8. Kapitel

Es gibt Räume, die schon zu Lebzeiten ihrer Bewohner Grabstätten sind. Antarktis in Berlin-Mitte: Anna ist zum zweiten Mal in dem Altbau, den Julia Mauz zwanzig Jahre lang ihr Zuhause nannte. Und wiederum fröstelt sie, als sie im dunklen Flur steht: Er ist zu schmal und lang, die Tapete dunkel, und gerahmte Fotos von Insekten sind kein Anblick, der sie fröhlich stimmen könnte. Warum hat Julia sie nicht entfernt, nachdem ihr Forscher im Urwald verschwand? Dies ist ein Ort, der zum Sterben einlädt.

»Alles ist tipptopp, doch ich kriege die Bude weder verkauft noch angemessen vermietet. Berlin verkommt zu einem Armenhaus, es ist eine Schande.«

Eva Mauz schreitet voran durch den Flur in die Küche und öffnet das Fenster, um den muffigen Geruch zu vertreiben. Sie ist immun gegen ihre Umgebung, denkt Anna, weil sie blind und taub ist. Leider nicht stumm.

»Ich weiß gar nicht, was Sie hier noch finden wollen. Wir haben doch schon alles durchgesehen, und Julia, Gott sei ihrer Seele gnädig, hat das wenige vernichtet, das uns weiterhelfen könnte.«

»Gott mag keine Selbstmörder«, murmelt Anna und malt ein Herz in die dünne Staubschicht auf dem Küchentisch. Es ist schief, das Herz, aber sie kann es nicht besser.

»Ich mache mir täglich Vorwürfe, dass ich sie nicht davon abgehalten habe, das können Sie mir glauben. Julias Tod lastet wie ein Fluch auf mir, und ich werde erst ruhig schlafen können, wenn Sie den Schuldigen gefunden haben, Frau Marx.«

Klingt fast wie eine Drohung, denkt Anna. Ihre Auftraggeberin steht mit verschränkten Armen vor ihr, und ihre Augen, unter dicker Schminke verborgen, verraten nichts von Schmerz. Der Lippenstift ist zu rot, das Kostüm zu rosa, einfach alles ist zu grell an Eva Mauz. Sie blendet. Anna blinzelt in den Sonnenstrahl, der durch das offene Küchenfenster fällt. »Deshalb bin ich ja hier. Weil ich nichts unversucht lassen will. Vielleicht haben wir beim ersten Mal etwas übersehen.«

»Julia war schon als Kind so geheimniskrämerisch, müssen Sie wissen. Nie hat sie mir etwas verraten, und eine ganze Weile fürchtete unsere Mutter, dass Julia autistisch sein könnte. Aber sie war einfach nur … anders.«

Anna wollte als Kind immer anders sein, doch sie unterschied sich in nichts von den fetten Nachbarskindern. Vielleicht war das ein Glück damals. Anderes wurde gnadenlos ausgestoßen. Vielleicht ist es Julia Mauz so ergangen, und sie starb, wie sie gelebt hatte: einsam.

Die Mauz sieht ungeduldig auf ihre Uhr. »Ich habe noch einen Friseurtermin … Sie brauchen mich doch nicht bei der Sucherei, oder?«

Rhetorische Fragen sind Anna ein Gräuel. Sie bemüht sich sehr, ihre Abneigung nicht nach außen zu tragen, schließlich ist die Frau zurzeit ihre einzige Geldquelle. Also lächelt sie und verneint. Anna verspricht, den Schlüssel später in der Wohnung der Schwester abzugeben, obwohl dies einen großen Umweg bedeutet.

»Und Sie bringen mir doch nichts durcheinander, oder? Vielleicht findet sich ja doch ein Interessent, der die Wohnung kaufen oder mieten möchte. Sie war viel zu groß für Julia. Hier könnte leicht eine Familie mit zwei Kindern leben, aber diese Leute haben ja kein Geld.«

Anna denkt an ihre Schulden und dass sie auch lieber reich, reicher, am reichsten wäre. »Wollte Ihre Schwester denn nie Kinder haben?«

Eva Mauz sucht in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel. Sie fährt einen Mercedes-Sportwagen, rot mit weißen Ledersitzen, und er parkt vor der Tür des renovierten Altbaus. Es gibt noch Parkplätze in Berlin, obwohl Anna sie gar nicht mehr braucht. Es freut sie, dass auch Designertäschchen Schlüssel schlucken.

