13. Kapitel

Sein Schweigen ist unüberhörbar. Nur der Wasserhahn tropft. Anna denkt an Folter und dass er schon viel zu lange auf das Foto schaut. Liebling trägt einen seiner dunkelblauen Anzüge und die grüne Krawatte mit den blauen Monden, die sie ihm geschenkt hat. Es ist schwer, schöne Krawatten zu finden, und Männer, die nicht lügen und betrügen.

Liebling murmelt: »Du solltest mal den Klempner holen.«

»Eine gute Idee«, erwidert Anna laut. »Aber würdest du mir vorher sagen, was es mit dem Foto auf sich hat?«

Er widersteht dem Impuls, es zu zerreißen, und legt es auf den Tisch. Anna sieht aus wie die Verkörperung der Inquisition. Ihren Wahrheitsdrang fand er schon immer exotisch. Glaubt sie, dass sie dafür geliebt wird? Vielleicht von ihm, ein wenig. Doch Liebe versetzt keine Berge, sie schärft nur die Wahrnehmung für Höhen und Tiefen. Als Spieler seines Lebens wird Liebling dennoch die Karte ziehen, die sie braucht. Er hätte sich nie mit einer Detektivin einlassen dürfen.

»Ich warte«, sagt Anna mit dieser rauen, verletzten Stimme.

Sie war im Morgenmantel, als er an der Tür stand. Natürlich mit roten Rosen, das gehört zu seinem Repertoire. Er hielt den Strauß vors Gesicht, als sie öffnete. Senkte ihn langsam und lächelte sie an. Er erwischt mich ungeschminkt und als kariertes Monster, war ihr erster, grimmiger Gedanke. Und dass es nun zu spät war, die Tür wieder zuzuschlagen, sie hatte zu lange gewartet. Also sagte sie »Guten Morgen« und ließ ihn herein. Nahm seine Blumen und hielt ihm ihre Wange hin. Die Berührung seiner Lippen war kalt, und er roch nach Egoïste. Der Mann in ihrem Rücken ging auf leisen Ledersohlen und sagte nichts, was falsch sein könnte. Anna brachte ihm eine Tasse Kaffee und ließ ihn im Wohnzimmer-Büro sitzen, während sie sich anzog. Nicht achtlos, doch sie verzichtete auf Schminke, es hätte ohnehin zu lange gedauert, sich in ein präsentables Wesen zu verwandeln.

»Meinetwegen hättest du dich nicht anziehen müssen«, meinte Liebling, als sie wiederkam. Er lag auf ihrer Couch und las den »Spiegel«, der Mann, der sich in ihrer Wohnung benimmt, als sei er hier zu Hause. Sie hatte es natürlich nicht fertig gebracht, ihn anzurufen, und nun war er hier. »Gelungene Überraschung«, sagte Anna, holte das Foto aus ihrer Schreibtischschublade und legte es ihm auf den Schoß. Dann lehnte sie sich mit verschränkten Armen gegen den Gummibaum, der sacht nachgab.

Julia Mauz und Martin Liebling auf den Schiff: Er nahm das Bild in die Hand, und sein Gesicht verriet nichts. Es war still in der Wohnung. Anna hörte das Tropfen des Wasserhahns und Fjodors Schritte im Hausflur. Er musste es sein, denn nur er hatte diese merkwürdige Art, die Treppen hinunterzuhüpfen. Wie ein fettes Känguru. Lieblings Pokerface blieb unverändert, während er viel zu lange stumm blieb.

Anna setzt sich hinter ihren Schreibtisch. Distanz ist vonnöten, sie braucht sie dringend. Die Krücke, die Zigarette brennt, als er endlich spricht. »Wäre es zu viel verlangt, dich zu fragen, woher dieses Foto stammt?«

»Aus dem Nachlass von Julia Mauz. Sie ist die Frau neben dir.«

Liebling lächelt, ein bisschen teuflisch, wie Anna meint. »Ich kenne die Dame nicht, und der Mann auf dem Foto ist David. Mein Bruder. Er müsste es sein.«

Anna schluckt Rauch und hustet. Das Gespräch nimmt eine interessante Wendung hin zum Absurden. »Willst du mich auf den Arm nehmen? Dieser Mann bist DU.«

