre. Er ist weder ein Verbrecher noch ein Moralist, Letzteres schon gar nicht. Es war die Lust am Detail, die ihn trieb, alles aufzuschreiben. Nützliche Daten im Umgang mit der Macht, und er nannte sein Werk »Die sieben Todsünden«. Schien ihm komisch, dieser Titel, und er hatte ja nie die Absicht, das Material zu veröffentlichen.

Kleine Geheimnisse eines diskreten Spions, oder die Kunst der Kommunikation mit anderen Mitteln.

Die achte Todsünde war allerdings, die Diskette zu verlieren. Er zieht diese Annahme einem Diebstahl vor. Denn niemand wusste davon, nicht einmal seine Sekretärin oder sein Assistent. Sicher ahnten sie etwas, doch beide hatten keinen Zugang zu seinem Giftschrank. Er ist unberührt, und die einzig mögliche Erklärung ist, dass er die Diskette nicht zurücklegte, als er sie zum letzten Mal benutzte. Dass sie irgendwo in dem Chaos liegt, das er Büro nennt. Das schlampige Kind ist mitgewachsen, und in Brüssel, dieser unordentlichen Stadt mit ihren maroden Häusern und Straßen, fühlt es sich wohl. Müllsäcke auf den Straßen gefallen ihm besser als aufgereihte Container. Chaos ist jene Ordnung, die bei der Erschaffung der Welt zerstört wurde – nach Lee und Liebling. Und was, wenn die Diskette in einem Zeitungsstapel lag, in den Papierkorb geriet und von der Putzfrau entsorgt wurde? Ein kleiner Weltuntergang, auch wenn einige der Daten in seinem Gedächtnis gespeichert sind. Liebling fühlt sich einsam ohne seine Diskette. Und ein wenig furchtsam: In fremden Händen wären die »Sieben Todsünden« eine Bombe von gewaltiger Zerstörungskraft.

Nadja winkt ihm zu, und er verzieht sein Gesicht zu einem strahlenden Lächeln. Die französische Abgeordnete steuert auf einen großen Tisch zu, und in ihrem Tross befinden sich konservative Abgeordnete verschiedener Nationen. Nadja sucht eine Mehrheit für die Abstimmung über Gentechnik. Ein Herzensanliegen: Sie sitzt im Aufsichtsrat eines französischen Pharmakonzerns. Viele Abgeordnete sind gleichzeitig Lobbyisten, auch dies eine Brüsseler Spezialität mit Beigeschmack, doch daran nehmen die Journalisten bisher keinen Anstoß.

Claudias Schatten fällt auf seinen Tisch, und Liebling sieht auf. Sie hat gewartet, bis er seine Zigarette ausgedrückt hatte, bevor sie sich näherte. Ihr Mundschutz hängt am Hals, und Liebling registriert den dezenten schwarzen Oberlippenbart. Sie spricht das weiche Deutsch italienischer Kellner, doch ihre Stimme ist hart und schrill: »Wusstest du, dass Rauchen den Penis verkürzt? Eine neue Studie aus Boston. Der Urologe Salimpour hat herausgefunden, dass Nikotin die Blutgefäße durch Kalkablagerungen schädigt und den Blutstrom hemmt. Bis zu acht Millimeter! Und gegen Penisverkalkung hilft auch Viagra nicht.«

Sie spricht zu laut, und Liebling würde sie gern mit ihrem Mundschutz erwürgen. »Mach dir keine Sorgen, er ist lang genug. Möchtest du nachmessen?« Liebling greift nach der Zigarettenpackung, weil dies die sicherste Methode ist, Claudia zu vertreiben.

»Wenn du an Lungenkrebs gestorben bist, werde ich an deinem Grab tanzen« sind ihre Worte zum Abschied, und Liebling fühlt ihren Hass wie eine eisige Dusche. Dann wendet sie sich ab und steuert auf einen Tisch der Grünen zu.

Fast zweieinhalb Kilo Holz werden verbrannt, um den Tabak einer Schachtel Zigaretten zu trocknen: Man hat gemeinsame Anliegen. Die Tabakindustrie finanziert in Deutschland eine staatliche Antiraucherkampagne für Kinder und Jugendliche mit 11,8 Millionen Euro. Toleranz muss erkauft werden, wenn es kein gemeinsames moralisches Anliegen gibt. Und bei der Vorstellung, dass Claudia an seinem Grab tanzt, wird Liebling übel. Er sieht auf seine Uhr und beschließt, früher zum Flughafen zu fahren. Er wird Rosen kaufen und die Zeit des Wartens genießen. Die beste Zeit ist immer die der Sehnsucht. Alle Erwartungen werden nie erfüllt, das weiß er inzwischen. Doch die Hoffnung stirbt nicht. Anna sei Dank: Sie ist eine so optimistische Verliererin. Die wandelnde Lebensgier, gepaart mit ironischer Melancholie. Ein Mensch mit so vielen Widersprüchen, dass die Summe ein großes, rundes Ganzes ergibt.

Es muss ein besonderer Tag in Brüssel werden. Den Termin in der neuen bayerischen Landesvertretung hat er von seiner Sekretärin absagen lassen. Anna mit Bier und Leberkäse zu füttern, erschien ihm unromantisch. Und vermutlich würde sie sich auf CSU-Terrain danebenbenehmen, sie hat ein loses linkes Maul.

Die »bayerische Botschaft«, im Endstadium der Renovierung, liegt in seinem Blickfeld, direkt neben dem Parlamentsgebäude. Sieht aus wie Neuschwanstein im Zwergformat, denkt Liebling, und dass sie zu den Bayern passt, diese Trutzburg, deren Kauf und Instandsetzung dreißig Millionen Euro gekostet haben soll. Das europäische Viertel ist ein Ghetto, in dem das Geld auf der Straße liegt. Wer weiß, wie es geht, braucht es nur aufzuheben. Liebling ist nicht neidisch. Er versteht, dass der Geruch des Geldes verführerisch ist. Er hat ihn ein Leben lang inhaliert und kann sich kaum vorstellen, wie Anna zu leben: von der Hand in den Mund.

Er wird mit ihr in teure Schuhgeschäfte gehen, um sie glücklich zu machen. Weil sie sich über Luxus freuen kann wie ein Kind. Und vielleicht wird er ihr beim Abendessen von der verschwundenen Diskette erzählen. Anna ist Detektivin, doch andererseits, nein, sie könnte alles missverstehen. Lieben Schnüffler Spione? Obwohl er sich doch eher als Biograph Brüsseler Spitzen versteht. Nein, das Risiko erscheint Liebling zu hoch. Er hat selten den Fehler der Offenbarung begangen und ist niemals zur Beichte geschritten, wofür ihn seine bigotte Großmutter beinahe enterbt hätte.

Während er die Rechnung begleicht und dem müden Kellner ein viel zu hohes Trinkgeld gibt, denkt er an Bruno, seinen Assistenten, und Alicia, die Sekretärin. In all den Jahren erschienen sie ihm immer nur als willige Diener ihres Herrn ohne jeden persönlichen Ehrgeiz. Er hat sie gut bezahlt und behandelt und dafür Loyalität vorausgesetzt. Und was, wenn er sich in ihnen täuscht? Erfolg ist eine gefährliche Droge, weil sie einen in Sicherheit wiegt. Du bist nirgendwo sicher. Vor niemandem. Und wenn du das dennoch glaubst, wirst du in Brüssel auf der Straße erschlagen. Von einem Junkie, der ein paar Euro für einen Schuss braucht.