»Julia hat natürlich nicht darüber gesprochen, doch sie wollte schon Kinder. Winfried allerdings war strikt dagegen, und sie hat sich gefügt. Er hat den Gedanken nicht ertragen, dass Kinder sich an seiner Insektensammlung vergreifen könnten. Er war ein komischer Kauz, und ich habe nie kapiert, warum sie ihn geheiratet hat. Der Mann hat jede exotische Schabe mehr geliebt als meine Schwester. Es war weiß Gott keine glückliche Ehe, aber Julia war nicht der Typ, der eine einmal getroffene Entscheidung infrage stellt. Fügte sich in ihr Schicksal, wenn Sie verstehen, was ich meine. Mein verstorbener Gatte und ich hingegen, wir waren uns immer einig: kein Nachwuchs. Wertvolle Möbel und Kinder passen einfach nicht zusammen, finden Sie nicht auch?«

Eva Mauz erwartet keine Antworte auf ihre Frage. Nach einem »Viel Glück bei der Suche« geht sie zur Tür, die sie geräuschvoll von außen schließt. Endlich allein! Anna zündet sich eine Zigarette an und sucht vergeblich nach einem Aschenbecher. Julia hatte keine Laster, zumindest keine der üblichen Sorte. Eine gewisse Traurigkeit als Grundstimmung verfährt zu großer Schlamperei à la Marx oder pedantischer Ordnungsliebe, wie Julia sie pflegte. Staunend betrachtet Anna die penible Anordnung von Geschirr und Töpfen, bevor sie ins Wohnzimmer geht, den Ort, an dem Julia ihren Strick knüpfte. Er war aus reißfestem Nylon. Sie wusste, was sie tat.

Das Zimmer ist groß und dunkel, mit schweren Teppichen und Damastvorhängen, die sich auf Knopfdruck zurückziehen. Die große weiße Couch wäre ein Lichtblick, wenn sie nicht von grauen Schonbezügen verhüllt wäre. Wer würde in diese Gruft einziehen wollen? Anna öffnet alle Fenster, atmet Wärme und wirft ihre Zigarette auf die Straße. Sie ist eine große Umweltsünderin, die nicht einmal ihren Müll trennt. Eine lausige Detektivin ist sie auch, doch darüber will sie jetzt nicht nachdenken. Sie geht zum Bücherschrank, der eine Wand einnimmt, und denkt an die gottverdammte Nadel im Heuhaufen.

Das Buchdekor der gehobenen Mittelklasse: Neben den Klassikern, die jungfräulich wirken, gibt es viele Bücher über Insektenforschung in Deutsch, Englisch und Spanisch, die gewöhnlichen Bestseller, Kunstbände, Reisebücher und historische Romane, die Julia Mauz offenbar liebte. Frauen sind die Bewahrerinnen der Belletristik, weil sie neugierig auf Abenteuer sind. Das Leben genügt nicht, wie es ist. Auch Julia hatte keine Idee, wie sie das ändern sollte. Doch, schon. Und hat sie in ihren letzten klaren Sekunden gedacht, dass es die richtige Entscheidung war?

Famous last words … »Scheiße« wäre ein zu Anna passender Abgesang. Aber ohne Reue, so möchte sie schon gerne sterben. Sie blättert in einem Gedichtband von Erich Fried und verliert sich in seinen Sätzen. Und wenn wir das Leben lieben, können wir nicht ganz lieblos gegen diese unsere Zeit sein. Wir müssen sie ja nicht genau so lassen, wie sie uns traf.

Lesen und denken ist aus der Mode gekommen. Die Zeit verkommt, verlaust, verfilzt mit all dem Dreck, den Fernsehsender frei Haus liefern. Anna stellt das Buch zurück ins Regal … und schreit auf, als sie nach dem nächsten greift: So klein und schmal, dass sie es bei der ersten Suche übersehen hat:

»Hautfetzen« von Josef Gangwein.

»Jetzt eine Widmung, und ich habe dich«, sagt Anna laut, als sie den Band aufschlägt. Aber so einfach hat er es ihr nicht gemacht. Keine handgeschriebene Zeile des Dichters, sie blättert jede Seite um. Es sind dreißig kurze Gedichte, mehr hat er nicht zu Papier gebracht. Anna liest jedes von ihnen: Sie sind nicht schlecht, nur hat sie wiederum das Gefühl, alles schon zu kennen. Als ob der Dichter alle Lyrik dieser Welt wie ein Schwamm aufgesogen und mit leichten Variationen wieder hervorgebracht hätte.

