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Kapitel 14

Als ich nach Hause kam, saß Pépé in der Bibliothek auf seinem gewohnten Platz auf dem Sofa und las The Economist. Eine Boyard lag im Aschenbecher, und sein halb ausgetrunkener Kaffee schien kalt zu sein. Er konnte sich einfach nicht an den amerikanischen Kaffee gewöhnen, aber ich konnte auch nicht diese Turbobrühe trinken, die er so liebte, ohne dass ich das Herz in meiner Brust hämmern spürte. Er lächelte, als ich den Raum betrat.

»Irgendwelche positiven Nachrichten in der Welt? Wo hast du den Economist bekommen?« Ich küsste ihn auf die Wange und setzte mich neben ihn. Die legendäre Animosität zwischen Franzosen und Engländern – den frogs und les rosbifs – reichte bis zu Jeanne d’Arc zurück, doch mein Großvater war nicht so engstirnig. Er las die englische Presse.

»Das Übliche. Die Welt fällt auseinander, aber zumindest schreiben intelligente Leute darüber, wodurch es etwas weniger schlimm erscheint.« Er schloss die Zeitschrift. »Einer meiner Kollegen brachte mich zum Gemischtwarenladen in Atoka, aber dort gab es ihn nicht, deshalb fuhren wir nach Leesburg.«

»Ich fürchte, Thelma führt nur Lokalzeitungen«, sagte ich. »Und die Boulevardblätter, weil sie süchtig danach ist. Tut mir leid, dass du ganz bis nach Leesburg fahren musstest.«

»Ich habe es genossen. Wir kamen an Dodona vorbei. Und wie ich gesehen habe, hat man aus General Marshalls Haus ein Museum gemacht.« Er schüttelte den Kopf, griff nach der Zigarette und zündete sie wieder an. »Als ich noch an der Botschaft war, habe ich dort ein paar Mal zu Abend gegessen. Ich komme mir vor wie ein Dinosaurier, ma belle

»Du bist doch kein Dinosaurier!«

»Anscheinend muss man sich jetzt für eine Besichtigung des Hauses anmelden.« Er sog an seiner Zigarette. »Ich habe mich auch noch mit eurer Thelma unterhalten. Sie hat sich nach dir erkundigt. Und wollte etwas über meinen Besuch hier wissen. Und alles andere, was ich ihr berichten konnte.«

Der Gemischtwarenladen war der Ausgangspunkt für sämtlichen örtlichen Klatsch, und Thelma, die hier schon herumgesprungen war, als Gott noch ein kleiner Junge war, schickte ihn auf die Reise. Vielleicht war es ihre verführerische, kokette Art oder ihr aufgedonnertes Äußeres, aber sie besaß eine geradezu rätselhafte Fähigkeit, jedem, der bei ihr hereinschneite, sämtliche Informationen aus der Nase zu ziehen. Thelmas Trifokalbrille und ihren Ohren mit den Antennen einer Fledermaus entging so leicht nichts.

»Hat sie dich ausgequetscht?«

Pépé grinste. »In der Résistance hätten wir sie gut gebrauchen können. Mach dir keine Sorgen, ich habe nicht viel erzählt. Ich glaube, sie mag mich.«

»Das liegt daran, dass du so ein Charmeur bist. Ich schätze, damit hast du ihren bisherigen Freund aus dem Feld geschlagen. Irgendeinen attraktiven Doktor aus einer ihrer Seifenopern.«

»Also doch kein Dinosaurier, was?«

Ich legte meinen Kopf an seine Schulter. »Hast du Lust auf eine Spazierfahrt? Ich würde dir gerne das Weingut zeigen. Und dann gibt es da noch etwas, das ich dich fragen möchte.«

Ich holte seinen Mantel aus der Garderobe in der Halle.

