21. Kapitel

Die Frau ist zu groß, um in der Menge unterzugehen. Sie trägt eine schwarze Reisetasche aus vergilbtem Leder und sieht sich manchmal um, als fühlte sie sich verfolgt. Doch die Reisenden mit ihren uniformen Rollkoffern beachten die Rothaarige nicht. Sie alle haben ein Ziel, und der Weg ist beschwerlich. Fliegen ist Busfahren auf höherem Niveau, alles schiebt und drängelt, um dann doch von Sicherheitskontrollen gestoppt zu werden. Schwarze Löcher, in denen Handtaschen verschwinden und wieder auftauchen, piepsende Türen, gläserne Mauern und Plastikstühle, blecherne Ansagen, gerötete Augen: Reisen in modernen Zeiten, und Anna verflucht die Hitze und die von Hektik verbrauchte Luft. Sie hätte den Regenmantel besser zu Hause gelassen, und ihre Schuhe sind für Wanderschaft ungeeignet. Sie wird es nie lernen, alles richtig zu machen.

Hört sie Handschellen klicken? Wanda Krolls Mahnung, in der Stadt zu bleiben, ist nicht vergessen. Überall Rauchverbot, na und? Die Heroine lutscht an einem zuckerfreien Bonbon und sieht dem Sicherheitsbeamten in die Augen. Er soll nicht denken, dass sie Angst hat, verhaftet zu werden. Allenfalls davor, abzustürzen auf dem Weg von Berlin nach Brüssel. Flugangst, Höhenangst: Die Summe ihrer Ängste ergibt eine Formel, die keiner lernen möchte. Relativ jung ist die Furcht, der Gier nachzugeben. Früher hat sie vor Flügen stets gequalmt wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Auch hier und jetzt möchte sie ein Feuer entzünden und Gift einatmen. Ihr Körper fühlt sich an wie ein leeres Gefäß. Er braucht Nahrung, Nikotin, den Alkohol des Vergessens, und nichts von alledem gibt sie ihm. Der Tag bestand aus Knäckebrot und grünem Tee, ein verabscheuungswürdiges Getränk. Anna wird immer hungrig sein: nach dem Leben, das sein könnte, wenn sie nichts auslässt. Warum nur ist Völlerei auch kein reines Vergnügen, und wo liegt die glückliche Balance zwischen beiden Lebensformen? Im Niemandsland der Hoffnungen, sie kennt die Antwort.

Anna hat Kopfschmerzen, das hatte sie früher nie. Höchstens einen Kater, und da wusste sie ja, wem sie das zu verdanken hatte. Ein Nerv oberhalb ihres rechten Auges fühlt sich an wie ein Taschenmesser. Das letzte Mal, als sie mit der Welt in Einklang war, aß sie mit Wanda Kroll Mohnkuchen.

Die in der Sonne glitzernden Flugmaschinen sind die Verheißung am Ende des Weges. Das Leben besteht aus Warten. Und wenn man nur lange genug gewartet hat, darf man sterben. Gott, ist sie übler Laune. Alicia hat so lange auf Anna eingeredet, bis diese schließlich nachgab. Das große Nein wurde zum kleinen Ja. Weil Alicia, die Anna zu Hause nochmals anrief, darauf bestand, dass sie Martin Liebling gesehen habe. Im Büro, und wer sonst außer ihr habe die Schlüssel, nachdem Bruno Laurenz tot sei?

»Seine Ehefrau«, sagte Anna, weil ihr immer das Naheliegende einfällt.

»Und sie hat sich als Martin verkleidet? Ich hab ihn genau gesehen, als ich aus dem Lift stieg. Seinen Rücken, und wie er das Büro abschloss. Ich kenne doch Martins Rücken. Als ich ihn beim Namen rief, ist er schnell weg, über die Treppe. Ich habe noch versucht, ihm nachzulaufen, aber er war zu schnell.«

»Und der Tote in meiner Wohnung?« Anna versuchte Alicia davon zu überzeugen, dass sie sich getäuscht hat. Doch Alicia beharrte auf ihrer Wahrnehmung, begann schließlich mit Anna zu streiten und legte dann auf. Rief nochmals an und beschwor Anna, nach Brüssel zu kommen. Die belgische Polizei, die könne man vergessen, und außerdem würde sie Martin nie in den Rücken fallen.

