20. Kapitel

Ist ein Hausverbot im »Adlon« der revolutionäre Ritterschlag für die Stadtguerilla? Anna Marx wurde aus dem Hotel verbannt, nachdem sich ein Zimmermädchen über ihre zudringlichen Fragen beschwert hatte. Das Mädchen äußerte die Vermutung, eine Juwelendiebin ertappt zu haben. Der Sicherheitsdienst des Hauses hatte ohnehin schon ein Auge auf die Rothaarige geworfen, die sich in den Fluren des Hotels herumtrieb. Also wurde sie ins Büro des Managements gebeten und einem Verhör unterzogen. Den Anfangsverdacht, eine Diebin zu sein, konnte sie widerlegen. Allerdings stieß sie auch als Privatdetektivin nicht auf die Akzeptanz des Hauses. Sie hatte hierarchische Strukturen missachtet, und sie wurde auch noch ausfallend, nachdem sie über diese Tatsache belehrt wurde. Anna hatte es schon als Kind gehasst, ertappt zu werden. Diejenigen, die im Recht sind, erscheinen dem Sünder als unerträglich. Die Sünderin war sich keiner Schuld bewusst außer der, wissbegierig zu sein. Wer ist David Liebling? Was tat er, woher kam er, wohin ging er?

Zwei Herren eskortierten Anna durch den Hinterausgang ins Freie. Auf dem Weg diskutierten sie darüber, dass ebendieser Hinterausgang bei Staatsbesuchen nicht überwacht, also ein idealer Zugang für Terroristen aller Art sei. Und wenn ich nun einer wäre?, wollte Anna fragen, unterließ es aber, die Sache auf die Spitze zu treiben. Die beiden sahen nicht so aus, als ob sie einen Sinn für Sarkasmus hätten. Immerhin brachte Anna es fertig, sie in ihrem Dialog um Sicherheitsfragen mit der Frage zu unterbrechen, ob sie Richard Gore gekannt hätten. Unerschrocken im Dienste der Wahrheit, so ist Anna, selbst wenn sie auf verlorenem Posten kämpft. Aber natürlich ignorierten die Rausschmeißer ihren Versuch der leichten Konversation. Sie stellten sie vor die Tür und standen dann mit verschränkten Armen davor. Wie im Film, nur trugen sie keine schwarzen Anzüge oder Sonnenbrillen. Dennoch fand Anna die Szene komisch und begann zu lachen, während sie die Straße entlangging. Niemand beachtete sie, denn Berlin ist voller Irrer, besonders im Regierungsviertel. Eine große Rothaarige, barfuß, mit Schuhen in der Hand und glucksende Geräusche ausstoßend, ist nichts, was den gemeinen Berliner stören würde. Schnorrer sind lästig, jugendliche Randalierer oder Ausländer in bedrohlicher Zusammenrottung – aber nicht die ganz normalen Verrückten dieser Stadt. Sie werden ignoriert – oder toleriert, was besser klingt fürs Berliner Herz. Schlägt es rechts oder links, so doch immer daneben. Seit Willy Brandt weg ist, gibt es keine Liebe mehr zwischen Volk und Politikern. Unter Berlinern sowieso nicht. Irre sind alle, aber natürlich immer die anderen.

Annas Bandscheiben schmerzten, deshalb hatte sie die Prada-Stelzen ausgezogen. Sie wich zwei jungen Männern aus, die arabische Terroristen sein könnten, vielleicht auf dem Weg ins »Adlon«, weil sie den Trick mit dem Hintereingang auch schon kannten. Sie dachte an den Orthopäden, der ihr beim letzten Besuch geraten hatte, vernünftiges Schuhwerk zu tragen, Übungen zu machen und sich mental auf die üblichen Altersbeschwerden einzustellen.