»Offenbar bewahrst du Lelands Waffen immer noch auf«, sagte er. »Ich sah den Gewehrschrank in der Bibliothek.«

»Vermutlich sollte ich sie verkaufen«, sagte ich, »da sie ja jetzt niemand mehr benutzt.«

Er schlüpfte in seinen Mantel. »Und du?«

»Du weißt doch, dass ich nicht jage oder schieße.«

Wir nahmen den Mini statt des Gators, da er bequemer war, und Pépé konnte den Aschenbecher benutzen, wenn er rauchte. Seit Hurrikan Lola im August hatten wir so gut wie keinen Regen mehr gehabt und waren gewarnt worden, mit Streichhölzern und offenem Feuer vorsichtig umzugehen. Mein Großvater hörte mir interessiert zu, als ich ihm von der diesjährigen Weinlese berichtete, während wir durch die etablierten Weingärten fuhren. Danach zeigte ich ihm die neuen Felder und die Reben, die wir im Frühling gepflanzt hatten.

»Deiner Mutter hätte es gefallen, dass du expandierst«, sagte er. »Du bist wie sie. Beide sehr ehrgeizig.«

Wir hatten an dem Lattenzaun angehalten, der die größere unserer beiden Apfelplantagen umgab. Im Herbst hatten wir ihn für die Selbstpflücker geöffnet, die während der letzten Wochen regelmäßig gekommen waren. Seit dem Wochenende waren die Bäume nahezu abgeerntet.

Pépé rauchte ruhig und starrte auf die Blue Ridge Mountains.

»Hast du irgendetwas?«, fragte ich. »Ich meine, wegen meiner Mutter …?«

»Auch. Aber ich habe bei diesem Besuch auch über die Vergangenheit nachgedacht – die alten Tage«, sagte er. »Für die Treffen sind nicht mehr viele von uns übrig geblieben, fürchte ich.«

»Das muss hart sein«, sagte ich. »Du vermisst deine Freunde, nicht wahr?«

»Ja.« Er lächelte, doch in seinem Blick lag Trauer. »Wusstest du, dass ein Teil des Geldes aus dem Marshallplan den französischen Weingütern dazu verhalf, nach dem Krieg wieder auf die Beine zu kommen?«

Ich kannte die Geschichten, wie die Deutschen in Frankreichs führende Weinbaugebiete eingedrungen waren und die Produktion beschlagnahmt hatten. Tausende Kisten besten französischen Weins waren nach Deutschland transportiert worden, um sie auf dem internationalen Markt zu verkaufen und damit dazu beizutragen, Hitlers ausufernde Kriegskosten zu finanzieren. Die schlechteren Lagen gingen zu den Truppen an die Front.

»Ich weiß, dass es den Weingütern schlecht ging«, sagte ich.

»Du kannst dir kein Bild davon machen, wie viel Wein die Deutschen gestohlen haben – wie sie die Weingüter und Châteaus ausgeplündert haben.« Sein Blick verdunkelte sich, und seine Stimme wurde plötzlich scharf. »Was sie sich da geholt haben, war genauso schlimm wie Kunstraub im Louvre. Wusstest du, dass die Franzosen, als sie schließlich Hitlers Refugium auf diesem Berggipfel in Berchtesgaden erreichten, über eine halbe Million Flaschen unserer besten Weine gefunden haben? Und die waren nur für Hitler bestimmt, einen Mann, der nicht trank.« Das sonst heiter wirkende Gesicht meines Großvaters war wutverzerrt. »Sie haben alles genommen, was sie verwenden konnten – haben es sogar für Industriealkohol benutzt, wenn sie Engpässe hatten.«

»Hattest du damit zu tun, Geld aus dem Marshallplan für die Weingüter zu beschaffen?« Ich wollte ihn von dem Thema des rücksichtslosen Vorgehens der Nazis abbringen. Seine Gesichtsfarbe hatte ein ungesundes Rot angenommen.

»Nein, zu der Zeit war ich in Washington. Aber ein paar meiner Kollegen waren involviert.« Er klang etwas ruhiger.

»Du hast mir eigentlich nie so richtig erzählt, was du während des Krieges gemacht hast.« In der Familie hatte es immer geheißen, er sei Spion der Résistance gewesen. Ich vermutete, dass meine Großmutter die Wahrheit gekannt hatte, doch soweit ich wusste, war sie auch die Einzige gewesen.

Ich war gespannt, ob er sie mir jetzt erzählen würde.