Er ist aufgestanden und legt das Foto auf Annas Schreibtisch. »Ich schwöre dir, das ist David. Wir sind Zwillinge. Eineiig. Schon mal davon gehört? Und was soll das Theater um einen Schnappschuss? Hat er sie umgebracht, oder worum geht es hier, o große Detektivin?«

Anna ist enttäuscht, erleichtert, verwirrt … die Gefühle sind schwer auf einen Punkt zu bringen. Wütend macht sie sein Spott. »Gewissermaßen. Woher sollte ich von einem Zwillingsbruder wissen? Du hast ihn nie erwähnt.«

Liebling seufzt und verlässt den Raum. Das war’s, denkt Anna. Jetzt lässt er mich mit dem Phantomzwilling allein, und ich bleibe auf meinen Fragen sitzen. »Feige Flucht«, ruft sie ihm hinterher, doch er kommt nach zwei Minuten wieder, und seine Hände sind feucht. »Ich weiß nicht, wie du das erträgst. Ich bin zwar kein Fachmann, aber ich habe immerhin einen Schwamm in die Spüle gelegt, der die Tropfen auffängt. Was hat David wieder angestellt?«

Anna sieht ihn an: »Kann es sein, dass dein Bruder als Heiratsschwindler unterwegs ist?« Kann es sein, dass du keinen Bruder hast? Gedanken und Worte bewegen sich im Zickzack, und ihr Gesicht ist ein einziger großer Zweifel.

Liebling stützt sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch. Sie sind in Augenhöhe. »Ich weiß es nicht, meine Liebste. Ich habe David vor dreizehn Jahren zum letzten Mal gesehen. Das war in Paris, nachdem ich ihn aus der Untersuchungshaft geholt hatte. David hatte einen Scheck gefälscht, und ich zahlte die Kaution. Danach verschwand er spurlos, wofür ich ihm sehr dankbar war. Es gibt Menschen, die man nur ertragen kann, wenn sie unendlich weit weg sind. Er ist ein Mistkerl, ein charakterloses, rücksichtsloses Stück Scheiße. Ich hatte gehofft, dass er tot ist. Wie alt ist dieses Foto?«

»Nicht älter als zwei Jahre«, erwidert Anna. So viel Hass in seiner Stimme, denkt sie. Und dass sie mehr hören will von David und seinem Bruder. Liebling sagt, und seine Stimme klingt wieder sanft: »Ich würde dich gern küssen. War das Foto der Anlass für deinen Liebesentzug? Ich habe mich heute in die erste Maschine gesetzt, weil ich unklare Verhältnisse nicht mag. Wodurch ich in den Genuss kam, dich in deinem karierten Bademantel zu bewundern. Antik?«

Sie mag seinen Spott, aber nicht jetzt. Und dreht sich nach dem Kuss, für den er sich halb auf den Schreibtisch legen musste, sanft weg. »Das Erbstück eines Verflossenen. Er war nur zu faul, ihn abzuholen, nachdem wir Schluss gemacht hatten. Wenn du mir mehr über David erzählst, revanchiere ich mich mit Höhepunkten meiner Vergangenheit. Wie geht es dir überhaupt … was machen die Geschäfte?«

Liebling verabscheut ihren sachlichen Ton. Anna hat sich verändert in den zwei Wochen, in denen er sie nicht gesehen hat. Weil sie es so wollte. Weil es ein Foto gibt, auf dem sie ihn zu erkennen glaubte. Ein Heiratsschwindler: Sie muss vollkommen verrückt geworden sein. Und ist er aus Brüssel gekommen, um über Familiengeschichten zu reden? Er hat David begraben, versteht sie das nicht? Liebling wälzt seinen Leib vom Schreibtisch, fegt dabei ein paar Papiere zu Boden, hebt sie auf und wirft sie vor Anna hin. »Mein Leben missfällt mir, und ich will es ändern. Ich bin gekommen, um dich auf eine schöne Insel einzuladen. Wir könnten morgen fliegen: Sonne, Strand, Palmen, Meer. Mochitos, Moskitos und viel Sex. Wir bleiben, solange du willst, meinetwegen für immer.«

