25. Kapitel

Den Weg zurück ins Büro findet sie mit einem Taxi. Anna war fünf Stunden unterwegs und hat ein schlechtes Gewissen, Alicia so lang allein gelassen zu haben. Dass sie immer noch schläft, als sie aufsperrt, empfindet sie zunächst als Segen. Doch die Frau auf dem Sofa liegt zu still, zu bewegungslos. Wie eine Tote, denkt Anna, als sie näher kommt. Leise Panikwellen formieren sich zu einer Woge der Angst, die den Impuls auslöst, dass sie weglaufen sollte. Gänsehaut kriecht auf Annas Arme, obwohl es warm ist im Zimmer. Auf dem Tisch steht eine Wasserflasche, sonst nichts. Alles ist aufgeräumt, ordentlich, doch kein Mensch kann so lange und tief schlafen, nicht nach einer Valiumtablette.

»Alicia.« Anna rüttelt sie sanft an der Schulter und beugt sich über sie. Dunkler Haaransatz beginnt das Rot zu unterwandern. Unter geschlossenen Augen ziehen sich Tränenspuren über beide Wangen. Klein und zerbrechlich liegt sie da, wie ein trauriges Kind, das Schlaf dem Wachen vorzieht.

»Alicia, verdammt!« Anna rüttelt stärker, sie schreit jetzt, doch die Schlafende reagiert nicht. Sie atmet, denkt Anna, flach und unregelmäßig, doch sie atmet. Sie ist nicht tot. Noch nicht. Oh, verdammt, sie braucht Hilfe. Die Feuerwehr, den Notarzt, Polizei … und keine Ahnung hat sie, welche Nummer sie wählen müsste. Sucht das Telefonbuch, das sich in einem der Schränke versteckt. Sie findet es nicht und weiß nichts Besseres zu tun, als aus dem Büro zu laufen und im Flur nach Hilfe zu schreien. Irgendjemand in diesem Marmormausoleum muss sie doch hören …

Anna versucht es in Deutsch und Englisch, auf Brüsseler Sprachkenntnisse vertrauend … und tatsächlich öffnet sich eine Tür, und ein junger Mann fragt, in Anbetracht der Umstände sehr ruhig und höflich, womit er helfen könne …

Der Notarztwagen braucht fünf Minuten. Anna hat auf die Uhr gesehen und die Sekunden gezählt, während der junge Mann Alicia beatmete. Ein Erste-Hilfe-Kurs: Auch das zählt zu den vielen Versäumnissen in ihrem Leben. Betet sie? Zumindest hat sie, am Fenster stehend, die Hände gefaltet und sieht zu, wie drei Männer aus dem Wagen ins Haus gehen. Ewigkeiten, die ein Lift brauchen kann; sie öffnet ihnen die Tür. Nein, sie hat keine Ahnung, was passiert ist. Eine Valium, das könne doch nicht so verheerend wirken. Sie redet noch, als ihr keiner mehr zuhört, weil sie sich um die Frau auf dem Sofa kümmern.

»Sieht aus wie eine Überdosis«, sagt der junge Mann zu Anna. »Aber es ist nichts auf dem Tisch, das uns weiterhelfen könnte.«

»Sie war sehr ordentlich«, murmelt Anna und erschrickt über ihre Worte. Die Sanitäter, Ärzte, was auch immer, legen Alicia auf eine Bahre. »Ist sie tot?«, fragt Anna, und sie beachten sie gar nicht. »Wie viel Valium?«, fragt einer, und Anna läuft ins Badezimmer und kommt mit der leeren Packung zurück. »Ich habe ihr doch nur eine einzige gegeben«, betet sie den Satz ihrer Unschuld, während sie ihr die Sicht aufs Geschehen versperren.

»Sie wird künstlich beatmet«, sagt der junge Mann. »Sind Sie mit ihr verwandt? Sie sollten mit ins Krankenhaus fahren.«

Warum bleibt er so ruhig und scheint genau zu wissen, was das Richtige ist? Anna lächelt ihn dankbar an, nimmt ihre und Alicias Handtasche und folgt den Männern mit der Bahre. Sie vergisst, abzuschließen, und ruft dem jungen Mann vom Lift aus zu, dass er einfach zuziehen solle. »Sie waren großartig«, sagt sie noch, bevor die Lifttür sie trennt.

Haben Männer mehr Talent zur Katastrophenbewältigung? Vermutlich ja, weil sie immer wieder Frauen heiraten. »Wird sie durchkommen?«, fragt Anna den Mann mit der Brille, der wie ein Arzt aussieht, wie ein müdes, überarbeitetes Wrack mit schwarzer Haut und gräulich schimmernden Bartstoppeln.

