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Kapitel 28

Derselbe jugendlich wirkende Sanitäter, der mich bereits am Tag von Valeries Tod verarztet hatte, erschien auch diesmal.

»Sie kommen aber ganz schön in der Gegend herum«, sagte er.

»Ich glaube, mein Großvater sollte ins Krankenhaus gebracht werden«, antwortete ich.

»Nie im Leben!«, sagte Pépé. »Das meiste hiervon ist Wein, kein Blut. Ich habe einen kleinen Kratzer am Kopf, und der wird schon wieder heilen. Ich gehe in kein Krankenhaus.«

»Die Streitlust scheint in der Familie zu liegen«, meinte der Sanitäter.

Ich beobachtete, wie ein Polizist Shane Handschellen anlegte und ihn mit zum Polizeiwagen führte. Unsere Blicke trafen sich, als der Polizist seinen Kopf runterdrückte, und Shane rutschte ins Auto.

Als Bobby Noland endlich eintraf, sagte er, seine Beamten hätten Jack bereits bei Jeroboam’s festgenommen. Bobby ging in Jacks Weinkeller und sah das Chaos aus kaputten Flaschen und Wein auf dem Boden.

»Und das alles für ein paar alte Flaschen Wein«, sagte er. »Ich halte mich lieber an Bier. Da weiß ich wenigstens: Wenn es alt ist, ist es schlecht.«

Als wir nach Hause kamen, war auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht von Pépés Freund. Er berichtete, dass das Château Dorgon damals von einem Nazi-Offizier namens Johannes von Grünfeld beschlagnahmt worden sei. Nicht einer aus der Familie habe die Konzentrationslager überlebt, doch vor ungefähr einem Jahr sei eine amerikanische Frau aufgetaucht und habe behauptet, sie sei eine entfernte Verwandte.

»Wenn man Grünfeld ins Englische übersetzt, wird daraus Greenfield«, sagte Pépé.

»Eine entfernte Verwandte, Valerie? Mein Gott, wenn Valerie mit der Familie verwandt war, die Jacks Vater ins Konzentrationslager geschickt hat, muss sie wirklich nach Rache gedürstet haben«, sagte ich. »Warum hat sie ihn nicht sofort zur Rede gestellt?«

»Vielleicht wollte sie vorher den Wein sehen«, meinte Pépé.

»Ich frage mich, ob Nicole wusste, dass Valerie mit der Familie verwandt war, der Château Dorgon gehört hatte«, sagte ich. »Obwohl ich glaube, dass Nicole ausschließlich daran interessiert war, ein Druckmittel in der Hand zu haben, damit Jack ihr den Washington-Wein verkaufen musste – oder vielleicht sogar einfach so geben musste.«

»Nach dem, was du mir über Valerie erzählt hast, bezweifle ich, dass sie sich Nicole anvertraut hätte«, sagte mein Großvater.

»Dann hat Nicole die Wahrheit gesagt – ihr war nicht bekannt, was Valerie wusste«, sagte ich.

»Dennoch wollten beide Frauen den Margaux haben«, meinte Pépé. »Und beide haben versucht, Jack und Shane zu erpressen – allerdings aus unterschiedlichen Gründen.«

»Sollen wir wetten, dass Shane den gesamten ›gestohlenen‹ Wein über seine Internet-Auktion erneut verkauft hätte, nachdem sie das Geld von der Versicherung kassiert hätten?«, sagte ich. »Obwohl Shane auch Jack betrogen hat, indem er den Dorgon behalten wollte und Flaschen aus seinem Weinkeller geklaut hat.«

Mein Großvater schüttelte den Kopf. »Was für eine Tragödie! Aber jetzt ist es vorüber.«

»Vielleicht solltest du darüber nachdenken, deine Abreise zu verschieben«, sagte ich. »Die Wunde an deinem Kopf ist wirklich übel.«

»Das wird schon wieder«, sagte er. »Ich muss zurück nach Paris. Ein paar der vieux potes planen bereits eine neue Reise.«

Die alten Kumpel. Seine Kameraden. Die Freunde, mit denen er nach China gereist war. »Eine neue Reise? Wohin geht es denn dieses Mal?«

»Ägypten. Zu den Pyramiden.« Er lächelte. »Ich erinnere mich, wie ich zugeschaut habe, als sie gebaut wurden. Es wäre doch schön, mal nachzusehen, was in der Zwischenzeit aus ihnen geworden ist.«

Ich lachte schallend. »Wollt ihr wirklich nach Ägypten reisen?«

Sein Lachen wurde noch breiter. »Aber sicher doch.«

Einen Tag vor seiner Rückreise nach Paris gab Pépé seine eigene Abschiedsfeier, indem er Dominique, Eli, Quinn, Thelma und mich in die Vills einlud. Er hatte eine Flasche 1945er Château d’Yquem aus Frankreich mitgebracht. Ursprünglich hatte er beabsichtigt, diese gemeinsam mit seinen alten Kollegen zu trinken, in Erinnerung an das Kriegsende in Europa. Stattdessen hatte er beschlossen, sie mit uns zu teilen.