Das wär’s doch, denkt Anna, nachdem sie den Schock des Überfalls überwunden hat: Liebling, Marx und die Insel. Keine Sorgen mehr. Moskitosex. Hängemattenorgien. Mochitokater. Sie sieht ihm in die Augen und fragt sich, ob er das ernst meint. Er blinzelt nicht. Sein Gesicht ist wie immer in Bewegung zwischen Spott und Zuneigung. Der Bauch ist ohne das verhüllende Jackett nicht zu übersehen. Die einzigen Muskeln, die Liebling je trainierte, waren seine Lachmuskeln. O ja, sie mag diesen Mann. Aber auf einer Insel? Für immer?

»Das war ein konstruktiver Vorschlag, Anna. Du solltest jetzt irgendetwas sagen.«

»Ich würde wollen, wenn ich könnte«, murmelt sie. Schämt sich für diesen Satz, aber jetzt ist es zu spät.

»Also nein.«

Warum fürchtet sie sich plötzlich vor ihm? So steinern, sein Gesicht, und die Stimme klingt wie gefrorener Schnee. Anna streicht mit den Fingerspitzen über die geballte Faust auf ihrem Schreibtisch. »Kann ich darüber nachdenken?«

»Ja, aber nicht zu lange. Der Flieger geht morgen Abend. Trägheit ist glücksfeindlich. Ich hatte auf ein spontanes Ja gehofft. Willst du nicht wissen, welche Insel?«

Nicht wirklich, denkt Anna. Oder doch? Wenn Krieg und Liebe vergleichbar wären, würde sie das jetzt als Blitzkrieg bezeichnen. Anna Marx, auf dem Rückzug befindlich, sammelt ihre Kräfte für etwas, das ihr immer schon schwer fiel: Entscheidungen. Lebt sie in der glücksfeindlichen Stimmung der Bewahrung bestehender Verhältnisse? Warum sinkt sie jetzt nicht in seine Arme? Ein Happyend, das wäre es doch. Aber es ist eben nicht das Ende, nur der Anfang von etwas Neuem. Und das macht ihr Angst. Sie ist vollkommen unentschieden, emotional wie geographisch. Wie kann man jemals sicher sein, das Richtige zu tun? Anna horcht auf das, was Kitschromane als Stimme des Herzens bezeichnen. Sie hört nichts, nur das Echo ihrer Zweifel.

»Sie heißt Treasure Island«, sagt Liebling in ihr Schweigen. »Und sie ist wunderschön. So wie du manchmal, wenn du glaubst, der Welt kein Gesicht bieten zu müssen.«

Sie küsst ihn für diesen Satz. Auf die Wange, und denkt, dass er sich nachlässig rasiert hat. Liebling will diesen Auftakt in eine Ouvertüre verwandeln, doch Anna entwindet sich seiner Umarmung. »Ich habe Hunger. Was hältst du von einem späten Frühstück?«

Nichts, denkt Liebling, doch er greift gehorsam nach seinem Jackett. Wenn er sie erst auf der Insel hat, werden die Regeln geändert. Doch bis dahin wird er Kreide schlucken, Kaffee trinken und Brötchen essen. Er wird sie überzeugen müssen, diese ewig zweifelnde Schlampe. Es gibt Orte, die sind nicht fürs Alleinsein geschaffen, und vor Robinson Crusoe hat ihm immer gegraut. »Und wohin?«

»Fast gegenüber, in meine Stammkneipe. Mein Speisezimmer, und ja, ich hänge an den paar Wurzeln, die ich geschlagen habe. Viele sind es nicht.«

Das ist gut, doch sie weicht ihm aus. Öffnet die Wohnungstür und drängt ihn beinahe in den düsteren Hausflur, in dem es nach orientalischem Bazar riecht. Die Duftmischung erinnert ihn an seine Studentenzeit, er hat lange nicht mehr daran gedacht. Der denkwürdige Tag, an dem er den aus revolutionärer Sicht reaktionären Professor mit Ketchup bespritzte. Eine harmlose Aktion, wenn er sie mit jenen vergleicht, die nachfolgten. Anna hastet geradezu über die Treppen, als ob sie Angst hätte, mit ihm allein zu sein. Was denkt sie: dass er sie vergewaltigen würde? Sie ist irrational, das findet er überwiegend anziehend, doch manchmal ist sie einfach nur ein altes Mädchen, das sich weigert, erwachsen zu werden.