Mentales Training auf dem Weg vom »Adlon« zum Taxistand: Sie hat etwas versäumt zwischen Jugend und Alter: das Mittelalter. Anna fühlte sich zu lange jung, und jetzt ist sie alt. Was zum Teufel ist mit all der Zeit geschehen? Hat sie sie verschlafen, verraucht, versoffen? Und wenn sie die guten Jahre hinter sich hat, was soll jetzt noch groß kommen? Bandscheibenvorfälle? Demenz? Die Suche nach einem Altersheim, das nicht als Warteraum der Hölle erscheint?

»Kinder«, sagt Wanda Kroll, »sind der Jungbrunnen schlechthin. Man ist so mit ihnen beschäftigt, dass für Lebenskrisen kaum Zeit bleibt.« Sie ist mit den zwei Mädchen bei ihrer Mutter untergekrochen. Gott segne die Familie, auf die man zurückgreifen kann. Natürlich ist es keine Dauerlösung, und die alte Dame ist der neuen Situation nicht gewachsen. Das Verlangen, manchmal laut schreien zu müssen, kennt Wanda Kroll nur zu gut. Sie fühlt sich von der Dreieinigkeit modernen Frauenlebens schon lange überfordert: Mann, Kinder und Beruf. Dass sie nun eine Last über Bord geworfen hat, macht sie unglücklich. Nichts ist leichter geworden. Sie wirft sich Versagen vor und vermisst das treulose Miststück, das in der gemeinsamen Wohnung hockt, die jetzt als sturmfreie Bude dient. Sie hätte nicht ausziehen dürfen, das war ein Fehler, den sie sich nicht verzeihen kann. Dies alles erzählt Wanda Kroll der Freundin des Mordopfers, die ihr zufällig über den Weg lief, und jetzt sitzen sie im »Opernpalais«, trinken Kaffee und plaudern über schlechte Zeiten.

Anna schielt nach dem Kuchenbuffet. Neben Zigaretten und Alkohol allem irdischen Vergnügen zu entsagen erscheint ihr als maßlos. Asketen sind maßlos, Mohnkuchen hingegen sind ein Stück vom Glück. Weshalb sie einen bestellt, und die Kommissarin schließt sich an. Sie ist sehr schlank, das mag Anna prinzipiell nicht an Frauen. Neidgeborene Abneigung, und sie bemüht sich, darüber hinwegzulächeln. Wanda Kroll ist nett und scheint Probleme zu haben, Berufs- und Privatleben zu trennen. Dass Kinder »Jungbrunnen« sind, bezweifelt Anna allerdings, denn tiefe Ringe unter den Augen zeugen von vielen schlaflosen Nächten.

Es interessiert sie nicht, doch die Frage muss gestellt werden: »Wie alt sind Ihre Kinder?«

»Zwei und vier, wir wollten es schnell hinter uns bringen, um … ach, ist ja egal, was wir wollten. Es kommt immer anders, als man denkt. Wollten Sie nie Kinder?«

Der süße Mohn schmilzt auf Annas Zunge. Sie denkt nach, findet aber keine richtige Antwort und schüttelt stumm den Kopf. Mohnkuchen ist ein gutes Rezept gegen Rückenschmerzen, sie fühlt sich fast frei davon und wird alle orthopädischen Ratschläge auf ein nächstes Mal verschieben. Sich auf das Wesentliche konzentrieren: Glück und Erfolg.

»Was macht der Fall Liebling? Sind Sie ein Stück weitergekommen?«

Ich habe jetzt andere Sorgen, denkt Wanda: Ich muss schnellstens eine Wohnung finden, einen neuen Kindergarten und einen Scheidungsanwalt, der das Miststück das Grauen lehrt. Sie sollte nicht mit einer Zeugin über den Fall reden, doch in Zeiten, in denen alles aus dem Gleichgewicht scheint, kommt es darauf auch nicht mehr an. »Wir haben keine heiße Spur, wenn Sie das meinen. In den beiden Wohnungen des Opfers wurde nichts Relevantes gefunden. Sein Papierkram ist in heilloser Unordnung. Er war ein Chaot, wussten Sie das?«

»Ja, und mir hat das gefallen. Der Bierdeckel zum Beispiel, und dass er seine Steuerunterlagen in der Badewanne aufbewahrte. Er duschte ohnehin lieber.«

»Fehlt er Ihnen sehr?«, fragt die Kommissarin und denkt an ihren Mann, das Schwein. Sie hat ihm Briefe geschrieben, die sie nie abschickte. Führt Selbstgespräche mit ihm, die zu keinen Erkenntnissen führen, und es fällt ihr schwer, sich auf Fälle zu konzentrieren. Wenn sie sich nicht zusammenreißt, werden sie sie ins Archiv versetzen oder in die Asservatenkammer.

