15. Kapitel

Trauer ist unteilbar und braucht doch Gesellschaft. Anna vergiftet sich qualmend und schwört Sibylle, dass sie nie wieder eine Zigarette rauchen wird. Ab morgen. Nie mehr schlemmen oder teure Schuhe kaufen. Wie ein Schwamm ist sie mit Wodka voll gesogen und fühlt sich mit jedem Glas nüchterner. Sie ist eine harte Prüfung für die Familie, die ihren seltsamen Trost reichlich spendet und Annas Wiederholungen klaglos in Kauf nimmt. »Er war ohnehin nicht der Richtige«, sagt Freddy, unterstützt von Fjodor, der von einem Berufskiller faselt, er habe einen auf der Straße gesehen, und einen Killer erkenne er von weitem, schon an der Matrix-Sonnenbrille. Sibylle gießt Wodka und Wasser nach und füttert Anna mit frittierten Sardinen. Die Gäste im »Mondscheintarif« sind die unbeteiligte Trauergemeinde, die an diesem Abend ebenfalls leidet, weil der Service miserabel ist.

Ein Toter steht im Raum, und die Zeit steht still, begleitet von indischer Musik, die wie das melodische Jaulen von Katzen klingt. Der Aushilfskellner, der eigentlich Anglistik studiert und am liebsten Päderast wäre, wogegen vor allem seine Feigheit spricht, zitierte Auden: Die Sterne braucht es jetzt nicht: löscht das Licht ihnen allen; den Mond packt ein und die Sonne lasst fallen; gießt den Ozean aus und den Wald reißt ein: Von jetzt an kann nichts mehr von Gutem sein.

»Er war nicht gut«, sagt Fjodor, und Sibylle genießt ihren bösen, kleinen Gedanken, dass sie Anna nun wieder für sich allein hat. Sie trägt Jonathan in die Küche, ein Ort, an dem ihr Kind jegliches Weinen einstellt. Immer, seit sie die magische Formel gefunden hat. Ob es an dem depressiven koreanischen Koch liegt, den Jonathan offenbar instinktiv schont, an der Wärme oder an den Gerüchen, sie weiß es nicht. Nur, dass er in seinem Schaukelkorb sitzt, vor sich hin lächelt und einschläft. Vodoo, Zen-Buddhismus, was auch immer, es ist ihr egal. Nur die Stille zählt, und wenn die Küche sein Paradies ist, soll er es haben, zumal Freddys Freund als Babysitter ausgefallen ist. Eine plötzliche Erkrankung, und natürlich dachte sie sofort an Aids und Ansteckungsgefahren. Sie ist eine hysterische Mutter, die alles vergessen hat, was früher leicht und leichtfertig war.

Annas Todesfall ist ein Ereignis, das Sibylle aus ihrem windelverseuchten Trott holt. Die Ablenkung, die sie braucht, um sich wieder lebendig zu fühlen. Sie ist Martin Liebling nie begegnet, sie mochte ihn nicht, was kein Grund wäre, ihm den Tod zu wünschen. So rücksichtslos von ihm, sich in Annas Wohnung ermorden zu lassen! Sibylle, auf dem Weg von der Küche in den Gastraum, beginnt zu lachen. Leise erst, und dann immer lauter, sodass sie stehen bleibt, von Lachen geschüttelt. Sie sollte das nicht denken, doch ja, sie ist glücklich. Zum ersten Mal seit der Mutterschaft hat sie das Gefühl, frei zu sein. Jemand anderer ist gestorben. Nicht ihr Baby. Also haben die Götter ihr vergeben. Nur ein kleines Opfer haben sie gefordert, und Anna wird es überstehen. Sie ist die starke Kuh auf dünnem Eis, die häufig ausrutscht, aber nie einbricht. So grau, die Wand, die sie anlacht, und ihr wird klar, dass ihr Farbe im Leben fehlt. Rot, blau, grün, gelb … alles, nur nicht die verwaschenen Farben der Gegenwart. Sie sollte renovieren, am besten das ganze Lokal. Und in dieser Zeit Urlaub in der Toskana machen mit Anna und dem Baby. Sie lauscht noch einmal: Kein Geräusch dringt aus der Küche, nur das Klappern von Geschirr. Kim ist ein notorisch trauriger Mann und ein wunderbarer Koch. Spricht man ihn zu laut an, beginnt er zu weinen. Er liebt Kinder, er würde Jonathan nie etwas antun. Oder doch?

