24. Kapitel

Die Autorin hat gelogen. Alle Frauen lügen. Männer auch. Von wegen Todsünde, denkt Anna, die auch irdischen Gesetzen skeptisch gegenübersteht. Sie fügt sich ihnen in gewissem Rahmen, weil das Prinzip des geringsten Widerstandes ihrer Trägheit entspricht. Mitnichten wäre sie zur Heroin geschaffen und würde unter der Folter alle und alles verraten, bevor man sie auch nur anfasste. Wenn es etwas gibt, worüber sie sich keine Illusionen mehr macht, dann ist es Anna Marx.

Religionsersatz ist das nicht, auch keine Anleitung zum glücklichen Leben. Eher der schärfere Blick durch sich selbst auf andere, und wenn sie einen menschlichen Makel verabscheut, dann den der Selbstgerechtigkeit. Eine Todsünde. Dafür ist sie nicht anfällig, während Selbstzweifel akzeptabel sind. Neugierde hält Anna in Bewegung, gewissermaßen in der Spur, die nur selten von ihr selbst gezogen wird. Sie folgt ihr: träge, neugierig, mit dem zweifelhaften Charme eines Bullterriers, der nicht mehr loslassen kann, selbst wenn er es wollte.

Diesem Gedanken folgt die Wahrnehmung, dass ihr Magen knurrt. Ein abstoßendes Geräusch, und die Autorin hat gelogen, weil sie an dem Abend nach dem Interview mit Martin Liebling das vollzog, was im modernen Sprachgebrauch »Qne-Night-Stand« genannt wird. Eine-Nacht-Ständer? Die Auswahl an verbalen Erotika ist beklagenswert, und Anna fällt keine gute Übersetzung ein. Nicht nur die Großkopfeten haben einen Hang zur Bestechlichkeit, es geht auch ein paar Treppen tiefer. Das Zimmermädchen, das Anna über die Hotelflure verfolgte, um etwas über John Schultz in Erfahrung zu bringen, sprach mit freizügiger Abscheu vom Liebesleben der Hotelgäste. Ein sprudelnder Quell von Informationen für einen Fünfzig-Euro-Schein, das war preiswert, und das Mädchen wollte ohnehin kündigen und nach Hause zurückkehren, wo es weniger lasterhaft zugeht: in den Iran.

Zwei Jahre lang hat sie stumm geputzt, die Flaschen aus den Zimmern entfernt, die Haare aus den Bidets und die Kondome aus den Betten. Und nun hat sie genug davon: von Amerikanern, die junge Männer aller Hautfarben mit aufs Zimmer nehmen; dem Greis, der seinen Mittagsschlaf mit Prostituierten garniert; dem Liebesleben einer Blondine. Frauen schien sie Verstöße gegen die Moral heftiger anzukreiden als Männern, sie war streng erzogen worden, und niemand hatte sie auf europäische Sittenlosigkeit vorbereitet. Auf Sodom und Gomorrha: Die Iranerin war katholisch und fühlte sich als Fremde unter Fremden. Anna verstand ihre Einsamkeit, die moralische Entrüstung schon weniger.

Während Anna ziellos durch die Stadt streift, unbeeindruckt von prächtigen Jugendstilfassaden und unverputzten Leitungen, immerhin den Müllsäcke-Slalom auf Gehwegen vollziehend, denkt sie an den Zimmermädchen-Monolog, der in einer Art Englisch gehalten war, das überall auf der Welt gleich klingt: starker Akzent, einfache Wortwahl, falsche Grammatik. Keine Feinheiten, doch durchaus Klarheit in der Aussage.

Dass John Schultz die Liebe zu Männern pflegte, hat Anna überrascht. Marlboro-Männer sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Das findet sie eher erheiternd, während die blonde Liebling-Geschichte sie doch verletzt hat. Es ist nichts als Eitelkeit, sie weiß das. Wie hatte Schultz gesagt? Zu viele Frauen in Lieblings Leben. Martin gehörte zu denen, die nichts auslassen konnten. Immerhin hat er sie für die Insel auserwählt. Bevor er strandete. Nach seinem Tod beschäftigt sie sich so sehr mit seinem Leben, dass es ihr schwer fällt, sich ihn als Leiche vorzustellen. In der Gerichtsmedizin, aufgeschnitten.