»Ich habe ihn nicht genug geliebt«, sagt Anna. Klingt das wie eine Entschuldigung? Hartherzig, so hat Martin sie auch genannt in der letzten Nacht. Aber Anna will nicht glauben, dass er Recht hatte. In der Liebe gibt es das überhaupt nicht: Recht und Unrecht. Schuldig der Feigheit, sich nicht auf den erstbesten Mann zu stürzen, der behauptete, dass es Liebe sei, mehr will Anna nicht bekennen. »Haben Sie seinen Zwillingsbruder schon ausfindig gemacht?« Sie fragt das leichthin, doch sie giert nach einer Antwort.

»Den Haupterben? Nein, der Typ kann überall auf der Welt sein. Es fanden sich übrigens keine Kindheits- oder Jugendfotos, die die beiden zeigen. Das ist seltsam, nicht wahr? Es ist, als ob David Liebling nie existiert hätte. Die Sekretärin hat uns den Tipp mit dem Bruder gegeben. Aber sie hat ihn angeblich nie zu Gesicht bekommen.«

»Es gab keine Liebe zwischen den Brüdern«, sagt Anna und erzählt der Kommissarin, was sie über das Verhältnis der beiden weiß. Bis auf das kleine Detail, dass sie David im Fall der Julia Mauz sucht. Warum sie das verschweigt, weiß Anna nicht so genau. Es ist, als müsste sie noch einen Trumpf in der Hand behalten. »Sie suchen ihn aber doch?«

»Ja, sicher, aber viel verspreche ich mir nicht davon. Die Sekretärin war übrigens die Geliebte von Martin Liebling. Wussten Sie das?«

»Exgeliebte. Die Geschichte zwischen den beiden war für ihn seit langem vorbei.«

»Sie stellt das aber ein bisschen anders dar«, sagt Wanda Kroll und verflucht in Gedanken alle Geliebten dieser Welt. »Jedenfalls hätte Alicia Winter ein perfektes Motiv. Und Zeugen dafür, dass sie zur fraglichen Zeit im Brüsseler Büro war, hat sie nicht. Nach Berlin geflogen kann sie allenfalls unter falschem Namen sein, das haben wir gecheckt. Warum erzähle ich Ihnen das alles?«

Anna führt mit dem Zeigefinger einen Mohnkrümel zum Mund. Der letzte, den sie auf dem Teller finden konnte. Nichtrauchen macht hungrig, und wäre sie so schlank wie Wanda Kroll, sie würde Stunden in Konditoreien verbringen. »Ich weiß nicht … weil ich schweige wie ein Grab? Und ebenso wie Sie möchte, dass der Fall aufgeklärt wird? Alicia war übrigens bei mir. Wir haben uns kurz geprügelt, dann hat sie mir erzählt, dass sie Bruno Laurenz für den Täter hält. Weil sie glaubt, dass er Martin eine Diskette gestohlen hat. Auf der Liebling offenbar Informationen über EU-Leute gespeichert hat. Er handelte mit Beziehungen und Geheimnissen, und ich meine, er hat unverschämt gut damit verdient. Aber so ganz koscher waren seine Geschäfte wohl nicht. Vielleicht hat sich einer der Betroffenen zur Wehr gesetzt? Geheimnisse können mörderisch sein.«