»Und du erzählst mir beim Frühstück von David«, sagt Anna, während sie sich bei ihm einhakt. Glaubt sie ihm? In der Stimmung, in der er sie an diesem Morgen antraf, ist sie schwer einzuschätzen. Sie missachtet die rote Fußgängerampel und zieht ihn beinahe ins Verderben. Der Autofahrer, der sie knapp verfehlte, hupt, und Anna schimpft ihm hinterher. Ihr Anarchismus verliert sich im Banalen, denkt Liebling, und dass er immer noch nicht weiß, was genau er so anziehend an ihr findet.

Annas zweites Heim heißt »Mondscheintarif«, sie stehen davor. Anna zögert. »Vielleicht sollten wir doch woanders hingehen.«

»Warum?«

»Weil … mich alle kennen, und dich nicht. Sie werden dich röntgen …«

»… und ich werde es aushalten.« Liebling öffnet die Tür und ist angenehm überrascht. Sie ist hübsch, Annas Kneipe, nicht elegant, doch weit entfernt von den Trinkerunheilanstalten, die er auch in Brüssel meidet. Sie sind allein, bis auf den Mann hinter der Theke. Anna stellt ihn als »Freddy« vor, und Liebling findet seinen Händedruck erstaunlich schmerzhaft für einen so weich gezeichneten Mann. Sie bestellen Kaffee und Croissants, und Freddy erzählt ungefragt, dass Sibylle beim Friseur sei und Jonathan von seinem Liebsten beaufsichtigt werde. Er scheint es seinen einzigen Gästen übel zu nehmen, dass sie sich an den Tisch setzen, der am weitesten von der Theke entfernt ist.

Liebling kennt Sibylle aus Annas Geschichten, die sie sehr sparsam dosiert. Anna ist eine gute Zuhörerin und vor allem eine Frau, mit der man behaglich schweigen kann. Wenn sie nicht gerade bohrende Fragen stellt. Mit vollem Mund.

»Wieso hasst du David?«

»Ich hasse ihn nicht, ich verabscheue ihn, das ist schlimmer.«

»Weich mir nicht aus, ich will die Gründe wissen.«

Liebling beißt in das fette Blätterteiggebäck und kaut lange, bevor er antwortet. Anna beugt sich nach vorne. Ihre Bluse ist schön, doch sie sollte den obersten Knopf schließen. Er hasst Reisen in die Vergangenheit, doch sie wird nicht aufgeben, ehe er sie ein Stück mitnimmt. »David und ich, das war die klassische Familientragödie. Wir waren ein starkes Team, als wir klein waren, obwohl … so sicher bin ich mir da auch nicht mehr. Vermutlich habe ich alles Hässliche verdrängt. Der Bruch kam mit zwölf, dreizehn: Mein Bruder war einfach … er zerstörte gerne. Dinge, Menschen … es machte ihm Spaß, und es steckten weder Plan noch Sinn dahinter. Für einen Lacher hat er jede und jeden verraten … auch mich, und du kannst dir vorstellen, dass es bei uns Zwillingen unzählige Situationen gab, in denen er mich kompromittierte, zum Schuldigen abstempelte … mich geradezu in Todessehnsüchte trieb. Unsere Großmutter war mit unserer Erziehung völlig überfordert, und David flog aus so ziemlich jeder Schule, in der sie ihn untergebracht hatte. Das hatte übrigens den Vorteil, dass wir uns später nur noch in den Ferien sahen. Zuletzt war er auf einer obskuren Privatschule, die ihn irgendwie durchs Abitur brachte.«

Anna schiebt erst einmal jeden Zweifel an seiner Geschichte zur Seite. »Was war mit euren Eltern?«

»Sie starben, als wir klein waren. Stürzten bei einem ihrer Versuche ab, durch Kunstfliegen unsterblich zu werden. Schau mich nicht so ungläubig an – man kann sich seine Familie nicht aussuchen.«