Sie werden ihn wieder zunähen, bevor sie ihn ins Höllenfeuer des Krematoriums schicken. Ordnung muss sein, bis zuletzt.

Ein verlogenes Miststück, die Feigen. Sie hätte es Anna doch erzählen können, dass sie mit ihm geschlafen hat. Gottes Geschenk für die Frauen war er im Bett ohnehin nicht. Seine Stärke lag im Vorspiel von Rosen und Champagner. Womit sich kleine Blondinen beeindrucken lassen. Große Rothaarige auch, so viel ist Anna bereit zuzugeben. Sie hat ihn nicht geliebt – oder allenfalls einen Augenblick lang –, und es besteht kein Grund zur Aufregung. Aber dass ein Mann, der sich immerhin in ihrer Wohnung umbringen ließ, sie auch noch belogen und betrogen hat, kränkt sie dann doch.

Gab es in ihrem Leben überhaupt einen Mann, der ausschließlich Anna liebte? Sie denkt nach und stolpert beinahe über einen Kinderwagen, von einer entrüsteten Mutter geschoben, die französisch schimpft. Manchmal ist es schön, nichts zu verstehen. Frustrierend, in einer fremden Stadt hinter einem Mann herzuspionieren, den sie auch nicht versteht.

Nein, es gab keinen Romeo für Anna, ab den Zwanzigern gerechnet. Die sorglose Zeit mit Pille und ohne Aids, die sie als Studium bezeichnete. Das nie einen Abschluss fand, weil sie faul war, damals schon. Also wurde sie Journalistin, in Bonn, und es waren glücklich vergeudete Jahre, zumindest im verklärenden Rückblick. Männer, die gingen und kamen. Kein Schmerz war groß, und sie schien ja noch so viel Zeit zu haben, eine Familie zu gründen. Es fand sich nur leider kein Gründungsvater, und mit den Jahren kamen die Liebhaber als Ehemänner des Weges, als Ringverstecker, und Anna dachte, dass sie den Frauen ja nichts wegnehme, nur ein bisschen Sex, den sie vielleicht ohnehin nicht mehr schätzten. Annas Blick war damals nicht so klar. Heute weiß sie es besser und weicht den beringten Männern aus. Die sich ja ohnehin auf die Zwanzig- bis Dreißigjährigen stürzen, was der Verzichtserklärung einiges an Größe nimmt.

Der Gedanke, dass Liebling ihr letzter Mann gewesen sein könnte, ist ebenso wenig tröstlich wie die Tatsache, dass ein Doppelgänger existiert. Liebling zwei, der Schatten, den sie fangen möchte, fangen muss, wenn sie wieder zu Geld kommen will. David wird auftauchen, weil er an das Erbe will. Und falls Martin, wie Alicia sagt, kein Testament hinterlassen hat, ist er der nächste Verwandte. Das hätte Liebling nicht gefallen, denkt Anna mit gewisser Genugtuung. Wie viele Frauen mögen in Brüssel noch unterwegs sein, die mit ihm geschlafen haben? Die Schwarzhaarige mit dem Foxterrier, die gelangweilt an ihrer Zigarette zieht, während ihr Hund am Hydranten schnüffelt? Sie muss in der Nähe seiner Wohnung sein, sie erkennt das Café wieder, in dem sie einmal waren. Das war an dem Tag, an dem er Anna Schuhe kaufte, so schrecklich teuer, dass sie sie kaum zu tragen wagt. Eine Skulptur, um Füße geformt, und den Karton hat sie ebenfalls aufbewahrt, weil auch er eine Art Kunstwerk ist.