Julia hat viele Lyrikbände. Natürlich ist es möglich, dass sie die »Hautfetzen« gekauft hat. Wenn es ein Geschenk war, hätte sie nicht eine Widmung erbeten? Und er, der große Spurenverwischer, hätte geantwortet, dass er dies banal finde. Ein Wort, das Gangwein oft gebraucht, allerdings nicht in seiner Lyrik. Wofür Anna dankbar ist, denn in gewisser Weise mag sie den Poeten, Plagiator, Heiratsschwindler. Alles Hypothesen, vielleicht ist er nicht einmal ein Dichter. Doch unter anderen Umständen würde sie ihn mögen. Denn Josef ist auf altmodische Art höflich und liebenswürdig. Einer, der Frauen das Gefühl gibt, dass er sie schätzt und verehrt. Er ist ein sinnlicher Mann, und ein bisschen verrückt ist er auch. Auf diesen Typus hat Anna Marx stets mit gewisser Schwäche reagiert. Es ist einfach, Menschen über den Umweg der Liebe ins Verderben zu führen.

An Fingerabdrücke denkt sie erst jetzt: Anna steckt das Bändchen in eine Plastiktüte – für alle Fälle, und obwohl sie mit ihren Abdrücken vermutlich alles Brauchbare ruiniert hat. Warum sie weitersucht, weiß sie nicht, doch sie tut es, greift wahllos in die Regale und entdeckt immerhin, dass Julia Bücher auch als Ablage genutzt hat. Anna findet alte Fotos zwischen den Seiten: Julia mit Zahnspange und gequältem Lächeln, und daneben ihre Schwester, die so hübsch in die Kamera lächelt. In der »Päpstin« sind alte Rechnungen verborgen, und im »Medicus« stecken Ansichtskarten, die Winfried an seine Frau geschickt hat. Insektenmotive, offenbar hat er sich mit nichts anderem beschäftigt, und seine Botschaften sind so belanglos, dass sie das Porto nicht wert sind.

Warum schicken Leute Ansichtskarten? Anna hat es nie getan, und alle, die sie je erhalten hat, landeten nach kurzem Überfliegen im Papierkorb. Sie legt Winfrieds »Grüße aus der Ferne« in das Buch zurück. Der Mann, der im Amazonasgebiet verschwunden ist und nach Ablauf der gesetzlichen Frist für tot erklärt wurde. Auf den Fotografien sieht er aus wie eine missglückte Kreuzung aus Intellektuellem und Bergsteiger. Große, verwunderte Augen und ein zu kleiner Kopf über einem mächtigen, durchtrainierten Körper. Im Einzelnen betrachtet ein attraktiver Mann, doch in der Zusammensetzung seltsam. Winfried lächelt nie, auf keinem einzigen Foto.

»Eine Anaconda« hat Eva Mauz ihn einmal genannt. Er war mit seinem Boot allein auf dem Fluss unterwegs – und kehrte nie zum Lager zurück. Ertrunken, erschlagen, an einem Herzinfarkt verstorben, von Piranhas gefressen … den Todesphantasien sind keine Grenzen gesetzt.

Möglich ist natürlich auch, dass Winfried noch lebt, irgendwo, irgendwie. Inmitten der flatternden, kriechenden, fliegenden, zirpenden Tierwelt, die einer Sammlung toter Insekten vielleicht vorzuziehen ist. Wenn man es mag. Anna hat sich als Kind vor Regenwürmern und Nacktschnecken gefürchtet, doch konnte sie stundenlang einer Spinne in ihrem Netz zusehen. Die Geduld des langen Betrachtens hat sie in ihren Jahren als Journalistin verloren. Alles musste schnell gehen, schließlich schrieb sie für eine Tageszeitung. Als Detektivin hat Anna wieder gelernt, still zu stehen. Observierung ist vor allem ein Geduldspiel, und Ehemänner auf sexuellen Abwegen sind das harte Brot ihrer beruflichen Existenz, zumindest in den letzten Jahren. Annas Gefühl für Zeit hat sich verändert, und ihre Uhr geht langsamer. Seit zwei Stunden schon blättert sie in Julias Leben und vergisst den Rest der Welt.

In den Jugendbüchern liegen getrocknete Blätter und Blüten. Julia war eine Sammlerin, wahrscheinlich, weil sie ein Kind war, mit dem die anderen nicht spielten. Als Anna »Oliver Twist« zurücklegt und nach einem Bildband über Giftspinnen greift, fällt beim Aufschlagen ein Blatt zu Boden … ein von Hand geschriebener Brief.