Wanda Kroll hat zugehört, doch gleichzeitig ihr Handy überprüft und eine SMS ihrer Mutter gelesen. Die Mutter droht mit ihrer Kündigung als Großmutter. Das ist die wahre Katastrophe. Anna Marx hat ja keine Ahnung. »Bruno Laurenz ist aus dem Rennen, sozusagen. Er ist gestern in Brüssel von einem Auto überfahren worden. Unfall mit Fahrerflucht. Was ihn als Täter keineswegs ausschließt, denn das Alibi einer Ehefrau muss ja nicht glaubhaft sein. Ich habe die belgischen Kollegen gebeten, nach der Diskette zu suchen und die Frau nochmals zu befragen. Ich würde diesen Fall so verdammt gerne abschließen. Danach nehme ich Urlaub und suche eine Wohnung. Kennen Sie einen guten Scheidungsanwalt?«

»Nein«, sagt Anna, obwohl das nicht stimmt. Eine Reihe ihrer Kundinnen sind, nachdem Annas Spionagedienste abgeschlossen waren, zu Scheidungsanwälten gegangen. Die betrogenen Frauen zogen stets Männer vor, weil sie ihnen offenbar mehr juristische Gemeinheiten zutrauten. Frauen sind seltsame Wesen von überirdischer Widersprüchlichkeit – und Anna schließt sich selbst keineswegs aus. »Sind Sie sicher, dass es ein Unfall war? Ich meine, zwei Todesfälle hintereinander … das riecht ein bisschen, oder?«

Sie hat eine mörderische Phantasie, denkt Wanda Kroll. Natürlich ist nichts auszuschließen, doch zurzeit neigt die Kommissarin dazu, an Zufälle zu glauben. Wenn sie nicht zufällig den Reinigungsbeleg in der Aktentasche ihres Mannes gesucht und er nicht zufällig eine Hotelrechnung aufbewahrt hätte, die zwei Personen auswies, das Ehepaar Kroll, und in jener Nacht hatte sie Dienst, war also nicht in diesem Zimmer, wenn also dies alles nicht geschehen wäre, würde sie jetzt nicht auf den Scherben ihrer Ehe herumtrampeln. Zufälle sind die Mörder aller Lebenspläne. Sie fühlt sich tot und muss weiterfunktionieren. Über einen Fall reden, der wahrscheinlich nichts anderes ist als eine unglückliche Verkettung von Zufällen. »Sind Sie sicher, dass es diesen ominösen Zwillingsbruder überhaupt gibt? Kein einziges Foto, Martin Liebling ist auf allen Bildern immer nur allein drauf. Vielleicht hat er diesen Bruder erfunden? Fragen Sie mich bloß nicht, warum.«

Warum sollte er? Natürlich hat Anna daran gedacht, nur nie eine plausible Erklärung gefunden. Sie würde der Kroll jetzt gerne erzählen, was sie von David Liebling weiß. Irgendetwas hält sie zurück. Schlechte Erfahrungen mit Bullen oder der idiotische Ehrgeiz, diesen Fall ganz allein zu lösen? Es wäre vermessen, denkt Anna sofort. Sie ist eine lausige Detektivin, und die Brüsseler Dimensionen des Falls übersteigen ihre Möglichkeiten bei weitem. »Die Sekretärin hat doch mit dem Bruder telefoniert. Vielleicht hat sie ihn sogar gesehen.«

»Nein, hat sie nicht. Martin Liebling hat ihr nur von ihm erzählt. Er hat ihm manchmal Geld geschickt. Ziemlich viel Geld, wie die Winter sagt. Aber was beweist das schon? Und wenn er ihn so gehasst hat, wie Sie sagen, weshalb hätte er seinen Bruder finanziell unterstützen sollen?«

»Er hat zu viel und zu leicht Geld verdient«, sagt Anna. »Geerbt hat er auch, und Martin war sehr sorglos mit seinen Finanzen. Er hat mir absurd teure Schuhe gekauft und mich mit feinem Essen gefüttert. Ich werde nie wieder so einen Mann finden wie ihn.« Sie beobachtet zwei alte Damen, die am Nebentisch sitzen und in Kuchen schwelgen. Die rosa Filzhüte zeugen von einem Stilwillen, den man bewundern könnte. So werde ich enden, denkt Anna, vielleicht hutlos, aber mit Tortenstücken auf dem Teller: eine komische Alte, die ihre Restzeit in Kaffeehäusern totschlägt.