»Ich war in Frankreich – im besetzten Teil Frankreichs. Und in Spanien.« Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und zerrieb sie so lange, bis sie fast nur noch aus Krümeln bestand. »Es gab dort Piloten der Alliierten, die über den Pyrenäen auf dem Weg nach Spanien abgeschossen worden waren. Unser Fluchtweg hieß ›Comet‹, weil wir uns so schnell bewegten.«

Mehr als ein halbes Jahrhundert später war dies alles, was er erzählen wollte. »Du musst ein paar unglaubliche Geschichten erlebt haben.«

»Wir taten, was wir tun mussten. Es war eine Zeit, in der Menschen ihren Mitmenschen die größten Unmenschlichkeiten angetan haben. Das darf nie wieder geschehen.« Er legte seine Hand auf meine. »Genug der traurigen Geschichten. Du sagtest, dass du mich etwas fragen müsstest, ma chère?«

»Lass uns in den Weinkeller gehen«, sagte ich. »Ich hole einen Weinheber, dann können wir den Cabernet vom letzten Jahr probieren. Ich hätte gerne dein Urteil, wie er sich entwickelt. Danach möchte ich dir die Washington-Flasche zeigen.«

»Den Wein würde ich gerne sehen«, sagte er. »Und ein Aperitif wäre schön.«

Der Parkplatz war leer. Frankie und Gina hatten den Probierraum abgeschlossen, da es bereits nach vier Uhr war. Quinns El Camino war verschwunden. Vor ein paar Tagen hatte Frankie gefragt, welche Pläne ich für das Pflanzen von Herbstblumen in den angrenzenden Gartenanlagen und den Fässern sowie Blumenkästen im Hof hätte. Sera hatte sich immer darum gekümmert, doch nachdem sie jetzt in Mexiko war, war nichts geschehen. Die Fleißigen Lieschen, die Petunien, der Salbei und die Geranien ließen die Köpfe hängen, lichteten sich, verblassten.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, hatte ich Frankie gesagt, »ich habe mir noch keine richtigen Gedanken darüber gemacht.«

Sie hatte mir eine Gartenbroschüre unter die Nase gehalten. »Überlassen Sie es mir. Ist es in Ordnung, wenn ich ein paar Veränderungen vornehme, oder muss ich es wie Sera machen?«

»Sie können machen, was Sie wollen.«

Am frühen Nachmittag musste sie sich darum gekümmert haben, denn als Pépé und ich in den Hof kamen, quollen die Blumenkästen von gelben und weißen Winter-Stiefmütterchen über, und in den halbierten Weinfässern blühten gelbe, rostrote und flammend orangenfarbige Chrysanthemen. Die Überraschung war die Vogelscheuche, gekleidet wie ein Bauer, mit Ausnahme des Hawaiihemds, das sie offenbar Quinn stibitzt hatte. Die Vogelscheuche stand auf einem Heuballen neben der alten Kanone aus dem Bürgerkrieg, mit der angeblich in der Schlacht von Middleburg geschossen worden war. Zu Füßen der Kanone und des Heuballens hatte Frankie Kürbisse und weitere Chrysanthemen platziert. Ich hätte Frankie küssen können. Der Hof sah wundervoll aus.

Sobald Pépé und ich den Weinkeller betreten hatten, stellte ich die Ventilatoren an. Die primären Gärungsprozesse, die bei der Lese eingesetzt hatten, verlangsamten sich bereits. Das Brodeln und Schäumen wie in einem Hexenkessel war zu einem Köcheln geworden.

Ich holte den Weinheber und zwei Gläser. Pépé öffnete das Zapfloch eines der Fässer, während ich den Weinheber – der an ein bauchiges, unten und oben offenes Thermometer mit einem Griff erinnerte – hineinhielt und eine geringe Menge des vorjährigen Cabernet Sauvignon in den Hohlraum sog. Als ich den Wein in unsere Gläser fließen ließ, schloss Pépé das Fass sofort wieder, um Fruchtfliegen fernzuhalten.