Liebling hat Manschettenknöpfe gesammelt, in allen Farben und Steinen, die er allerdings achtlos in der Wohnung verteilte. Er hing nicht an geldwerten Dingen, er hatte ja genug davon.

Anna bleibt vor einem Schaufenster stehen, in dem Pralinen funkeln. Brüssel ist voll von diesen kleinen Geschäften mit großem Verführungspotenzial. Pierre Marcolini, angeblich der beste Chocolatier der Stadt. Alles hier macht dick, und sie fühlt sich dünn wie nie zuvor. Nicht betreten! Sie wendet sich ab und atmet tief durch. Seit sie nicht mehr raucht, was ihr als kleine Ewigkeit erscheint, atmet sie anders. Bewusster, so als ob Sauerstoff an Bedeutung gewonnen hätte. Sie sieht sich in der Straße um, und obwohl ihr Orientierungssinn stark unterentwickelt ist, erkennt sie einiges wieder. Wenn sie geradeaus weitergeht, kommt sie zur Place du Grand Sablón, wo Martins Wohnung liegt. Sie sollte sich nach einem Taxi umsehen und ins Büro zurückfahren. Anna versucht, Alicia dort zu erreichen, doch niemand antwortet außer der Konservenstimme. Sie sagt in drei Sprachen, dass Martin Lieblings Büro zurzeit nicht besetzt sei.

Der Besitzer ist mit unbekanntem Ziel verreist, denkt Anna. Jede Sekunde stirbt ein Mensch, 56 Millionen sind es weltweit pro Jahr. Der Himmel und besonders die Hölle wären hoffnungslos überbevölkert, wenn die Kirche Recht hätte. Es gibt keinen Trost, nur das Leben. Es führt sie zu dem Haus, in dem Martin wohnte.

Dass sie an seiner Wohnungstür schellt, ist mutig. Eigentlich will sie Helena gar nicht kennen lernen, es gab zu viele Frauen in seinem Leben. Die Stimme, die durch die Sprechanlage »Hallo« sagt, klingt schläfrig und abweisend. Ich habe sie aufgeweckt, denkt Anna und nennt ihren Namen und ihr Anliegen. Sie lügt natürlich. Martins Anwaltskanzlei würde nicht eine Detektivin beauftragen, seine Angelegenheiten zu regeln.

»Was genau liegt an?«, fragt Helena Liebling, nachdem sie Anna misstrauisch gemustert und schließlich eingelassen hat. Sie trägt Jeans und ein weißes Hemd, das ihr viel zu weit ist. Aus Martins Beständen, wie Anna vermutet, und auch, dass sie sich hastig angekleidet hat. Sie ist ungeschminkt. Braun gebrannt, was gut zu den weißblonden Haaren passt, die ganz kurz geschnitten sind. Türkisfarbene Augen, ein wenig verquollen vom langen Schlaf, doch sie ist schön, denkt Anna. Vielleicht schon fast am Verblühen, aber immer noch eine Erscheinung, die auffallt. Helena Liebling ist groß und schlank, auf gleicher Höhe wie Anna, obwohl sie barfuß geht.

»Sind Sie gekommen, um mich aus der Wohnung zu werfen?« Ihre Hand weist auf die weiße Couch, sie trägt einen Ehering.

Anna setzt sich. Es gibt Möbelstücke, auf denen man nie richtig sitzen kann, und diese Couch gehört dazu. Man versinkt oder verharrt am Rand in kerzengerader Stellung, mit den Beinen auf dem Boden. Sie entscheidet sich für Letzteres. »O nein, deshalb bin ich nicht gekommen.«

Das scheint die richtige Aussage, denn die schöne Helena lächelt und fragt Anna, ob sie auch einen Kaffee wolle.