Klingt Wahrheit immer so unwahrscheinlich? Anna konzentriert sich auf den Zwillingsbruder: »War beziehungsweise ist David ein Frauentyp?«

Und wie, denkt Liebling, und aus dem Höllenteil seiner Erinnerungen tauchen all die Frauen auf, die er ihm gestohlen hat. Die Zwillingsnummer, und wie sehr sich sein Bruder darüber amüsierte. »Gewiss, und seine Affären waren stets kurzlebig. Er langweilte sich ungemein schnell. Leben auf der Rasierklinge, und nur nichts auslassen: Partys, Frauen, Drogen … natürlich hat er das Erbteil unserer Eltern ziemlich schnell durchgebracht. Berufswunsch: Rennfahrer. Aber er hat alle Risten zu Schrott gefahren, daraus wurde also auch nichts.« Liebling greift nach Annas Hand und lächelt sie an: »Immerhin war er ein besserer Fahrer als du. Hab ich dir erzählt, dass es auf unserer Insel keine Autos gibt?«

Es wird nie unsere Insel sein, denkt Anna. Warum nicht?

Weil sie nicht weggehen kann aus ihrem Leben. Weil es Sibylle gibt, den Gummibaum und Eva Mauz. Den Italiener mit den besten Spaghetti, nur zwei Ecken weiter. Wenn Trägheit ein Feind des Glücks ist, wie Liebling sagt, dann war sie wohl immer auf der falschen Spur. Kein Schiff wird mehr kommen. Kein Schwan.

Und die Marx steht am Ufer und ist nicht einmal unglücklich darüber. Das ist ebenso erstaunlich wie verstörend. Hat sie sich all die Zeit nur eingeredet, in diesen Mann verliebt zu sein? Weil er da war und sich anbot? Er spreizt den kleinen Finger ab, wenn er die Kaffeetasse zum Mund führt, das sieht albern aus. Und er hasst einen Bruder, der ihm aufs Haar gleicht. Äußerlich. Als ob es ein und dieselbe Person wäre. Jekyll and Hyde. Und an diesem Punkt schlägt Annas Phantasie Purzelbäume …

»Anna?« Liebling gräbt einen Fingernagel in ihren Unterarm. »Hörst du mir zu?«

»Keine Autos.« Sie sieht ihn an, seine Augen flehen tatsächlich, und sie liebt ihn in diesem Augenblick. Davor nicht, und vielleicht niemals mehr danach. Das Gefühl ist so stark, dass sie zittert, nur nach innen. Sie wird es ihm nicht sagen. Weil es keine Worte gibt für das Empfinden, dass in allem Richtigen das Falsche überwiegt. Anna weiß nur, dass – richtig oder falsch – zu vieles gegen ihn spricht.

Er vermag nicht zu deuten, was Anna denkt. Liebling studiert ihr Gesicht und kommt zu dem Schluss, dass sein Vorschlag sie verstört hat. Ein Überfall auf ihre Existenz: David hat es mit ihm genauso gemacht, und nichts ist vergessen oder verziehen. Anna muss nicht alles wissen, nur so viel: »David war mein teuflisches Alter Ego, so sehe ich das heute. Er hat mich in die Rolle des guten Verlierers gedrängt, und ich glaube nicht, dass ich sie jemals mochte. In allem besser zu sein als ich, das war sein Motto, und es gab Augenblicke, da hoffte ich inständig, dass er bei einem seiner riskanten Manöver abstürzt. Fallschirmspringen, das war sein Ding für eine Weile, aber er hat bei allem, was er versuchte, immer schnell die Lust verloren. Was natürlich auch für Frauen galt. Ich glaube nicht, dass David dein Hochstapler ist, aber gänzlich ausschließen will ich es nicht. Selbst wenn: David wird längst aus Berlin verschwunden sein – und das Geld hat er inzwischen verzockt, verprasst, in all den Unsinn investiert, den er als lebensnotwendig empfindet …«

Liebling verstummt, weil er sein Herz spürt. Was immer der Schmerz ihm sagen will, er interpretiert es so: Es ist Zeit, an die Zeit zu denken, die er noch hat.