Anna hebt ihn auf: Es gab Zeiten, da wurden noch Briefe geschrieben, und sie erkennt Julias Schrift, die winzigen Buchstaben, so ineinander verschlungen, dass sie wie gemalte Miniaturen wirken. Julia hat sich auch hinter ihrer Schrift versteckt. Anna setzt sich auf den Boden. Ihr Kreuz schmerzt vom langen Stehen, doch sie achtet nicht darauf. Vergisst, dass sie eine Zigarettenpause einlegen wollte …

Datum und Anrede fehlen. Der Brief ist nicht an Josef Gangwein oder Winfried gerichtet, das ist Anna nach den ersten Zeilen klar. Dieser Brief ist Julias Abrechnung mit der Schwester.

Ich war wie dein Schatten, schreibt Julia, und selbst diese geisterhafte Existenz hast du mir nicht gegönnt. Ich weiß, dass die Pubertät eine Zeit der Grausamkeiten ist. Doch du hast mich, nur so zum Spaß, dem Hohn und Spott der anderen ausgeliefert. Ich war ein lächerliches Wesen, und Arno Schulz der Einzige, der mich vor den anderen in Schutz nahm. Also habe ich ihn geliebt, den Verlierer, den du niemals zur Kenntnis genommen hättest, wenn er mich nicht gewählt hätte. Du hast ihn mir weggenommen … und mein dummer Selbstmordversuch war wieder nur … lächerlich. Ein weiterer Grund für euch, mich als Idiotin abzustempeln, und irgendwann glaubte ich daran, dass ich nichts, aber auch nichts richtig machen könne. Jeder Maikäfer, den ihr mir in die Schultasche stecktet, hatte mehr Selbstachtung als ich. Winfried erschien mir als die einzige Chance, dieser Familie, vor allem aber dir zu entkommen. Ich habe ihn nie besonders gemocht, und er mich vermutlich auch nicht. Wir haben nie darüber gesprochen, weil es eine Ehe der verkommenen Floskeln war. Hast du wirklich geglaubt, es würde mich treffen, dass du eine Nacht mit ihm verbracht hast? Er hat es mir gebeichtet, bevor er nach Brasilien flog. Winfried, der Witwentröster, und beinahe hätte ich darüber lachen können. Nur frage ich mich, warum du mich nach all den Jahren immer noch nicht in Ruhe lassen konntest. Ich habe mich doch nie gewehrt, auch nicht, als du das Erbe unserer Eltern so großzügig zu deinen Gunsten geteilt hast. Mutter hätte gewollt, dass du ihren Schmuck bekommst: Vielleicht hattest du damit sogar Recht. Sie war immer auf deiner Seite, und es gibt keine schönen Verlierer. Es tut einfach weh, immer die andere Wange hinzuhalten, irgendwann schmerzt es erbärmlich. Also brauchte ich viele Jahre, um zu verstehen, dass ich dich hasse. Ein Gefühl immerhin. Ich hasse dich von ganzem Herzen, deine Großspurigkeit und deine Dummheit, deinen maßlosen Egoismus und die grandiose Überschätzung deiner Person. Ich hasse deine Bosheit und Unfähigkeit, auf andere Menschen einzugehen. Als du noch jung und hübsch warst, hat man dir all das vielleicht nachgesehen. Jetzt nicht mehr, Eva. Ich verzeihe nichts. Nicht einmal deinen Streich, meine Geburtstagstorte mit Salz zu backen. Ihr habt so gelacht. Meine Kindheit war ein einziges Gelächter – manchmal höre ich es heute noch, und ich schmecke den salzigen Teig auf der Zunge. Die Bitterkeit der vielen Jahre, in denen ich um deine Gunst gebettelt habe – oder zumindest um Mitleid, Nachsicht, Güte. Du besitzt nichts dergleichen, und das Alter hat dich nichts gelehrt außer Heuchelei.

Seit ich weiß, was es heißt, geliebt zu werden, bin ich ein anderer Mensch. Ein ganzer, schöner, guter Mensch, der lieben und hassen kann. Das musste ich dir sagen, nein, schreiben, weil ich dich niemals wieder sehen möchte. Keine Telefonate, keine überraschenden Besuche, keine Einladungen zu einer deiner schrecklichen Gesellschaftsübungen. Dies ist keine Bitte, sondern ein Befehl: Bleib mir vom Leib. Sonst müsste ich dir Schaden zufügen …

Hier bricht der Brief ab. Julia hat ihn nicht unterschrieben, und sie hat ihn offenbar nie abgeschickt. Anna hält ihn so vorsichtig in der Hand, als würde Wahrheit wie Feuer brennen.