… oder ihm mit dem Baseballschläger eins überziehen, dachte Anna und schwieg. Alicias Hysterie brauchte keine zusätzliche Nahrung. Sie sagte also dreimal Nein, dann vielleicht und … jetzt sitzt sie auf einem Plastikstuhl und starrt in die Zeitung, die voll des großen Mordens ist. Im weiten Umkreis ist sie die Einzige, die nicht ein Handy ans Ohr hält. Die Zigarettenreklame – kann sie nicht aufhören, daran zu denken? Anna strahlt schlechte Laune aus und fühlt sich von der Menge belästigt. Die Leute reden zu viel in der Öffentlichkeit seit der Erfindung des mobilen Telefons. Sie befehlen, delegieren, bitten, schmeicheln, gurren, plappern. Der gläserne Kasten ist erfüllt von ihren Stimmen, und jede ist durchdrungen von ihrer Bedeutung auf diesem Planeten. Und nun fliegt sie auch noch zu der Frau, mit der sie sich fast geprügelt hätte.

Alicia, denkt Anna, will einfach nicht glauben, dass Martin tot ist, und ignoriert die Tatsache, dass es einen gibt, der ihm gleicht wie ein Ei dem anderen. Zwillinge sind ein Witz der Natur, eine Abnormität, wie Martin einmal sagte. Es dürfe einen Menschen nicht zweimal geben, und er habe in jungen Jahren fast nie in den Spiegel gesehen. Als er vierzehn war, schickte ihn die Großmutter zum Kinderpsychologen. Und David nannte ihn fortan »mein verrückter Doppelgänger«. Es war eine lange Nacht, diese letzte mit Martin, und nur in Bruchstücken kommt die Erinnerung wieder an das, was er sagte. Sie haben beide zu viel getrunken. Anna wünscht sich, sie hätte es nicht getan und besser zugehört.

David geistert durch Annas Träume. Sie sieht ihn mit Julia Mauz, an der Bar des »Adlon«, im Spielcasino, wo er nach Mitternacht am Roulettetisch steht und auf die Dreizehn setzt. Er trägt einen dunklen Anzug, so wie Martin, doch die Krawatte fehlt. Der Hemdkragen ist offen, und er ist unrasiert. Das war Martin nie.

Anna hat das Casino gefunden, in dem David einen Teil seiner Nächte verbrachte. Es war nicht Monte Carlo, doch immerhin zockte er unter dem goldenen Dach der Spielbank am Potsdamer Platz. Drei Etagen Glück oder Unglück, und achtzig Prozent von Letzterem kassiert Vater Staat. Vierzig Euro von Anna, die nur wenige Minuten brauchte, um den Einarmigen Banditen mit Geld zu füttern, das er nicht mehr ausspuckte. Er ließ nicht mit sich reden, und so verabschiedete sie sich vom gefräßigen Monster und stand eine Weile an den Roulettetischen, auf denen für sie unvorstellbare Summen in eine kleine Kugel investiert wurden.

Die Kellnerin, die Anna bediente, erkannte den Mann auf dem Foto. Seinen Namen wusste sie nicht, doch sie erinnerte sich, dass er immer nur auf die Farbe Rot und auf diese eine Zahl gesetzt habe: Dreizehn. Sie konnte sich so gut an ihn erinnern, weil er enorme Trinkgelder gab und unwiderstehlich lächelte, selbst wenn er verlor. »Ein großer Spieler vor dem Herrn«, sagte die Kleine, die sehr hübsch war und Annas Zwanziger in ihren herausfordernden Ausschnitt steckte. Sie serviert Getränke und wartet auf den Champagnermann, doch die überwiegend männlichen Besucher denken zu ihrem Leidwesen nicht an Sex, sondern nur an Zahlen oder Karten. Sie verneinte Annas Frage, ob David je in Begleitung gekommen sei. »Spieler sind die einsamsten Menschen der Welt«, sagte sie, und dass sie eigentlich Philosophiestudentin sei und nur vorübergehend im Casino jobbe.

