28. Kapitel

»Sie haben Glück, dass ich zufällig Nachtdienst hatte.«

Wanda Kroll hat Anna aus den Klauen der Staatsgewalt befreit und in ihr Büro gebracht. Es sieht aus wie ein Treibhaus mit den vielen Pflanzen, die Fenster und Schreibtisch zu überwuchern scheinen. Die Kommissarin hat einen Hang zu Fleisch fressenden Pflanzen, die sich im Sommer der Fliegen annehmen. Ein Gewächs, das ihren Ehemann verschlingen könnte, ist zu ihrem großen Kummer nicht darunter.

Wanda erlaubt Anna zu rauchen und bringt Kaffee in großen Tassen. Sie nimmt selbst eine Zigarette, denn seit ihrer Trennung neigt sie zum ungesunden Leben. Die Wohnung, die sie fand, ist bezahlbar, doch kein Vergleich zu ihrem früheren Zuhause. Die Babysitter verschlingen ein kleines Vermögen und sind von unterschiedlicher Qualität. Sie nerven manchmal ebenso wie die Kinder, die nichts verstehen, jedoch alles beklagen. Die Marx soll sich nicht so anstellen: Schließlich muss sie sich nur um sich selbst kümmern, was Wanda Kroll als ein Übermaß an Lebensqualität erscheint.

Sie hört der Rothaarigen aufmerksam zu und unterbricht sie nicht. Anna erzählt chronologisch, diese Geschichte braucht die Pointe, die sie sich bis zum Schluss aufhebt. Der zarte Knöchel …

»Wow«, sagt die Kommissarin, als Anna zu Ende erzählt hat: »Darauf hätten Sie eigentlich schon früher kommen können.«

Hätte sie, jawohl, dieser törichte Konjunktiv, und Anna bläst Rauch in die grüne Hölle, in der Wanda wie Tarzans Jane hockt.

»Das erklärt auch, warum die Konten so leer geräumt waren. Ich dachte, es läge daran, dass er schon alles für sein Inselleben transferiert hat … wir müssen die Leiche wiederhaben, jetzt beginnt ja alles von vorne.« Die Kommissarin greift seufzend zum Telefon und gibt Anweisungen, die sterblichen Überreste von David Liebling alias Martin vom Krematorium zurück in die Gerichtsmedizin zu schaffen. Sie legt die Hand auf den Hörer: »Und Sie sagen, dass er in Brüssel ist.«

»Er war in Brüssel, in seiner Wohnung, und Helena muss eine Art Komplizin sein. Sie sollten nach beiden suchen lassen.« Anna ist schon wieder so müde, dass sie auf dem Stuhl einschlafen könnte. Es ist drei Uhr morgens, das ist nicht ihre Zeit, und die Luft in diesem Raum ist von tropischer Schwüle. Hier foltert sie ihre Verdächtigen, denkt Anna, und verfüttert die Überreste an ihre Pflanzen. Wie schade, dass Martin nicht hier ist …

»Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe.« Wanda entschärft den Satz mit einem Lächeln, bevor sie am Telefon Anweisungen gibt, nach Martin und Helena Liebling zu fahnden.

»Sie wollte nach New York zu einer Vernissage«, fügt Anna hinzu. Und denkt, dass sie Martin nicht kriegen werden. Vermutlich hat er einen der falschen Pässe, mit denen David reiste. Wie war noch der Name? »Richard Gore«, sagt Anna. »Vielleicht ist er unter diesem Pseudonym unterwegs.«

Die Detektivin nervt auch. Wanda Kroll hatte sich auf eine gemeinsame Nachtschicht gefreut, nur sie und die Pflanzen und all die schönen Gedanken, wie sie ihrem Mann das Leben zur Scheidungshölle machen könnte. Und nun ist Aktionismus gefragt, und am Morgen, wenn sie ins Bett fallen möchte, muss sie die Kinder in die Tagesstätte bringen, den Babysitter nach Hause fahren und ihre Mutter anrufen, die Geburtstag hat und sich darüber beschweren wird, dass die einzige Tochter ihn nicht ausreichend würdigt. Das Leben ist eine Anstrengung, die einer besseren Sache würdig wäre, hat die Marx einmal gesagt. Stammt sicher nicht von ihr, doch den Satz könnte Wanda sich auf die Stirn tätowieren lassen.

»Wir werden ihn fassen.« Ihre Stimme klingt brüchig.

Anna nickt, obwohl sie nicht daran glaubt. Obwohl es ihr fast gleichgültig ist, so seltsam sie das auch findet. Der Wahrheit ist Genüge getan, und die Gerechtigkeit kann warten. Wenn sie darin besteht, dass Martin in seiner kleinen, privaten Hölle schmort – und davon geht sie aus dann soll ihr das reichen. Gefängnisse erschienen ihr nie als Ort der Sühne, sie sind Bewahrungsanstalten, mittels derer sich die Gesellschaft vor ihren Tätern schützt. Und die Schlimmsten laufen ohnehin frei herum. Das muss sie Wanda Kroll aber nicht erzählen, die Frau hat einen Job, den sie ernst nehmen muss, um nicht verrückt zu werden.

»Wir wissen fast alles, nur nicht, warum er es getan hat«, sagt die Kommissarin. Warum tun sie das? Belügen, betrügen, demütigen, quälen, töten …? Wanda wollte Philosophie studieren, wenn sie es nur getan hätte. Dann könnte sie sich jetzt mit Theorien beschäftigen, statt in der Praxis menschlicher Gemeinheiten zu wühlen.

»Vermutlich werden wir es nie erfahren«, sagt Anna. Sie steht auf und lässt die Zigarettenpackung auf dem Tisch liegen. »Ich muss jetzt nach Hause. Sie wissen ja, wo Sie mich erreichen.«

Sie könnte die Marx daran hindern, doch Wanda entscheidet sich für die Güte. Die Detektivin sieht aus, als ob sie gleich zusammenbrechen würde. Sie hat abgenommen. Gut möglich, dass die Erinnerung an einen Mörder an ihrem Fleisch zehrt. Es sind Männer, die das Beste in Frauen umbringen. »Aber keine Ausflüge mehr – nach Brüssel oder sonst wohin. Und falls er sich melden sollte, rufen Sie mich sofort an – hier oder zu Hause.«

»Warum sollte er?«, sagt Anna. Eine Fliege kreist über einer Fleisch fressenden Pflanze, verwegen – oder einfach nur dumm. Die beiden Frauen warten, bis das Unvermeidliche geschieht. Dann lächeln sie sich an.