Die Tage oder Wochen oder Monate, die keine Wiederholung des Gewesenen sein dürfen. Der Schmerz ist gut, weil er ihn daran erinnert, dass er nichts mehr zu verlieren hat – außer Lebenszeit – und Anna. Vielleicht hat er sie nicht verdient, aber wer zum Teufel fragt noch danach?

»Was würdest du schon zurücklassen, Anna? Eine schäbige Detektei und eine hübsche Kneipe.«

Freddy, der sich lustlos an einem schwulen Kreuzworträtsel versucht, ist einem Teil der Unterhaltung gefolgt, zumindest den letzten Sätzen. Annas Brüsseler Liebhaber, er hat ihn eingehend beobachtet. Die Körpersprache deutet auf Ungeduld hin, vielleicht sogar Verzweiflung. Was will er von ihr? Sie nach Brüssel locken? Und wer ist David? Sein Sohn, denkt Freddy, und dass der alte Bastard eine Mutter für sein Kind braucht. Sibylle auch, also muss Anna sich wohl zwischen der einen und dem anderen entscheiden. Und sie sieht aus, als ob sie zwei Kröten geschluckt hätte. Nicht einmal ihr Frühstück hat sie aufgegessen, dies deutet auf eine schwere Krise hin. Er geht zum Tisch und schenkt Kaffee nach. Sein Lächeln, das nur Anna gilt, will sagen, dass Freundschaften Liebschaften überdauern. »Wir sind eine Art Familie.« Das galt Martin Liebling, der diesen Satz einfach ignoriert. Freddy, der es hasst, wie ein Kellner behandelt zu werden, wendet sich mit einer Grimasse ab.

Anna findet Worte: »Schäbig oder nicht – ich kann nicht einfach alle Leute hier im Stich lassen – Freunde, Klienten … und wie stellst du dir das in Brüssel vor? Du hast doch Verpflichtungen, Angestellte …«

»Wenn du mich totgefahren hättest, würden sie auch irgendwie zurechtkommen. Weißt du, wie faszinierend der Gedanke ist, aus seinem Leben zu verschwinden? Etwas völlig Neues zu beginnen? Ich dachte, du hättest Phantasie. Und Mut. Deine Bedenken sind spießig, Anna. Und der Kaffee ist zu stark. Will mich der Kerl umbringen?«

Anna sieht zu Freddy, dessen Ohren ihr größer erscheinen als je zuvor. Sie würde ihn vermissen, ihn und Sibylle und die anderen. Ich würde mich vermissen, denkt Anna. Ihm dies zu erklären würde zu weit führen. Einfacher wäre es, zu sagen, dass sie ihn nicht genug liebt für die Insel. Ist sogar wahr. Aber sie bringt es nicht fertig. Sie ist feige. Sie schuldet ihm Geld und vielleicht mehr als das. »Ich glaub das einfach nicht. Irgendetwas muss passiert sein, das dich dazu bringt, alle Brücken hinter dir abzubrechen. Ich weiß überhaupt nichts von dir, Liebling. Ich kenne dich kaum. Und da kommst du her und redest von einer Insel. Ich meine …«

Angriff ist die beste Verteidigung, meint Anna, und ihre Taktik ist leicht zu durchschauen. Liebling legt ihr seinen Zeigefinger auf die Lippen. »Ich meine, dass wir sehr viel Zeit haben werden, einander kennen zu lernen. Wir haben miteinander gegessen, gelacht und geschlafen. Der Sex war nicht umwerfend, ich weiß. Aber auch dieser Aspekt ist ausbaufähig, findest du nicht?«

Nein, denkt Anna. Entweder es knallt oder es säuselt. Sex wird nicht besser, wenn man sich näher kommt. Andererseits ist sie keine Expertin in erotischen Fragen, dazu fehlt ihr einfach die Übung. Was macht ihn so sicher, dass alles gut oder besser wird? Lieblings Optimismus ist beschämend, und unter seinem forschenden Blick errötet sie tatsächlich.