Mein Großvater verwirbelte den Inhalt in seinem Glas, steckte seine Nase hinein und schnüffelte kräftig. Ich beobachtete ihn, als er den Wein in seinem Mund kreisen ließ. Der Cabernet musste noch ein weiteres Jahr in seinem Fass reifen, bevor wir ihn in Flaschen abfüllen konnten, dennoch würden wir eine Vorstellung davon bekommen, was dieser Wein versprach. Ich versuchte, nicht an Pépé im Kreis seiner Kollegen im Chevaliers du Tastevin zu denken, wie sie einige der weltbesten Weine probierten und begutachteten, während ich auf sein Urteil über meinen ein Jahr alten Virginia-Cabernet wartete.

Schließlich sagte er: »Volles Bukett. Angenehme Würze. Der Abgang entwickelt sich schön. Du produzierst guten Wein, Lucie.«

»Ehrlich?«

»Glaubst du, ich würde dich belügen?«, sagte er. »Und jetzt lass mich diese berühmte Flasche sehen.«

Ich holte den Margaux und stellte ihn vor ihn auf den langen Tisch. Er griff in die Brusttasche und holte seine Lesebrille heraus.

»Formidable«, sagte er. »Un vrai Margaux. Ich habe noch nie einen so alten gesehen, aber andere, die auch schon ganz schön in die Jahre gekommen waren.«

»Kannst du dir vorstellen, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmt?«

»Nicht stimmt – was?«

»Ich weiß es nicht. Valerie Beauvais hat irgendetwas über diese Flasche erfahren, als sie in Bordeaux war. Ich habe keine Ahnung, was es ist.«

Er untersuchte die Beschriftung, fuhr mit dem Finger über die Datierung – 1790. »Vielleicht stammt sie nicht aus jenem Jahr, auch wenn der Wein alt ist. Möglicherweise hat man die Schriftzeichen später eingeätzt.«

»Wie können wir denn dann feststellen, wie alt der Wein ist?«

»Ihr müsstet die Flasche öffnen und den Wein testen. Kohlenstoffdatierung. Das Verfahren ist teuer. Man braucht ein Speziallabor dafür.«

»Ich wüsste gerne, ob Valerie in Frankreich eine andere Flasche genau wie diese gesehen hat.«

»Oder eine ähnliche.«

»Das würde erklären, warum Jack sie zurückhaben will. Um genauere Untersuchungen zu verhindern«, sagte ich. »Weil er weiß, was Valerie gesehen hat.«

»Du musst bedenken, dass es trotz des Verfahrens schwierig ist, das genaue Jahr zu bestimmen«, sagte er. »Man kann bestenfalls nachweisen, dass der Wein nicht Ende des zwanzigsten Jahrhunderts hergestellt wurde. Wäre er es, dann wäre der Kohlenstoff-14-Anteil aufgrund der Atombombentests in der Atmosphäre während der 50er und 60er Jahre erhöht.« Er zuckte die Achseln. »Ansonsten wird man nur mit Sicherheit sagen können, dass er aus der Zeit zwischen Ende des 17. und Mitte des 20. Jahrhunderts stammt.«

»Dreihundert Jahre! Das hilft uns auch nicht weiter.«

»Unglücklicherweise nicht.«

»Würdest du jemanden umbringen, um eine Information wie diese geheim zu halten?«

Pépé schaute bestürzt drein. »Mon Dieu, natürlich nicht. Außerdem könnte jeder betrogen werden. Im Laufe der Jahre hat es viele Skandale gegeben, bei denen es um gefälschte Bordeaux-Weine ging, weil sie so gefragt sind.«

»Heute Abend muss ich die Flasche zurückgeben. Zusammen mit einer Flasche Château Dorgon. Warum begleitest du mich nicht? Ich kann dich mit Jack bekannt machen.«

»Tut mir leid, ma belle, aber ich bin zum Abendessen verabredet. Vielleicht kann ich ihn ja später mal kennenlernen.« Er putzte seine Brillengläser am Ärmel seines Mantels. »Du hast eine Flasche Château Dorgon? Darf ich die einmal sehen?«

»Natürlich.«

Ich holte den Dorgon. Pépé setzte seine Brille wieder auf

und untersuchte die Flasche.