»Warum zerbrechen Sie in einem fort Zahnstocher?«

»Weil ich mit meinen Händen nichts anzufangen weiß. Weil ich aufgehört habe zu rauchen, nachdem Martin gestorben ist.«

»Ein Gelöbnis?« Wanda Kroll lächelt schief. »Es bringt nichts, Männern Opfer zu bringen. Sie danken es einem nicht. Sehen Sie sich Alicia Winter an: Es würde mich nicht wundern, wenn sie zum Baseballschläger gegriffen hätte. Aus Wut. Liebling hat sie ausgenutzt, betrogen und verlassen. Und als sie ihn zur Rede stellen wollte, hat er mit Hohn und Spott reagiert. Er drehte sich von ihr weg, weil er ihre Vorwürfe nicht mehr hören wollte. Da ist sie in den Flur, hat den Baseballschläger ergriffen und hat … zugeschlagen. Man entwickelt im Zorn erstaunliche Kräfte, nicht wahr?«

Anna hat die Augen geschlossen und stellt sich die Szene vor. Alicia steht hinter Martin und reißt den Schläger hoch … es muss jemand sein, dem er vertraut hat. Man kehrt Fremden nicht so ohne weiteres den Rücken zu. »Keine Fingerabdrücke?«

»Keine. Der Schlag wurde von jemandem geführt, der in etwa die gleiche Größe hatte wie Liebling. Sie wären schon fast ein bisschen zu groß für den Schlagwinkel, obwohl … es ginge noch.«

»Ich habe ein Alibi.«

»Von Ihrer besten Freundin, Frau Marx, das kommt in der Skala der Glaubwürdigkeit gleich hinter den Ehefrauen.«

Anna versucht das zu verstehen, aber der Satz kränkt sie doch. Ich könnte jetzt die Putzfrau als Zeugin ins Spiel bringen, denkt Anna, doch die ist illegal beschäftigt, und ohne Not werde ich sie nicht ans Messer liefern. »Verdächtigen Sie mich etwa immer noch?«

Die Kommissarin sieht in grüne Augen. Ich war immer zu leichtgläubig, denkt sie, und für meinen Beruf bin ich ziemlich ungeeignet. Wenn mir jemand sympathisch ist, neige ich zur Unschuldsvermutung. Die männlichen Kollegen kommen ohne Emotionen aus, sie orientieren sich nur an Fakten. »Lassen Sie es mich so sagen: Es würde mich überraschen, wenn wir im Zuge unserer Ermittlungen Anna Marx überführen würden. Obwohl Sie und das Opfer an diesem letzten Abend im Restaurant wohl ziemlich heftig gestritten haben. Das sagt der Kellner aus, der sie bediente. Übrigens: Ist das Essen im ›Margaux‹ wirklich so gut, wie alle behaupten?«

»Ja, aber sündhaft teuer. Und dass wir diesen letzten Abend beziehungsweise die letzte Nacht überwiegend stritten, habe ich Ihnen ja nicht verschwiegen. Martin war enttäuscht, böse, alles Mögliche, weil ich mich weigerte, ihm auf seine Insel zu folgen. Da fällt mir übrigens ein Name ein, den er erwähnte:

Schulz oder Schmitz oder … John mit Vornamen, da bin ich sicher. Ein Amerikaner in Brüssel, und Martin sagte: Ich laufe nicht vor John Schulz davon. Oder war es doch Schmitz? Ich habe nicht so genau zugehört, weil ich mit meinem Lamm beschäftigt war. Es hatte eine Panade aus Rosmarin, Thymian und Brösel, ein Spur Knoblauch war auch drin …«