»Hältst du mich für einen Gedankenleser?«

»Warum?« Das Anna-Wort, mit dem sie schon vielen Männern auf die Nerven gegangen ist.

»Weil du nichts sagst. Vielleicht habe ich dich überschätzt – und du bist nichts weiter als ein alter Angsthase, der auch noch rot werden kann. Pass auf, Anna: Ich lasse dich jetzt allein in deiner Familienklause. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen. Heute Abend lade ich dich ins ›Margaux‹ ein, und dort wirst du mir eine Antwort geben.« Liebling streicht ihr mit dem Handrücken über die Wange. »Sei nicht feige, Anna. Es passt nicht zu dir.«

Er legt zwanzig Euro auf den Tisch, während er aufsteht. In Siegerpose, wie Anna meint, sie könnte von den Krumen seiner Selbstsicherheit satt werden. Zweifel, nichts als Zweifel, und die erste Frage lautet: Warum liebt er mich überhaupt? Zweitens: Warum liebe ich ihn nicht genug? Drittens: Existiert David? Viertens: Was ziehe ich heute Abend an?

Anna sieht ihm nach, wie er zur Tür geht und sie schwungvoll öffnet. Ein breiter Rücken in blauem Tuch, und die Haare sind sehr kurz geschnitten. Inselfrisur.

Er hat ihr längst nicht alles gesagt, zumindest darin ist sie sicher. Anna fängt Freddys Blick ein, und auch darin steht eine Frage. Sibylles Mann für alle Getränke kommt an ihren Tisch. »Kann ich abräumen und kassieren? Sehe ich Trinkgeld? O mein Gott, der Mann muss ein Krösus sein.« Er lässt den Zwanziger in seine Hosentasche gleiten. Die Geschäfte laufen schlecht in letzter Zeit, die Leute sparen sogar beim Saufen. Halten sich stundenlang an einem Glas fest, und Sibylle scheint dies nicht einmal zu kümmern. Seinem Vorschlag, die Preise zu erhöhen, begegnete sie mit sozialen Argumenten. Die schönen Verlierer, Gott, wie satt er sie manchmal hat. Glauben sie wirklich, dass es genügt, als guter Mensch eine Scheißwelt zu verlassen? »Krall ihn dir, Anna, und nimm mit, was du kriegen kannst. Das meine ich ernst. Es gibt keine zweite Chance – und kein Probeleben.«

»Ach, komm mir nicht damit!« Anna schlägt mit der Faust auf den Tisch. Endlich! Das wollte sie schon die ganze Zeit tun. Mit der Faust auf den Tisch hauen und den anderen zum Schweigen bringen. Den Aschenbecher wollte sie nicht umkippen, doch er hat ihrem Zorn nicht standgehalten. Die Kippe in der Butter sieht obszön aus, und Freddys Mund steht offen.

»Seit wann ist Geld umsonst zu haben?«, brüllt Anna.

»Wo?«, fragt Fjodor.

Sie haben ihn nicht kommen gehört, er steht hinter Anna und achtet nicht auf Freddys Zeichensprache, sich still zu verhalten.

»Wo gibt es Geld? Ich bin in gewissen Verlegenheiten.«

Anna dreht sich zu Fjodor um. »Das bist du doch immer. Du schuldest mir seit Monaten zweihundert Euro.«

»Sie ist sehr gereizt.« Freddy zieht sich in Richtung Bar zurück, und Fjodor schrumpft unter Annas bösen Blick. Er wickelt sich tiefer in seinen gelben Schal, den er auch im Juni trägt. Er muss seinen Hals schützen, der eine Stimme beherbergt, die einmalig ist. Nur will sie keiner hören, weil Taubheit um sich greift. Die lautlose Vernichtung der Musik, und die Welt ist ein lärmender Misthaufen, der seine Genies unter sich begräbt. Wann hat man je von Opernsängern gehört, die ihr Geld damit verdienen, das Geschrei von Babys zu ertragen? Eines Tages wird er sein Nervenkostüm ablegen und Jonathan erwürgen. Er sollte Sibylle warnen, andererseits ist sie seine einzige verlässliche Geldquelle. Abgesehen von Anna, wenn sie in der Stimmung ist, eine leichtfertige Bank zu sein.