Julias Wahrheit. Als sie diese Zeilen schrieb, dachte sie, dass sie geliebt würde und stark genug wäre, mit Eva abzurechnen. Und dann hat sie das Blatt zwischen Giftspinnen gelegt. Vergessen? Nein, eher nicht. Etwas war geschehen, das sie davon abhielt. Das Ende der Liebe. Die Täuschung, die Demütigung, die Aufgabe.

Anna sitzt da und weint. Es gibt keinen Grund, es ist nur Sentimentalität. Sie weint auch bei traurigen Filmen oder Büchern. Das Leben ist nicht fair, und Frauen weinen. Hängen sich auf. Und es ist Zeit für eine Zigarette. Anna geht auf diesen Krücken, solange sie denken kann. Verachtet sich dafür. Manchmal. Es ist so viel einfacher, schwach zu sein. Julia war unnachgiebig gegen sich selbst. Und wohin führt das?

Anna steht am Fenster und sieht in den Himmel, der sich mit Wolken bedeckt hat. Es wird regnen, und sie hat keinen Schirm dabei. Vielleicht findet sich einer in der Wohnung. Ob sie Eva Mauz diesen Brief zeigen soll? Anna neigt dazu und schreckt davor zurück. Da Julia ihn nicht abgeschickt hat, müsste sie eigentlich ihren Willen respektieren. Sie kann das jetzt nicht entscheiden und steckt den Brief in ihre Handtasche. In die »Hautfetzen« von Josef Gangwein, der vielleicht der Mann war, der Julia aus ihrem Winterschlaf geholt hat. Für die Zeit des kurzen Frühlings.

Jetzt fällt der Regen über die Stadt wie ein nasser, grauer Schleier. Anna schließt die Fenster und stöbert weiter im Bücherregal, doch sie findet nichts mehr außer herausgerissenen Briefmarken und getrockneten Blättern. Weil sie hungrig ist, beschließt sie, die Suche für diesen Tag einzustellen. Sie muss jetzt etwas essen, sonst wird sie melancholisch oder gereizt, je nachdem. Eva Mauz hat alle Lebensmittel, die in der Wohnung waren, mitgenommen. »Nichts verkommen lassen« ist eine ihrer Redensarten. Wohl mehr auf Dinge bezogen als auf Menschen, denkt Anna, die auf Julias Seite steht.

Im Schlafzimmerschrank findet sie, was sie braucht, um einigermaßen trocken bis zur Bushaltestelle zu kommen. Sie hat die Wahl zwischen Knirps und Schirm und wählt Letzteren. Knirpse neigen, zumindest in Annas Händen, zu tückischem Widerstand. Der Schirm steht auf einer Hutschachtel, die Anna bei ihrem ersten Gang durch die Wohnung dort nicht aufgefallen war. Vielleicht hat die Schwester sie in den Schrank gestellt. Anna ist viel zu neugierig, um die Schachtel nicht zu öffnen. Es gab Zeiten, da hat sie Hüte getragen, passend zu Kostümen, in den Bonner Zeiten, als sie noch auf angemessene Garderobe achten musste. Inzwischen trägt sie nur noch den Schlapphut, alt wie der Trenchcoat, vielleicht, weil ihr dies das Gefühl gibt, auf Marlowes Spuren zu wandeln. Was reichlich anmaßend ist.

Kein Hut ist in der Schachtel, sondern Fotos. Kinder- und Jugendbilder der üblichen Art, das Hochzeitsfoto. Winfried lächelt nicht. Julia trägt keine Zahnspange mehr. Sie waren einmal in Italien am Strand und sehen aus wie zwei unglückliche Hummer. Fotos von Familienfesten, Ausflügen und Bergwanderungen. Auf vergilbten Bildern blicken Verwandte ernst und würdig in die Kamera. Die meisten der Abgelichteten kann Anna nicht zuordnen, doch es ist keiner dabei, der nach ihrem Ermessen wie ein Heiratsschwindler aussieht.

Anna bleibt an einem Foto hängen, das auf einem Schiff aufgenommen wurde. Es ist nicht besonders scharf, weil gegen die Sonne fotografiert wurde. Ein Schnappschuss. Das Bild zeigt Julia Mauz und einen unbekannten Mann. Nein, sie kennt ihn. Er trägt eine Sonnenbrille und grinst neben Julia in die Kamera. Die Brille verdeckt einen Teil seines Gesichts, doch …

Anna hält die Luft an. Ihr Magen schmerzt. Sie hat Hunger, aber das ist es nicht. Das Foto zeigt Liebling. Er sieht sich kaum ähnlich, was an der Brille und den zerzausten Haaren liegt. Doch Anna ist ihrer Sache sicher: Der Mann auf dem Schiff neben Julia Mauz ist Martin Liebling.