»So eine habe ich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Das Château stellte nach dem Krieg die Weinproduktion ein. Warum gibst du sie zurück?«

»Jack hat vor kurzem eine andere getrunken und meinte, der Wein sei umgekippt.«

»Quel dommage

»Ich weiß«, sagte ich. »Wirklich schade.«

Wir fuhren mit Jacks Weinflaschen, die ich wieder in die Originalverpackungen von Jeroboam’s zurückgetan hatte, zu mir nach Hause. Pépé ging nach oben, um sich umzuziehen.

Während ich auf ihn wartete, rief ich Amanda an, um zu erfahren, ob es ihr gelungen war, Sunny davon zu überzeugen, dass sie mit Jack reden sollte.

»Sie ist auf unserer Seite«, sagte sie. »Sie glaubt, Jack habe einen großen PR-Fehler begangen, die Flasche erst zu spenden und dann wieder zurückzufordern. Aber sie will nicht mit ihm reden.«

»Warum nicht?«

»Ich weiß es nicht. Sie hat einfach dichtgemacht und gesagt: Du kannst ja mit ihm verhandeln. Das habe ich dann auch getan.«

»Was hat er gesagt?«

»Na ja, ich habe mit ihm gesprochen, aber am Ende hat er einfach aufgelegt.«

»Ich schätze mal, das heißt, dass ich hinfahren und die Weine abliefern muss.«

»Damit werden wir in Teufels Küche kommen.«

»Warum rufst du nicht Ryan an«, sagte ich, »und erzählst ihm, was passiert ist? Er wird verbreiten, dass der Wein nicht mehr versteigert wird, und wir brauchen uns nur mit den Reaktionen herumzuschlagen.«

»Aber bevor ich das mache, trinke ich noch ein riesiges Glas Johnnie Walker Blue«, sagte sie, »und verbringe den Abend damit, zu ergründen, weshalb dieser Jack Greenfield sich als so ein Hurensohn erwiesen hat.«

»Viel Spaß dabei!«

»Nur wenn du mir versprichst, dass du ihm, wenn du ihn siehst, von mir vors Schienbein trittst.«

Ich legte auf, als Pépé die Treppe hinunterkam, elegant gekleidet in einen dunkelgrauen Anzug mit einer Krawatte in rotem und goldenem Paisleymuster und passendem Einstecktuch dazu.

Nachdem er verschwunden war, fuhr ich zu Jack. Auf die Aufgabe, die mich dort erwartete, freute ich mich nicht.

Sunny öffnete mir die Haustür, mit einem Cocktailglas in der Hand und einem freundlichen, jedoch fragenden Lächeln auf den Lippen. »Lucie, welche Überraschung! Was kann ich für Sie tun?«

»Ich hätte anrufen sollen«, sagte ich. »Aber Jack hat heute Abend gesagt.«

Sie warf einen Blick auf den Behälter in meiner Hand. »Haben wir Sie zum Abendessen eingeladen?«

In ihrem langen Kaftan mit Indianermuster wirkte sie lässig und elegant. Ihr schulterlanges Haar, das sie gewöhnlich streng zurückgekämmt oder als Französischen Zopf trug, umrahmte lose ihr Gesicht und ließ sie jünger erscheinen als eine Frau von Mitte fünfzig.

»Ihr Mann bat mich, heute Abend zu kommen und dies hier zurückzubringen. Die Flaschen von der Auktion. Komme ich ungelegen?«

Sie winkte mich mit dem Glas herein. »Nein, nein, überhaupt nicht. Und es tut mir leid wegen des Missverständnisses mit diesen Weinen. Ich trinke gerade einen Wodka-Tonic. Jack ist noch im Laden und geht da irgendetwas mit Shane durch. Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten?«

»Danke, aber ich kann nicht bleiben.« Ein Missverständnis?

Die Greenfields wohnten in einer umgebauten Scheune, die früher Teil eines größeren Anwesens gewesen war. Als die damaligen Besitzer Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine Durststrecke durchmachen mussten, hatten sie das Grundstück in drei Parzellen aufgeteilt und verkauft. Jacks und Sunnys Besitz stammte – zusammen mit mehreren Nebengebäuden – aus dem größeren Anteil und umfasste auch ein kleines einstöckiges Pächterhäuschen, in dem sie Jacks Weinkeller eingerichtet hatten.