»Eine letzte Erinnerungsflasche«, sagte er. »Um alte Geister zu Grabe zu tragen.«

Wir tranken den Wein bei Sonnenuntergang, bevor wir zum Abendessen im Goose Creek Inn fuhren. Als Thelma in einem weiteren flammendroten Kleid erschien, küsste ihr Pépé die Hand. Sie errötete und strahlte wie ein junges Mädchen. Quinn erschien zu meiner großen Überraschung in einem maßgeschneiderten Blazer, Wollhose und schwarzem Rollkragenpullover. Keinerlei Schmuck. Ein absolutes Novum bei ihm.

Er bemerkte, wie ich ihn anstarrte, und hielt meinen Blick fest.

Pépé brachte einen ersten Trinkspruch aus, auf die Zukunft.

»Wie werdet ihr es nach all dem, was hier geschehen ist, mit der Auktion halten?«, fragte Dominique. »Ich habe gehört, Sunny Greenfield hat die Stadt verlassen und wird nicht mehr zurückkommen. Jeroboam’s ist verriegelt, und da hängt ein Schild AUF UNBESTIMMTE ZEIT

»Wir ziehen sie natürlich trotzdem durch«, sagte ich. »Ich schätze, dass wir eine Menge Geld reinholen werden – nicht so viel wie mal erwartet –, aber es wird schon einiges sein.«

»Ich komme nicht über diesen Shane hinweg«, sagte Thelma. »Er war immer so nett zu mir, aber er hatte auch so etwas Verdächtiges an sich, wisst ihr? Normalerweise kann ich Leute ganz gut einschätzen, doch diesmal hat meine übersinnliche Wahrnehmung wohl nicht okkultisch genug gearbeitet, schätze ich. Ich kann nur nicht begreifen, dass er diese armen Frauen einfach umgebracht hat.« Sie blickte zu meinem Großvater. »Sie sind ein tapferer Mann, Luc Delauney! Sie und Lucie hätten getötet werden können.«

Quinn schob sich etwas näher heran, sodass er neben mir stand, und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Thelma scheint ganz schön verknallt in Ihren Großvater zu sein.«

»Hm!«

Pépé lächelte Thelma an und hob sein Glas. »Er trug nicht seinen scharlachroten Rock, denn Blut und Wein sind rot. Und Wein und Blut bedeckten seine Hand, als man ihn fand mit ihr im Tod. Die arme tote Frau, die er geliebt, die er getötet hat in seiner Not

»Also, Luc!« Thelmas Gesicht nahm die Farbe ihres Kleides an. »Das ist ja richtige Dichtkunst. Sie sind ja ein ganz Kluger! Stammt das von Ihnen?«

»Oh, nein.« Er lächelte sie an. »So begabt bin ich nicht. Oscar Wilde schrieb es. The Ballad of Reading Gaol.«

»Das ist ja komisch – eine perfekte Beschreibung von Shane«, sagte Dominique. »Die scharlachrote Jacke. Die Frau getötet, die er geliebt hat. Selbst das Blut und der Wein an seinen Händen.«

»Wo wir schon mal von Blut und Wein reden«, sagte ich. »Ryan Worth fliegt in die Schweiz, um den Washington-Wein untersuchen zu lassen. Er hat heute Nachmittag angerufen. In der Flasche war noch ein Rest geblieben.«

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass du Shane mit dieser Flasche geschlagen hast«, sagte Eli. »Da waren dreißigtausend im Weinkeller, unter denen du hättest wählen können, und dann hast du ausgerechnet diese eine genommen?«

»Ich musste seine Aufmerksamkeit gewinnen«, sagte ich. »Und er trug ein Gewehr.«

»Weißt du, dass Shane seine Gaunereien wahrscheinlich immer noch unbehelligt fortsetzen könnte, wenn Valerie nicht aufgetaucht wäre und Jack damit gedroht hätte, seinen Vater bloßzustellen?«, fragte Dominique.

»Das werden wir wohl nie erfahren, schätze ich«, sagte Quinn. »Oder wenn Nicole hier nicht wegen des Margaux aufgetaucht wäre.« Seine Hand ruhte immer noch auf meiner Schulter. Mir flüsterte er ins Ohr: »Jaime ist gestern gekommen, um sie mitzunehmen. Abends hatten wir noch ein paar Drinks zusammen.«

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Ich denke schon.« Er schaute mich durchdringend an, und seine Finger strichen über meinen Nacken. »Ich bin froh, dass Ihnen und Ihrem Großvater nichts passiert ist. Ich möchte gar nicht daran denken, Sie zu verlieren.«

Meine Wangen glühten. »Wirklich?«

»Wir müssen den Cabernet verschneiden. Dafür brauche ich Sie doch, oder?«

»Ja«, sagte ich. »So wird es wohl sein.«