»Du schuldest mir einen Gefallen«, sagt Anna. »Du kennst doch einen Portier im ›Adlon‹. Ich gebe dir die Kopie des Fotos, und damit gehst du zu ihm und fragst ihn, ob der Mann dort abgestiegen ist. Ob er ihn wiedererkennt. Er heißt David Liebling, aber vielleicht hat er einen Künstlernamen benutzt.«

»Ein Sänger?« Fjodor hasst es, seine Wohnung großräumig zu verlassen. Der Portier ist ein Vetter zweiten Grades, den Onkel Wanja ans Hotel vermittelt hat, um dort potente Kundschaft für seine Mädchen auszuspähen. Berlin ist von russischen Maulwürfen unterwandert, aber das ist eine andere Geschichte. Anna ist eine Bank, die in gewisser Weise auch Zinsen fordert. Ihr Gesichtsausdruck duldet keinen Widerspruch.

»Kein Sänger. Ein Gauner mit Allüren. Deshalb denke ich, dass er im ›Adlon‹ abgestiegen ist. Bitte mach es noch heute, es ist wirklich dringend.«

»Sie will verreisen«, ruft Freddy.

»Will sie nicht.« Anna zieht an Fjodors Schalenden. »Du machst es – oder du gibst mir sofort mein Geld zurück.«

Im Niemandsland seiner finanziellen Nöte gefangen, nickt Fjodor und beschließt gleichzeitig, sich die Mühen einer Busreise zu sparen. Öffentliche Verkehrsmittel sind Viren- und Bazillenträger, und Fjodor vermeidet es tunlichst, sich den todbringenden Maschinen zu nähern. Er wird einfach behaupten, Annas Gauner sei nie gesehen worden.

»Ich rufe deinen Freund morgen an, also versuche nicht, mich zu betrügen, Fjodor.« Annas Stimme ist wieder sanft, doch was sie sagt, gefällt ihm nicht. Sie ist in einer dieser Stimmungen, in der sie keinen Widerspruch erträgt. Gereizt bis in die Fingerspitzen. »Hast du deinen Liebling verloren, Anna?« Er könnte sie trösten, ihren prächtigen Körper in die Arme nehmen und ihr Mozart ins Ohr flöten. Natürlich nicht bis zum Äußersten gehen, da spielt sein Penis nicht mit. Er hat ihn seiner großen Stimme geopfert, so will er es sehen. Etwas blieb auf der Strecke, damit sich ein anderes Organ vollkommen entfalten konnte. Fjodor legt dennoch seine weißen Hände auf Annas Bluse und spielt mit ihren Knöpfen.

Anna schüttelt seine Hände ab und springt auf. Für eine große, starke Frau ist sie erstaunlich wendig. Der Karatekurs, in den sie sich eingeschrieben hat, es ist die erste sportliche Betätigung, der Anna in ihrem Leben näher getreten ist. »Hör auf damit, Fjodor, es kitzelt nur. Ich steck dir das Foto in den Briefkasten. Du bist ein wirklich guter Freund.«

Der Freund ist gekränkt, und er rudert mit den Armen, weil sie ihn beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Anna küsst ihn und Freddy auf die Wangen, bevor sie geht. Ein Familienritual. Sie würde es vermissen. Selbst Fjodor würde ihr fehlen. Der Dreck auf den Gehwegen, die Graffiti an den Häuserwänden, der Straßenlärm, der Kiosk an der Ecke. Der erklärte Widerwille der Großstädter, anderen auszuweichen. Das goldene Berliner Herz, in Obszönitäten verpackt. Und Anna sieht Palmen, wo Straßenlaternen stehen. Wasser plätschert im Gulli. Sie besitzt nicht einmal einen Badeanzug. Nein und nochmals nein. Vielleicht später. Wenn der Sommer vorbei ist, der Fall gelöst und Liebling ein vertrauter Fremder. Und wenn er nicht darauf eingeht? Sie könnte eine Münze werfen: ein Gottesurteil oder so ähnlich. Anna gräbt in ihrer Tasche und findet einen Cent. Wirft ihn in die Luft …

Die Münze rollt in den Gulli.