»Kommen Sie doch wenigstens auf eine Minute herein«, sagte sie. »Sie hatten schon genug Ärger.«

Ich gab nach und trat ein.

Eine schlichte Glasvase, gefüllt mit dunkelorangefarbenen Johanniskrautbeeren, korallenroten Gerbera-Tausendschönchen und pfirsichfarbenen Sweetheart-Rosen, stand auf einem Tisch in der Diele.

»Wahrscheinlich wollen Sie dies hier direkt nach drüben in Ihren Weinkeller bringen.« Ich stellte den Behälter neben dem Tisch auf den Boden. »Oder soll ich es tun?«

»Wir haben unten einen kleinen Keller mit Temperaturregelung.« Sie lächelte, als sie meine überraschte Reaktion sah. »Ja, ich weiß. Zwei Weinkeller, das ist ein bisschen extravagant. Ich bringe die Flaschen selbst nach unten. Danke für Ihr Angebot.«

»Nichts zu danken.« Ich zeigte auf das Blumenarrangement. »Die Blumen sind wunderschön. Ist das Ihr Werk?«

»Ja, für Jack. Er freut sich über die einfachsten Dinge. Ich mache mir nie Umstände mit großen, professionell aussehenden Arrangements. Die Häuser meiner Kunden dürfen getrost im Architectural Digest erscheinen, aber Jack hat es in seinem eigenen Haus gerne gemütlich. Guter alter bodenständiger deutscher Charme.«

Sunny hatte im Kamin Feuer gemacht. Schuberts Forellenquintett ertönte aus den zwei Lautsprechern in den Bücherregalen zu beiden Seiten des Kamins. Ihre Gobelinstickerei – etwas Florales – lag auf dem Sofa.

»Bitte, setzen Sie sich. Nehmen Sie Jacks Sessel neben dem Kamin«, sagte sie. »Darf ich Ihnen etwas anbieten? Wie wär’s mit einem Glas Wein? Kommen Sie! Da ist noch eine offene Flasche Cabernet Sauvignon. Französischer. Ich möchte nicht allein trinken, da Sie jetzt hier sind.«

Ich setzte mich. »Na gut. Ein Glas. Danke!«

Sie reichte mir den Wein und nahm ihre Gobelinstickerei auf, nachdem sie sich aufs Sofa gesetzt hatte. »Ich habe gehört, dass die Orlandos Sie gedrängt haben, Ihr Grundstück für die Jagd zu sperren«, sagte sie. »Amanda erzählte mir, Sie hätten ihnen gesagt, sie sollten sich zum Teufel scheren.«

»So ungefähr.«

»Die meinen es wirklich ernst mit einem Verbot der Fuchsjagd, müssen Sie wissen.« Sunny griff nach ihrer Brille, setzte sie auf und konzentrierte sich auf ihr Tuch. »Stuart Orlando hat vor kurzem ein Treffen in seinem Haus organisiert, um das Ganze wieder in Gang zu bringen. Sie wollen versuchen, uns in den Medien herunterzumachen und es über die öffentliche Meinung auszufechten.« Sie schaute hoch. »Sie wollen Artikel darüber lancieren, wie grausam wir die Jagdhunde behandeln. Was wir den armen Füchsen antun.«

»Woher wissen Sie von diesem Treffen?«

Sie schlüpfte mit den Füßen aus ihren Lederschläppchen und setzte sich graziös auf die Unterschenkel. »Eine Freundin von mir bekam Wind davon und fragte, ob sie dort hingehen sollte. Die Orlandos kennen ja noch nicht jeden hier.« Sie zog rosafarbene Seide durch das Tuch und schien mit sich selbst zufrieden zu sein.