»Ja, gern.« Und nun wieder dieser Reflex, nach der Tasche zu greifen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Annas Hand bleibt in der Luft. Sie betrachtet sie und nimmt zur Kenntnis, dass sie zittert. Warum kann sie einem Laster nicht einfach abschwören und stark sein? Anna Marx, auf einer weißen Couch, sieht schwarz. Trägt Schwarz wie eine Witwe, und die andere, die diese Bezeichnung ebenso wenig in Anspruch nehmen kann, verschwindet in die Küche.

Sie hat den Gang eines jungen Mädchens, eine Beobachtung, die Anna zu sachlicher Kritik reizt. Die Stimme ist unangenehm und der Tonfall herrisch. Helena ist offenbar ebenso wenig Ordnungsfanatikerin wie ihr Exmann, denn das Wohnzimmer ist gesäumt von Kleidungsstücken, Golfzeitschriften, leeren Flaschen. Sie trinkt Chablis, und wenn sie es allein getan hat, nicht wenig davon. Auf dem Tisch liegt ein goldfarbenes Notizbuch, das Annas Neugierde reizt. Es wäre falsch, danach zu greifen, zumal, wenn sie dabei erwischt würde. Sie blickt aus dem hohen Glasfenster auf die Kathedrale, brabantische Gotik, die im Sommer von Touristenströmen heimgesucht wird. Gott sieht alles. Wie hält er das nur aus?

»Milch und Zucker?«

Diese Stimme könnte Glas zerschneiden. »Ohne alles!«, ruft Anna zurück.

Helena kommt mit einem Tablett, schenkt Kaffee ein und mustert Anna mit dem Blick der überlegenen Schönheit. »Ich habe eine schlimme Nacht hinter mir, normalerweise stehe ich früher auf. Schrecklich, was mit Martin passiert ist. Das hat er nicht verdient.«

Dich auch nicht, denkt Anna. Der Kaffee ist heiß und viel zu stark, und er schmeckt nicht ohne Zigarette. Sie ist dankbar, dass ihr Gegenüber nicht raucht, obwohl sie sogar den Geruch vermisst. »Niemand tut das. Haben Sie es aus der Zeitung erfahren?«

Helenas Augen sind groß und von nur wenigen Falten gesäumt. Sie sieht modelliert aus, nicht jung, nicht alt, nicht wirklich lebendig. Ihre Lippen erinnern Anna an ein hübsches Froschmaul, doch wenn sie leiser spricht, wird ihre Stimme angenehmer: »Nein, Alicia hat mich angerufen beziehungsweise meine Mutter verständigt, bei der ich gerade zu Besuch war. Ich bin natürlich sofort hierhergekommen. Weiß man schon, wann das Begräbnis ist?«

Eine von beiden lügt, und Anna tut es auch: »Die Leiche ist heute freigegeben worden, und Ihr Exmann hat eine Feuerbestattung verfügt.« Er hat zu Anna darüber gesprochen, dieser Teil ist wahr. Was, wenn sich Helena bei den Anwälten über Anna Marx erkundigt? Ach was, es wird schon gut gehen. »Über Termine weiß ich nichts, vielleicht Anfang nächster Woche …«

Helena schlägt die Beine übereinander, sie scheint keine Schwierigkeiten mit der Couch zu haben. »Ich muss nämlich nach New York. Ein Freund von mir eröffnet eine Galerie, und er will mich unbedingt dabeihaben. Ich kenne ja alle wichtigen Leute.«

Ob sie mit Kunst zu tun habe, fragt Anna, und ihr Gegenüber lächelt akademisch. »Ich habe Kunstgeschichte studiert, Frau Marx, allerdings nie … wie soll ich sagen … gearbeitet, nur hier und da Freunden ausgeholfen. Geregelte Arbeit ist einfach nichts für mich, dazu bin ich zu … spontan. Man hat ja gar keine Zeit für schöne Dinge, wenn man in der Tretmühle ist. Martin hat das natürlich ganz anders gesehen, er war ein Workaholic. Darüber hat er mich sträflich vernachlässigt und … doch es war eine große Liebe, das können Sie mir glauben.«

Die Handbewegung deutet an, dass die Ehe über den Jordan ging. Anna zweifelt an Helenas letztem Satz. Helena hat ihn verlassen. Sie braucht Bewunderung, Anbetung, vollkommene Aufmerksamkeit – und das hat er wohl nicht durchgehalten. Sie inszeniert sich pausenlos, denkt Anna, und dass dies auf die Dauer verdammt anstrengend sein muss.