»Gut möglich«, antwortet er und lächelt gleichgültig. Er macht nur seinen Job und zweifelt manchmal daran, ob es sinnvoll ist, Selbstmörder zurückzuholen. Es sind immer nur die Angehörigen, die wehklagen. Diejenigen, die da liegen, sehen sehr friedlich aus, als ob sie froh wären, es geschafft zu haben. So weiß, die Haut der Schlafenden, und sie fühlte sich an wie Schnee. Der Tod ist kalt, so hat er es immer empfunden, während das Leben heiß und verschwitzt ist. Es ist eine Anstrengung, aus der nur der große Schlaf erlösen kann.

Die Rothaarige sieht aus, als ob sie auch gleich zusammenklappen würde. Er nimmt ihren Arm, als sie den Lift verlassen, und setzt sie auf den Beifahrersitz, während er hinten einsteigt. Er tut seine Pflicht, dafür wird er bezahlt. Blaulicht und Sirenen, das ist seine Musik. Selbstmörder-Disco und der Rap der Todesängste: Er wollte Musiker werden, doch seine Eltern waren dagegen.

Ich hätte nicht so lange wegbleiben dürfen, denkt Anna, während sie mit blinkenden Lichtern durch die Stadt rasen. Brüssel fliegt an ihr vorüber wie ein böser Traum, und die Sirene raubt ihr den Verstand. »Sie sind Verwandte?«, fragt der Kamikazefahrer und, als Anna den Kopf schüttelt: »Was machen Sie dann hier?«

»Wir sind Freundinnen«, flüstert sie, und in diesem Augenblick glaubt sie daran. Sie ist eine schlechte Freundin, und wenn Alicia stirbt, wird sie sich schuldig fühlen. Anna hat ihr das Valium gegeben, und sie hat die Packung auf dem Tisch liegen lassen, weil sie es eilig hatte, wegzukommen. Wie viele Pillen waren in der Packung? Sie weiß es nicht mehr, aber sie war fast voll. Im Badezimmerschrank lagen auch Schlaftabletten, der Giftschrank war voll von allem, was zum Tode befördern könnte. Alicia in ihrer Ordnungsliebe muss noch aufgeräumt haben, bevor sie sich zum Sterben hinlegte. Und wenn sie es gar nicht selbst tat? David Liebling, der ins Büro kam, es gab einen Streit, was auch immer, und er zwang sie, die schon schläfrig war, die Pillen zu nehmen, alles, was da war, und …

Aber nein, das ist unmöglich. Er kann nicht an zwei Orten gleichzeitig gewesen sein, im Büro und in der Wohnung. Alicia war eine Kandidatin für hysterische Akte, und dass sie keine Abschiedszeilen hinterlassen hat, beweist noch nichts. An wen hätte sie ihre letzten Worte richten sollen? An Anna Marx? Martins Foto lag auf dem Boden neben der Couch, sie muss es aus seinem Arbeitszimmer vom Schreibtisch genommen haben. Er lächelt sardonisch auf diesem Bild, als ob er sich über etwas amüsiere, an dem andere nicht teilhaben. Warum hat Alicia dieses Foto gewählt, um seinen Schrein zu schmücken? Anna schließt die Augen, weil ihr übel wird von der wilden Fahrt und Gedanken, die sich im Kreis drehen und zu keiner vernünftigen Erklärung führen.

Sie wird vom Gurt gehalten, als der Fahrer abrupt bremst. Sie stehen vor dem Krankenhaus, es ist ein riesiger, hässlicher Bau, der Anna Furcht einflößt wie alle Hospitäler dieser Welt. Sie schieben Alicia durch das Glasportal, und Anna folgt dem Tross in die Notaufnahme. Ihre Füße schmerzen, ihr Magen fühlt sich hohl an, und erschöpft setzt sie sich in einen der Plastikstühle im Wartebereich, unfähig, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Sie würde umkippen.