Anna wird von Glas zu Glas stoischer und fühlt sich nicht ein kleines bisschen betrunken. Wenn der Rest des Lokals wie ein Bild auf Wellen wirkt, so mag es daran liegen, dass sie ihre Brille zu Hause vergessen hat. Freddy kann sie ganz klar sehen, nur seine Augen tragen Trauer. Er ist voller Sorge um seinen kranken Freund, das Schreckgespenst hat vier Buchstaben. Sibylle hilft dem Kellner beim Abräumen der Tische. Wenn Freddy Kummer hat, versteckt er sich hinter der Bar und weigert sich, diese zu verlassen. Die Familie hat bessere Zeiten gesehen, doch alle atmen noch.

»Was willst du auf dieser verdammten Insel?«, hat sie ihn gefragt. Und er sagte: »Atmen.« Es klang wie »amen«, und sie verstand nicht, was er meinte. Sie trank wenig und er viel, zwei Flaschen sündhaft teuren Rotwein schenkte der Kellner aus, und schon im Restaurant begannen sie zu streiten. Der Ton blieb leise, doch die Worte wurden schärfer. Martin warf ihr vor, in einem Kokon zu leben. Neue Ufer, ständig sprach er von neuen Ufern, und es ist doch nur das Zusammentreffen von Wasser und Land, und das Innenleben an einem anderen Ort ausgebreitet. Irgendwann dachte sie, dass er David beneidete hatte um dessen – wie nannte er es – »Leben auf der Rasierklinge«. Es ärgerte ihn, dass Anna immer wieder den Bruder ins Spiel brachte, wenn es doch um seine und ihre Zukunft ging. Arm und alt zu sein sei ja nun kein erstrebenswerter Zustand, sagte er, und er meinte sie. Der Retter mit Schwimmreifen aus Geld verstand nicht, warum sie auf ihrer eigenen »Titanic« untergehen wollte. Sie redeten und redeten, tranken und aßen, und zerrieben sich an der Unvereinbarkeit ihrer Wünsche. Wenn er bloß die Wahrheit gesagt hätte, den Grund für seine Flucht. Denn im dunklen Licht der Ereignisse muss es das gewesen sein: Liebling wollte untertauchen, und er wollte es nicht alleine tun.

»Und du willst wirklich nicht bei mir übernachten?«, fragt Sibylle, und Anna schüttelt den Kopf, was ihr einigermaßen schwer fällt. Sie trinkt Wasser in großen Mengen, sie muss es noch bis nach Hause schaffen. Von der Wohnungstür am Büro vorbei in ihr Schlafzimmer und ins Bett. In dem gestern noch Martin gelegen hat, neben ihr und auf ihr. So wütend und sprachlos, und wenn er physisch dazu in der Lage gewesen wäre, hätte er sie nie mehr losgelassen. Auch eine Art von Henkersmahlzeit … warum zum Teufel kann sie nicht anständig trauern, begraben und vergessen? Weil er sie in sein Leben und seinen Tod hineingezogen hat. Vergisst man immer, wenn man sich einlässt. Dass es nicht nur Sex und schöne Worte gibt, sondern die intime Berührung mit einem anderen Leben. Anna hat Martins Mörder am Hals. Seine Mörderin, warum denkt sie nur, dass es eine Frau ist? Weil Wanda Kroll sagte, dass Frauen immer einen guten Grund für Gewalt haben?

Sibylle gewährt Freddy die Bitte, am nächsten Tag freizunehmen. Er muss mit seinem Freund ins Krankenhaus. »Wird schon irgendwie gehen«, sagt sie, obwohl sie keine Ahnung hat, wie sie ohne Barmann und Babysitter auskommen soll. Die beschwingte Stimmung hält an, wofür es keinen Grund gibt außer Annas Tristesse. Hat sie sie nicht wochenlang beneidet? Und jetzt sind die Karten anders gemischt. »Du wirst doch die Arbeit der Kripo überlassen?«

»Sehe ich so aus?« Anna richtet sich auf dem Barhocker auf. Sie trägt Schwarz, was nichts zu bedeuten hat, es ist ihre bevorzugte Tarnfarbe.

»Nein.« Sibylle gibt Freddy einen Wink, Wodka nachzuschenken. »Du brauchst jetzt Abstand. Was hältst du davon, wenn ich den Laden für zwei Wochen schließe und wir nach Italien fahren?«

Sonne, Sand, Meer, denkt Anna in leichtem Verfolgungswahn. Sie will Regen, Straßendreck und ihren tropfenden Wasserhahn. Ganz zu schweigen von dem kleinen Monster, das man nicht irgendwo abstellen kann wie einen Schirm. Außer in der Küche, das hat Sibylle wohl vergessen. »Im Übrigen kann ich jetzt gar nicht weg. Ich bin immer noch die Hauptverdächtige. Schon vergessen?«