Wanda Kroll, die sich seit dem Auszug aus der ehelichen Wohnung von Kuchen und Schrippen ernährt, verspürt plötzlich Appetit. Ich kehre wieder ins Leben zurück, denkt sie, und dass Anna Marx ein wunderbares Weib sein muss, wenn sie von Mord auf Lamm kommt, ohne mit der Wimper zu zucken. »John Schultz heißt er, die Sekretärin hat ihn auch erwähnt. Es ging zwischen den beiden um einen Beratervertrag – und um sehr viel Geld. Schultz ist Repräsentant eines amerikanischen Tabakkonzerns in Brüssel, und das Opfer wollte aus irgendwelchen Gründen aus dem Geschäft aussteigen. Leider hat das Opfer die Winter nie in Details eingeweiht.«

Anna wünscht sich, die Kommissarin würde nicht ständig vom »Opfer« sprechen. Er hatte einen Namen. Er hielt sich, als er sich noch unsterblich wähnte, für einen Liebling der Götter. »Martin war kein furchtsamer Typ. Ich glaube auch nicht, dass er von großen moralischen Skrupeln geplagt wurde. Ich kannte ihn wirklich nicht besonders gut, das sind alles nur Einschätzungen: Aber ich denke, dass Martin für sich eine Grenze gezogen hat zwischen dem, was er für Geld zu tun bereit war – oder eben nicht. Halten Sie es für möglich, dass er vor diesem Schultz davonlaufen wollte?«

»Möglich, wir werden der Sache nachgehen. Aber es gibt noch eine Hypothese für die Insel. Die Obduktion hat ergeben, dass das Opfer an einer Verengung der Herzkranzgefäße litt. Einen leichten Infarkt hatte er schon hinter sich. Und er wusste es, denn er hat einen Spezialisten aufgesucht vor zwei Wochen. Hat er Ihnen nichts davon erzählt?«

Anna verneint, sie hatte keine Ahnung. »Männer sprechen nicht gern über ihre Krankheiten. Das wäre natürlich auch ein Grund, weshalb er so plötzlich in ein neues Leben einsteigen wollte.« Und ich, denkt Anna, wäre irgendwann mit einer Leiche auf einer Insel gestrandet. Sehr komisch, dieser Konjunktiv, in Anbetracht all dessen, was geschehen ist. Vielleicht hatte Liebling Recht: Sie ist herzlos. Versucht, ihr Herz zu schützen vor allem, was es stürmisch bewegen könnte. Und verkommt in Selbstmitleid, manchmal, was auszuhalten ist, solange Selbstgerechtigkeit aus dem Spiel bleibt.

»Irgendwann trifft jeder seinen Affen«, sagt Wanda Kroll unvermittelt und beginnt zu lachen. Anna wüsste gern, was sie meint, doch bevor sie fragen kann, klingelt ihr Handy. Sie greift danach und hört Alicias Stimme, die stark nach Panik klingt. »Sie müssen nach Brüssel kommen. Sofort.« Denn hört Anna ein Schluchzen, gefolgt von einem Piepsen. Der Akku ist leer, das Handy außer Betrieb, und Anna flucht leise. Sie antwortet Wandas fragendem Blick: »Ich muss nach Hause, um zu telefonieren. Dieses Ding ist tot. Ich vergesse immer, es aufzuladen.«

Die Kommissarin legt einen Schein auf den Tisch und steht auf. »Ich muss auch weg, wir haben schon viel zu lange geplaudert. Sie verlassen die Stadt doch nicht in nächster Zeit?«

Nach der Frage, die keine war, dreht sie sich um und geht. Anna sieht ihr nach und bewundert ihren graziösen Gang in scheußlichen Schuhen. Sie winkt der Kellnerin, die sich einen Sport daraus macht, zahlungswillige Gäste zu ignorieren. Erst als Anna den Tisch verlässt, eilt sie ihr nach und tauscht Rechnung gegen Euros. Anna eilt zur Tür, so schnell die Schuhe tragen. Sie braucht ein Taxi. Sie muss telefonieren. Sie soll die Stadt nicht verlassen. Und wenn sie es doch tut? Wird Wanda Kroll sie am Flughafen verhaften lassen?