»Alles in Ordnung?«, fragt der Arzt, bevor er verschwindet. Annas Antwort hat er nicht abgewartet, ist ja auch egal, denkt sie, weil dies ein Ort zum Sterben ist, und wenn sie jetzt eine Zigarette hätte, sie würde sie anzünden, sofort und ohne Bedenken. Gibt es Zigarettenautomaten in belgischen Krankenhäusern? Sie müsste sich zur Cafeteria durchschlagen, vielleicht auch einmal etwas essen, nein, sie kann sich nicht bewegen, und weil der Stuhl so unbequem ist, setzt sie sich daneben, auf den Boden. Zieht die Schuhe aus und betrachtet ihre Zehen. Nicht daran denken, dass sie Alicia vielleicht zu spät gefunden hat. Die Zehen: Sie sind hässlich, mit roten Druckstellen von den schönen Folterwerkzeugen. Zu viel Hornhaut, sie achtet zu wenig auf ihren Körper, und die Beine rasiert sie sich nur, wenn ein erotisches Ereignis bevorsteht. Zum letzten Mal, als Liebling in Berlin war.

Sie stand im Badezimmer, während er im Büro telefonierte. Mit wem hat er gesprochen? Sie hat ihn nicht gefragt, warum auch? Und dann hat sie es vergessen, sie muss, sobald sie zu Hause ist, eine Liste der Telefonate anfordern. Schlampige Detektivinnen sterben des Hungers in belgischen Krankenhäusern – und recht geschieht ihnen.

Bitte, lieber Gott, wenn es dich gibt, mach, dass Alicia durchkommt. Annas Krisengebete sind von zweifelhafter Qualität, sie weiß es und glaubt nicht an Erhörung. Aber weiß man’s, vielleicht versteht er alles, sogar Frauen wie sie. Annas Handy klingelt, sie kramt in ihrer Handtasche und erwischt die grüne Taste, bevor das Piepen erstirbt. ER ist es nicht.

»Wie geht es dir?«, fragt Sibylle aus einem fernen Land, und Anna antwortet: »Geht so«, was keine weiteren Erklärungen nach sich ziehen muss. Sibylle hätte auch kein Ohr dafür, denn sie muss Anna unbedingt erzählen, dass sie den Mann ihres Lebens gefunden hat. Er heißt Archibald.

»Kein Mensch heißt so«, sagt Anna.

Sibylle überhört den bissigen Ton. »Doch, und Archie ist das Beste, was in diesem Universum frei herumläuft. Eine Offenbarung im Bett. Und er wickelt Jonathan und gibt ihm die Flasche. Einen phantastischeren Vater kannst du dir nicht vorstellen. Ach, Anna, ich bin so glücklich.«

Anna schweigt. Es ist der falsche Moment, um glücklich zu sein, und sie kann sich an Archibald nicht erwärmen. Jetzt nicht. »Das freut mich für dich. Und wo hast du dieses Wunder getroffen?«

»Na, in der Kneipe natürlich. Er kam rein – und es war Liebe auf den ersten Blick. Es stört mich absolut nicht, dass er eine Glatze hat. Es sieht so sexy aus. Findet Freddy auch, aber dieser Mann ist absolut hetero.«

Sibylle lacht, ein bisschen verblödet, wie Anna findet. Eine Schwester geht vorbei und sieht Anna strafend an. Hat sie wieder ein Verbotsschild übersehen? Doch der steife Kragen sagt nichts und geht weiter, und Sibylle schäumt am anderen Ende der Leitung über vor Glück. Es ist ekelhaft.

»Du musst ihn unbedingt kennen lernen. Wann kommst du zurück?«

»Bald«, erwidert Anna. Wenn Alicia überlebt und Anna weiß, warum sie eine Idiotin ist.

»Also, das wollte ich dir nur sagen. An unseren Italienplänen ändert das natürlich nichts. Wir ziehen einfach zu viert dahin …«

Anna hört das Plärren eines Babys und fragt sich, wo das glatzköpfige Wunder ist, das es bemuttert. Doch Sibylle sagt, dass sie auflegen müsse, offenbar ist Archie abwesend. Anna presst ihren Zeigefinger auf die rote Taste. Wir ziehen einfach zu viert nach Italien, das ist wunderbar, sie wollte schon immer viertes Rad am Wagen sein. So ist das mit Frauenplänen: Lass einen Mann des Weges kommen, und er vernichtet mit leichter Hand jeden Pakt des Lebens.

Sie sieht einen Arzt den Raum verlassen, in den Alicia verschwunden ist. Anna steht auf und läuft barfuß auf ihn zu. »Alicia Winter … wie geht es ihr?«

»Sind Sie eine Verwandte?«

Es ist unkomplizierter zu nicken, und er antwortet, dass Frau Winter stabil, aber noch nicht über den Berg sei, bevor er weitereilt und eine ratlose Rothaarige zurücklässt. Weil sie ihn nicht mehr fragen konnte, ob sie zu Alicia dürfe, geht Anna nach kurzem Zögern einfach durch die Tür, deren Aufschrift vermutlich besagt, dass Unbefugten der Zutritt verboten sei. Kann sie Französisch?