»Gibt es ein Testament? Ich bin zurzeit ziemlich pleite, ehrlich gesagt.«

Das Geständnis überrascht Anna. Sie ist ständig pleite, doch sie spricht nicht darüber. Sie stellt die Kaffeetasse vorsichtig auf den Glastisch. »Nein, bisher hat sich keines gefunden. David Liebling wäre in diesem Fall der Erbe seines Bruders. Wir suchen ihn, haben Sie eine Ahnung, wo er sich aufhalten könnte?«

Bildet sie sich das ein, oder zeigt das Kunstwerk Risse? Von einem Augenblick zum nächsten erscheint ihr Helena plötzlich alt. Müde, verbittert, vom Sockel ewiger Schönheit gestoßen und im Begriff, Staub zu werden.

»Im Spielcasino? Sie brauchen doch nur alle Spielhöllen dieser Welt abzusuchen, um David zu finden. Oder in den Betten aller Frauen unter sechzig. Mein Schwager wird ganz sicher auftauchen, wenn er Geld riecht. Er hat eine Nase dafür – und Hände, die damit beschäftigt sind, es pausenlos auszugeben. Dieser Mann hat in seinem Leben nicht einmal ernsthaft versucht, Geld durch Arbeit zu verdienen.«

Annas spöttisches Herz liegt auf der Zunge: »Ist das nicht in Ihrem Sinne? Oder habe ich Sie da etwas falsch verstanden?«

Das Helena-Lachen klingt wie klirrendes Eis. »Aber er ist doch ein Mann, meine Liebe, da gelten andere Vorgaben. Männer sind dazu da, Frauen ein schönes Leben zu ermöglichen, welchen anderen Zweck hätte ihre erbärmliche Existenz denn sonst? Und wenn sie nicht von Haus aus reich sind, müssen sie das Geld eben verdienen. David hat da etwas falsch verstanden. Er war ein Ausbeuter, Schmarotzer, eine nichtsnutzige Karikatur seines Bruders. Es ist ein Witz, dass er ihn beerben soll. Martin hätte das nicht gewollt. Ich bin sicher, dass es ein Testament gibt.«

»Wir müssten es nur finden«, murmelt Anna und betrachtet ihre zitternden Hände. Entzugserscheinungen. Eines Tages wird sie tot sein und mit ihrem letzten klaren Gedanken alles bereuen, was sie falsch gemacht hat. Bis dahin atmet sie ergeben weiter. »Hier ist er nicht aufgetaucht?«

Helena wirft den Kopf zurück, ein Geste gekonnter Arroganz. »Nicht, solange ich hier bin, das würde er nicht wagen. Und was das Testament betrifft: Ich habe die Wohnung auf den Kopf gestellt, bisher ohne Erfolg. Hat die Polizei denn in der Berliner Wohnung nichts gefunden?«

Anna schüttelt den Kopf.

»Dann ist es im Büro, und Alicia hat es zur Seite geschafft. Sie hasst mich, weil sie meint, dass ich für ihren Liebling nicht gut genug war. Wussten Sie, dass sie mit der Schere auf Martin losgegangen ist, als er ihr von unseren Heiratsplänen erzählte? Die Frau ist nicht zurechnungsfähig. Vielleicht hat sie ihn umgebracht. Wäre ja nicht die Erste, die vor Liebe verrückt geworden ist.«

Was dir nicht passieren könnte, denkt Anna. Denn im Heer der gleichgültigen Seelen stehst du an vorderster Front. »Wann haben Sie David zum letzten Mal gesehen?«