»Und ich bin dein Alibi«, murmelt Sibylle. Sie ist bereits befragt worden, von einem Polizisten mit Pickeln im Gesicht. Jonathan schrie die ganze Zeit über, und irgendwie schienen sie darüber zu sprießen. Männer sind hässlich, selbst ihr eigenes Exemplar mit seinem Affengesicht und dem viel zu großen Penis. Als ob die Natur von Anfang an keinen Hehl daraus machte, was bei Männern bedeutend ist. Also wird sie sich eine Partnerin suchen für das italienische Leben, und es wird Anna sein. Bis dahin kann sie noch ein paar Mörder und Ehebrecher fangen, wenn sie denn unbedingt möchte. Was Liebling betrifft: kein bisschen Trauer. Vor sich selbst braucht sie nicht zu heucheln. Anna sieht aus wie eine Leiche auf Urlaub: Was hat ihr dieser Mann nur angetan!

»Und ich schulde Martin noch Geld. So kann ich es zumindest abarbeiten.«

»Wie edel von dir. Wenn wir schon beim Thema sind: Du schuldest mir auch dreitausend. Und ich lebe noch.«

Schuld, Schuld, Schuld: Anna fühlt sich von ihr umzingelt. Von Menschen, die etwas von ihr verlangen, das sie ihnen nicht geben kann. Eva Mauz auf dem Anrufbeantworter ihres Handys: Ob sie denn endlich wüsste, wer der Mann auf dem Foto sei? David Liebling, und sie hat ihn über allem, was geschehen ist, beinahe vergessen. Anna steht auf und schiebt Sibylle sacht zur Seite. Sie geht zu Fjodor, der am offenen Fenster steht. Von Rauchschwaden gepeinigt, zieht er die Zugluft vor. Das Leben wird ihn ruinieren, bevor die Menschheit sein Genie erkannt hat. Der Gedanke ist peinigend. Er wird zu Onkel Wanja gehen und ihn um Geld bitten müssen. Um dafür zu hören, dass er endlich etwas Richtiges machen soll, zum Beispiel als Zuhälter oder Dealer arbeiten.

Annas Stimme klingt noch rauer als sonst. »Warst du im ›Adlon‹, Fjodor? Du hast es mir versprochen!«

Sie hat ihn erpresst. »Selbstverständlich bin ich deinem Befehl gefolgt. Ich war dort. Habe ihm das Foto untergejubelt, und du glaubst es nicht …«

»Was?«

»Mein Verwandter hat ihn erkannt. Er logierte dort, genau wie du prophezeit hast. Ist das nicht von grandioser Komik? Er verließ gestern das Hotel. Du hast ihn um Haaresspitzen verpasst. Er nannte sich Richard Gore und besaß einen Pass aus Panama. Ist das der Mann deines Herzens?«

Gestern? Er war die ganze Zeit in Berlin, denkt Anna, während ich einem Phantom nachjagte. Während Martin getötet wurde. In meiner Wohnung. Fjodor sieht sie beifallheischend an: »Ja, das könnte er sein. Danke, und ich darf doch nachfragen?«

Fjodor, in der Sonne von Annas Dankbarkeit, atmet tief ein. Warme Luft, vermischt mit Abgasen. Die Nacht ist schwarz mit Glühwürmchen, die wie Autos aussehen. »Du wirst ihn ölen müssen. Nur russische Verwandte erhalten kostenlose Auskunft.«

»Ich weiß schon.« Sie hat kein Geld, aber das ist nichts Neues. Sie wird von Sibylle borgen müssen oder einen Bittgang zu ihrer Bank tun. Kleine Schuldner werden wie Ungeziefer behandelt, sie hasst schon den Gedanken daran. Sie schiebt ihn weg. David war also die ganze Zeit über in Berlin: Das kann bedeuten, dass er seinen Bruder getroffen hat. Sie ist fast sicher, dass es so war. Und warum ist er gestern abgereist, einen Tag bevor Martin ermordet wurde? Anna korrigiert sich: David Liebling alias Richard Gore checkte aus dem »Adlon« aus, das muss noch lange nicht heißen, dass er aus Berlin weg ist. Was zur nächsten Hypothese führt: einer letzten, tödlichen Begegnung der Brüder in ihrer Wohnung. Nein, das will sie nicht glauben. Kain und Abel, das ist ein so alter Hut. Und warum weint sie jetzt, verdammt?

Fjodor räuspert sich und zieht ein großes, weißes Taschentuch aus seiner Brusttasche. »Du bist wie ein kleiner Vogel in einem großen, stinkenden Kuhfladen. Scheiß auf die Kühe, Anna …«

Als er den Arm um sie legt, beginnen beide zu lachen. Es ist nicht laut genug, die Geräusche der Welt zu übertönen, doch für den Augenblick genügt es ihnen.