Eine Krankenschwester blockiert ihren Weg, bevor sie zu Alicia gelangen könnte. Dieselbe, die ihr Handy missbilligend betrachtet hatte. »Raus!«, schreit sie und schubst Anna beinahe durch die Schwingtür. Kümmert es sie, dass Anna stolpert und beinahe gefallen wäre? Dies ist ein Ort zum Sterben, und ergeben setzt sich die Marx wieder auf den Boden. Sie ist müde, und wenn sie sich auf die große Handtasche legt, hat sie eine Art Kissen, nicht sehr bequem, aber ausreichend für die Notlage, die Sehnsucht nach Schlaf und Vergessen. Wohin sollte sie gehen als Idiotin mit Schuldgefühlen?

In der Horizontalen erscheint die Welt anders, viel einfacher. Neonröhren oben und unten der kühle Plastikboden. Dazwischen ist nichts, und wenn sie die Augen schließt, könnte sie sich beinahe sicher fühlen. Schließlich ist sie in einem Krankenhaus, und wenn sie sie finden, unterernährt, an Nikotinentzug kollabierend, werden sie etwas für sie tun. Sie in ein Bett legen und zudecken zum Beispiel, und dann möchte Anna hundert Jahre schlafen. Nicht mehr an Martin denken oder an David, an Alicia, Helena, Julia und Eva Mauz, an blonde Autorinnen oder schwule Marlboro-Männer. Sie alle, die den Lügenwalzer tanzen, jeder nach einem anderen Rhythmus, sie hören nur ihre Musik, und Anna, die sich unter die Tanzenden mischt, wird herumgestoßen wie ein Luftballon, der an Höhe verliert, nichts mehr überblicken kann und weiß, er wird zertreten, wenn er das harte Parkett berührt. Sie alle reden ununterbrochen, während sie sich grotesk bewegen, doch Anna kann nichts hören, die Musik ist zu laut, schrill und dissonant, als ob das Orchester gegeneinander spielen würde. Sie ist ein Luftballon, sie möchte schweben, doch sie verliert an Luft, und je mehr sie sich dem Grund nähert, desto erschreckender werden die Fratzen. Martin grinst sie an, oder ist es David? Helena reißt sich Masken vom Gesicht, eine nach der anderen, doch sie sind alle gleich, und jedes ihrer Gesichter ist von einer dünnen Eisschicht bedeckt. Julia trägt ihren Strick um den Hals wie einen Schmuck, und John Schultz hängt am Hals der Autorin und saugt ihr das Blut aus … Der Kapellmeister zieht eine Trillerpfeife aus seiner Smokingtasche und steckt sie in seinen Mund. Der Lärm ist unerträglich. Sie ist ein Luftballon, der zu Boden sinkt …

Anna schlägt die Augen auf und sieht auf ein Handy, ihr Handy, und es piept in aufdringlicher Lautstärke. Die Hand, die es hält, ist braun, nur die Handflächen sind weiß.

»Telefon für Sie. Ihrer Freundin geht es so weit ganz gut. Aber Sie sollten nach Hause gehen und vorher irgendeine Taste drücken, um das Ding zum Schweigen zu bringen. Bevor die Oberschwester Sie hinauswirft …«

Sie lächelt dankbar, zu mehr ist sie nicht fähig, und hält das Ding an ihr Ohr, nachdem sie die Signaltöne unterbrochen hat. Aus dem Albtraum noch nicht gänzlich erwacht, hört sie die Stimme von Eva Mauz. Sie klingt anklagend und sagt: »Ich habe zweimal auf den Anrufbeantworter gesprochen. Gehen Sie denn nie ans Telefon?«

Anna setzt sich auf und lehnt ihren schmerzenden Rücken an die Wand. Der Arzt ist weitergeeilt, sie sieht nur noch einen wehenden Kittel. Durst ist ein überwältigendes Gefühl, ihre Zunge fühlt sich pelzig an, sie kann kaum sprechen. »Es ist im Moment etwas schwierig … ich rufe Sie gleich zurück.«

»Nein«, bellt Eva Mauz, »Sie bleiben jetzt dran, wenn ich Sie schon mal habe. Wo sind Sie überhaupt?«

»In Brüssel. In einem Krankenhaus.« Anna krächzt, sie wird verdursten, und warum schaltet sie nicht einfach aus?