»Darf ich mal ein anderes Thema anschneiden?«

»Nur wenn es sich nicht um den Margaux handelt.«

Ich beobachtete, wie sie die Nadel diesmal ruckartig ins Tuch stach, und fragte dennoch: »Wissen Sie, ob Jack Valerie Beauvais getroffen hat, bevor sie diesen Unfall hatte? Ich meine die Historikerin, die umgebracht wurde.«

»Ich weiß sehr wohl, wer Valerie Beauvais war. Schließlich lese ich Zeitung. Ich hätte es gewusst, wenn er sie getroffen hätte.« Sie stickte weiter.

»Dann hat er sie also nicht getroffen.«

»Das sagte ich soeben.«

»Warum zieht er dann den Wein zurück?«

Sie legte ihre Gobelinstickerei beiseite und setzte vorsichtig die Brille ab. Wie sie beides tat, ließ sie älter erscheinen. »Ich werde Ihnen mal etwas erzählen. Und es ist besser, wenn es unter uns bleibt. Jack berichtete mir, sein Vater habe diesen Wein nach dem Krieg als Dankeschön von einem Freund bekommen. Mein Schwiegervater wurde in Nazi-Uniform nach Frankreich geschickt, aber er sympathisierte heimlich mit den Franzosen, da er im Weinhandel so viele Freunde hatte. Sie können sich vorstellen, was mit ihm geschehen wäre, wenn man in Berlin etwas über die Dinge erfahren hätte, die er gemacht hat. Jacks Vater ging gewaltige Risiken ein, um alten Freunden und früheren Geschäftspartnern zu helfen.«

»Wusste Valerie davon?«

»Sie zog es vor, Lügen zu vertrauen. Dass er die Franzosen während des Krieges betrogen habe.«

Ich fragte mich, ob Sunny bewusst war, dass sie sich gerade widersprochen hatte, was die Frage betraf, ob Jack Valerie gekannt hatte. Sie massierte sich die Stirn und griff nach ihrem Glas.

Sie hatte es bemerkt.

»Schauen Sie, Lucie, wir beide haben keine Ahnung, wie es während des Krieges war. Mein Schwiegervater tat, was er unter diesen unmöglichen Umständen tun konnte. Schließlich musste er seinen Vorgesetzten gehorchen. Wer sind wir denn, dass wir über einige Entscheidungen, die er traf, urteilen wollten – und wer war sie, dass sie urteilen konnte? Valerie wollte Jacks Familie durch den Dreck ziehen. Ihre Nazi-Vergangenheit aufdecken und meinen Mann aus keinem anderen Grund demütigen, als dadurch die Verkaufszahlen ihres Buchs zu erhöhen. Können Sie sich vorstellen, was das für sein Geschäft bedeutet hätte? Lassen Sie es bitte dabei bewenden, ja?« Sunny leerte ihr Glas und stand auf, um sich erneut einzuschenken. Diesmal nahm sie nicht so viel Tonic.

Ich wartete, bis sie sich gesetzt hatte. »Das könnte ich«, sagte ich, »wenn Valerie nicht von jemandem getötet worden wäre. Sie sind sich doch sicher darüber im Klaren, dass diese Geschichte Jack ein Motiv liefert.«

Sie richtete sich kerzengerade auf. »Wie können Sie es wagen? Ich war den ganzen Abend mit Jack zusammen. Wir haben mit Shane im Goose Creek Inn zu Abend gegessen, danach fuhren wir nach Hause und gingen ins Bett.«

»Irgendjemand hat sie umgebracht«, sagte ich.

Sie sah mich an, als habe ich sie geohrfeigt. »Mein Mann nicht! Sie finden wohl allein den Weg nach draußen, Lucie. Danke, dass Sie den Wein vorbeigebracht haben.«

Ich stellte mein halb ausgetrunkenes Glas Cabernet auf den Couchtisch. Als ich den Raum verließ, warf ich noch einen Blick auf ihre Gobelinstickerei. In die Mitte einer gelben Blume hatte sie ein paar Stiche rosafarbener Seide gesetzt.

»Ich glaube, Sie haben da einen Fehler gemacht«, sagte ich und deutete auf das Tuch.

Sie starrte ins Feuer und drehte sich nicht zu mir um. Ich ging. Die Gobelinstickerei war nicht ihr einziger Fehler gewesen.