Die Lautsprecherstimme ruft zum Betreten des Flugkörpers auf und reißt Anna aus ihren Träumen. Handys werden ausgeschaltet, Zeitungen gefaltet, Aktentaschen geschlossen, die Bordkarten gezückt. Anna folgt den flugwilligen Schafen und findet ihren Platz am Fenster. Er ist für Zwerge geschaffen, und ihre Beine sind zu lang. Die Tasche lässt sich oben nicht verstauen, weil Handgepäck in der Überzahl ist. Ein ausgebuchter Flug von Eurokraten, und neben Anna sitzt einer, der über den Sitz zu quellen scheint und sie bedrohlich einengt. Hat sie Fliegen nicht schon immer gehasst? Sie schließt die Augen und wartet darauf, dass es vorübergeht.

Sibylle hat stets davon geträumt, im Flugzeug dem Mann ihres Lebens zu begegnen. Das ist ein Witz. Die wenige Male, die Anna geflogen ist, saß sie neben plärrenden Kindern oder fetten Männern, eine Zeugin Jehovas war auch darunter, die Anna bekehren wollte, und eine Frau, die den ganzen Flug über würgend über ihrer Plastiktüte saß und nach der Landung applaudierte, als wäre sie in einem guten Stück gewesen.

Jetzt rollen sie, und Anna denkt an Mohnkuchen, weil sie weiß, dass Starten und Landen die gefährlichsten Augenblicke des Fliegens sind. Wer weiß, vielleicht sitzt im Cockpit ein Mann, der davon träumt, mit einem großen Knall zu sterben und vor allem nicht allein. Zwei Reihen vor ihr unterhalten sich zwei Araber, die wie Flugzeugentführer aussehen. Angstschweiß und Vorurteile sind ein Paar, und der Mann neben ihr liest die »Bildzeitung«, das passt auch. Den Augenblick des Abhebens spürt sie in ihrem Bauch, und dann nichts mehr. Sie schläft ein und träumt von Zwillingen. Von Gott und dem Teufel. War es Martin, der gesagt hatte, dass die Häretiker im Mittelalter Gott und Teufel als Zwillingsbrüder betrachteten? Sol Niger, der König der Unterwelt nach gnostischer Vorstellung, und sein Zwilling, der Sonnengott Apollo. Martin, der Lichtjahre von Esoterik entfernt war, sprach in dieser Nacht viel von Mythen. Von zwei Seelen, zwei Leben, und Anna, in ihrem Traum, hört ihm zu, während seine Stimme immer leiser wird. Martin erscheint durchsichtiger, löst sich sozusagen vor ihren Augen auf. Er sagt, dass sie ihm auf seinen Berg folgen muss, und sie hat doch Höhenangst, und er beginnt irre zu lachen, bevor er sich in milchigen Nebel verwandelt oder Rauch, von dem ihre Augen tränen. Sie fühlt sich schuldig und ruft seinen Namen …

Eine Hand rüttelt an ihrem Arm. »Ist Ihnen nicht gut, junge Frau?«

Anna entzieht sich dem Griff und stößt an den Vordersitz. Ihr Nachbar zur Rechten sieht sie besorgt an. Ihre Wangen sind nass, sie zieht eine Tränenspur mit dem Zeigefinger. »Es ist nichts … ich bin nur eingeschlafen und habe schlecht geträumt.«

Der Dicke schüttelt den Kopf. »Kein Wunder bei der Bestuhlung. Flugzeuge sind für Pygmäen ausgelegt. Sie haben einen Namen gerufen. Ihr Mann?«

Geht dich nichts an, denkt Anna, doch sein besorgter Blick beschämt sie. »Ein Freund … er ist tot.«

»Mein Beileid.« Er reicht ihr ein Taschentuch. »Ich habe vor kurzem meinen Dackel verloren, und ich träume immer noch von ihm. Er hieß Wotan und war ein wunderbares Tier. Wollen Sie ein Foto sehen?«

Anna betrachtet das Bild eines kleinen Hundes, der Wotan hieß. »Ist er auch ermordet worden?«