»Sind Sie überfallen worden?« Eine Antwort scheint Eva Mauz nicht zu erwarten, denn sie spricht ohne Pause weiter. »Hören Sie, ich will die Sache beenden. Julia soll in Frieden ruhen … und das Geld, das sollten wir vergessen.«

Das klingt nicht gut, denkt Anna, die in die Wirklichkeit zurückkehrt. Wer immer das Handy erfunden hat, man sollte ihn erschlagen. Wie kann sie auf dem Boden eines Krankenhauses klare Gedanken fassen? »Hören Sie, ich rufe Sie zurück.«

»Nein, das werden Sie nicht tun.« Die Stimme, nach Gutsherrenart, klingt schrill in Annas Ohren. Zu viele Geräusche in den letzten Stunden, und ihr Albtraum war von besonderer Qualität. »Frau Mauz: Es geht mir nicht gut. Und ich bin in Brüssel, um Julias Mann zu finden. Ich bin ganz nahe dran, glauben Sie mir.«

»Papperlapapp. Das haben Sie bei Josef Gangwein auch gesagt. Und dann war’s plötzlich ein anderer. Ein Gespenst, nach dem Sie jagen. Sie haben mehr Phantasie als praktische Fähigkeiten, scheint mir …«

Anna hält das Handy vom Ohr entfernt. Die Stimme redet weiter. Schwestern und Pfleger, die vorbeigehen, sehen sie missbilligend an, unternehmen aber nichts. Sie sehen müde aus, denkt Anna. Wir sind alle müde, doch wir machen weiter. Augen zu und durch … und wenn es Treibsand ist und wir uns absolut nicht von der Stelle bewegen?

»Hören Sie mir überhaupt zu?!«

»Doch«, sagt Anna, »voller Konzentration. Aber Sie können mich nicht so einfach mittendrin feuern, weil Sie mal eben die Lust verloren haben. Ich habe Ihnen von Anfang an gesagt, dass die Suche länger dauern kann.«

»Darauf will ich aber nicht mehr warten. Ich werde heiraten und will diese Sache vom Tisch haben«, sagt Eva Mauz nach kurzer Stille und mit vollkommen anderer Stimme.

Anna tastet mit der Handtasche nach einer viereckigen Packung, die nicht aufzufinden ist. »Glückwunsch. Aber was hat das mit mir zu tun?«

»Josef hat mich überzeugt, dass Rachsucht nicht … poetisch ist.«

Josef? Poesie? Anna betrachtet ihren großen Zeh, der sehr beweglich ist. Er versteht nichts. »Welcher Josef … doch nicht etwa Gangwein, der Dichter?«

Stille. »Doch, ebender. Wir werden heiraten und einen kleinen Verlag aufmachen, um die Dichtkunst etwas … unter die Leute zu bringen. Ich habe Josef aufgesucht, verstehen Sie, weil ich mich überzeugen wollte, dass er nichts mit Julia zu tun hatte. Sie sind sich ja nie in irgendetwas ganz sicher. Deshalb wollte ich mir selbst ein Bild machen, und, na ja, wie es eben geschehen kann mit großen Gefühlen … ich bin sehr glücklich. Und ich will, dass Julia in Frieden ruht.«

Das tut sie doch sowieso, denkt Anna. Ein Selbstmordversuch und zwei Liebesgeschichten innerhalb weniger Stunden überfordern ihre Sinne. Die Idiotin sitzt am Boden und wackelt mit den Zehen. Es ist so beruhigend.

»Ja. Das ist schön. Aber wir müssen über Geld reden, Frau Mauz. Ich beschäftige mich seit Wochen mit nichts anderem.«

»Weil Sie nichts anderes zu tun haben. Ich habe übrigens Josef gegenüber mit offenen Karten gespielt. Er weiß, dass Sie Detektivin sind und in meinem Auftrag unterwegs waren. Er fand das sogar amüsant, und dass Sie eine reiche Erbin sind, hat er Ihnen ohnehin nie abgenommen.«

Dafür hat er jetzt eine. Anna unterdrückt diesen Satz. Sie sieht an der Anzeige, dass ihr Handy bald sterben wird. »Frau Mauz, ich bin spätestens übermorgen in Berlin, und dann müssen wir uns unterhalten. Von Auge zu Auge, denn ich hasse es zu telefonieren.«

»So viel Hass«, erwidert Eva Mauz. »Dabei kann uns nur die Liebe retten.«

Und mit dem letzten Satz erlischt das Licht. Das kleine Telefon ist leer gesprochen.