Und da ist er wieder, dieser Riss. Als ob der Name etwas auslöste, das sie nicht unter Kontrolle hat. Das Lächeln von Sharon Stone, vermutlich einstudiert, erstarrt zur Maske. »Ich weiß nicht … bei meiner Hochzeit? Nein, beim Begräbnis der Großmutter, und einmal in Paris, als Martin ihn aus irgendeinem Schlamassel holte. Er hat immer alles für David getan, aber mehr, um ihn mit seiner Güte zu demütigen. Er hasste ihn, glaube ich, während David überhaupt nichts fühlte. Ein Herz aus Stein, von zartem Schmelz umgeben. Außer wenn er am Spieltisch stand – oder vielleicht beim Sex, ein paar Sekunden lang.«

Und das weißt du genau: Anna interpretiert diesen letzten Satz als Geständnis. Helena und David hatten also Sex. Und einer, der so war wie sie, berührte ihre Seele. Es gibt ja doch Gerechtigkeit auf Erden, nur ist sie leider absurd. »Hat Martin Liebling gewusst, dass Sie etwas mit seinem Bruder hatten?«

Falsche Frage. Helenas Hand mit rot lackierten Fingernägeln weist in Richtung Tür: »Raus!«

Anna bleibt sitzen. »Das ist nicht mehr Ihre Wohnung. Eigentlich haben Sie gar kein Recht, hier zu sein.«

»Und Sie haben kein Recht, mir solche Fragen zu stellen. Mein Mann ist tot, auf grauenhafte Art ermordet worden. Verschwinden Sie, bevor ich die Polizei rufe!«

Anna denkt, dass sie schlechte Karten hätte mit französisch sprechenden Polizisten. Sie würden der schönen Helena jedes Wort glauben und die Rothaarige abführen. Zu viele Frauen in Martins Leben … und jetzt, im Augenblick der Stille, hört sie ein Geräusch, das aus der Richtung des Schlafzimmers kommt. Die alten Holzdienen knarren, wenn der Teppich verrutscht ist. Daran kann sie sich gut erinnern. Und jetzt ächzen sie, als ob einer darauf geht. Jetzt innehält vor Schreck … oder eine … nein, sie ist ganz sicher, dass David im Schlafzimmer ist. Und was soll sie jetzt tun?

Helena ist aufgestanden und hält das Telefon in der Hand. »Ich rufe die Polizei«, wiederholt sie und beginnt auf die Tasten zu drücken. Sie blufft, denkt Anna, doch dann hört sie das Freizeichen. Angriff oder Rückzug? Im Zweifelsfall entscheide man sich für das Richtige, hat Karl Kraus gesagt. »Raus!«, kreischt die Witwe. Anna steht auf. Ihr Rücken schmerzt, doch das versucht sie jetzt zu vergessen. Das Richtige ist meist das, was schwerer fällt. Sie sollte jetzt gehen, und sie bewegt sich in Richtung Tür.

Helena Liebling nennt ihren Namen und verlangt nach einem Vorgesetzten, soweit Anna das versteht. Perfektes Französisch, und sie sieht dabei Anna mit diesen unglaublich türkisen Augen an. Es ist die Arroganz, die Anna reizt, und bisweilen ist sie von verwegener Dummheit. »Ich würde gerne Martins Bruder kennen lernen: Warum kommt er nicht raus?«

Der Vorgesetzte ist offenbar noch nicht am Telefon. Helena hält es wie eine Waffe in ihrer Hand, doch sie wartet noch. Sieht Anna an und sagt: »Sie sind eine Idiotin und verstehen gar nichts. So gehen Sie doch endlich.«

Aus Gründen, die sie nicht erklären kann, folgt Anna diesem Satz. Sie geht. Ihre Karte mit der Telefonnummer hat sie auf dem Tisch zurückgelassen. Anna Marx – Privatdetektivin. Sie steht im Treppenhaus und fühlt sich wie eine Idiotin. Jetzt muss sie nur noch die Erklärung dafür finden.