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Kapitel 21

Nach dem, was wir jetzt wissen, sehe ich keinen Grund mehr, den Sheriff anzurufen«, sagte ich zu Quinn, als ich ihn über Kyra aufgeklärt hatte. »Aber ich muss Amanda anrufen. Und Claudia.«

»Warum hat sie das getan?«, fragte er. »Das Mädchen, meine ich.«

»Wenn Sie sie gesehen hätten, wüssten Sie es. Sie ist wie Mia, als sie in dem Alter war. Vielleicht sogar schlimmer. Permanent unter Strom.«

»Ich bin froh, dass ich keine Kinder habe. Habe sie auch nie gewollt.«

Ich legte Kyras hässliches Halsband weg. Es war das erste Mal, dass er irgendetwas in der Art gesagt hatte. Im Gegensatz zu Quinn wünschte ich mir Kinder. Doch nach meinem Autounfall hatte mir der Arzt mitgeteilt, dass die Chancen aufgrund der inneren Verletzungen verschwindend gering seien.

»Das wusste ich nicht«, sagte ich. »Sie haben sich wirklich nie welche gewünscht?«

Er zuckte die Achseln, nahm einen Tennisball, der auf seinem Schreibtisch lag, warf ihn in die Luft und fing ihn wieder auf, ein ums andere Mal. Wenn er angestrengt nachdachte, schleuderte er den Ball gegen die gegenüberliegende Wand. Die Abdrücke waren zu sehen, und es brachte mich zur Weißglut.

»Eine lange Geschichte.« Er schmiss den Ball gegen die Wand.

»Ich dachte schon, es wäre vielleicht ein weiteres Geheimnis Ihrer Vergangenheit«, sagte ich. »Ein Sohn oder eine Tochter, die in Kalifornien aufwächst?«

Er schaute mich so durchdringend an, dass ich errötete. »Nicht dass ich wüsste«, sagte er.

»Entschuldigung! Das war unpassend. Ich sollte wohl lieber die Telefonate erledigen. Ich gehe davon aus, dass Sie nicht dableiben wollen, während ich telefoniere.«

Er ließ den Tennisball durch einen Reifen sausen, den er an seinem leeren Abfalleimer angebracht hatte. Der Ball sprang ein paar Mal auf und ab, dann fing Quinn ihn wieder. »Ich habe eine bessere Idee. Wir gehen auf die Terrasse, und Sie können dort telefonieren. Heute Abend werden wir einen schönen Sonnenuntergang haben. Was halten Sie davon, wenn ich uns einen Cabernet hole?«

Zum ersten Mal seit seine Exfrau in der Stadt aufgetaucht war, schien er wieder er selbst zu sein. Vielleicht war es ihm endlich gelungen, sich von dem zu befreien, womit sie ihn an sich gebunden hatte.

»Ich hätte nichts dagegen«, sagte ich.

Als Erstes rief ich Amanda an, fasste mich kurz und kam gleich zur Sache. Am anderen Apparat herrschte langes Schweigen, als ich fertig war.

Schließlich sagte sie: »Während ich heute Morgen mit dir telefoniert habe, bin ich in Kyras Schlafzimmer gegangen. Sie hat Freddie the Fox vor ein paar Jahren von ihren Großeltern geschenkt bekommen. Er war verschwunden.«

»Also hattest du sie seit heute Morgen in Verdacht?«

»Es tut mir leid, Lucie. Du hast ja keine Ahnung, wie unangenehm und ärgerlich das für mich ist. Ihr Vater und ich werden das mit ihr regeln, ich verspreche es dir«, sagte sie. »Und ich sorge dafür, dass deine Mauer ordentlich gereinigt wird. Ich kenne da eine gute Firma.«

Ich schüttelte den Kopf und blickte zu Quinn hinüber, der mich schräg anschaute und mit den Lippen das Wort ›Was?‹ formte.

»Sie will das Reinigen der Mauer bezahlen«, sagte ich mit der Hand über dem Mikrofon.

Er schüttelte den Kopf. »Keine Chance!«

»Danke, aber so nicht«, sagte ich. »Ich will, dass Kyra heute Abend hier erscheint, um sich zu entschuldigen und zu erklären, warum sie es getan hat. Außerdem will ich, dass sie die Mauer und die Säulen reinigt. Sie und jeder, der ihr bei dieser Schmiererei geholfen hat. Und ihren Fuchs kann sie auch wieder mitnehmen. In meiner Auffahrt habe ich die Reste schon weggespült.«

»Lass mich die Sache regeln, Lucie. Sie ist meine Tochter.«

»Indem du sie schützt und ihr aus der Patsche hilfst? Nein. Tut mir leid, aber sie muss selbst die Verantwortung für das übernehmen, was sie getan hat.«

»Sie wird nicht kommen. Sie wird nicht auf mich hören. Warum sollte sie auf dich hören?« Amanda klang steif.

»Weil sie es mit dem Sheriff zu tun bekommt, wenn sie nicht tut, was ich von ihr verlange. Der ist sehr viel weniger tolerant als ich.«

»Du würdest den Sheriff anrufen?« Sie schien fassungslos zu sein.

»Das würde ich. Schau mal, wenn dies noch weitergeht … wenn sie irgendetwas im Gelände angestellt hat und wenn sich morgen jemand verletzt, dann hat sie richtige Schwierigkeiten.«

Amanda schwieg.

»Mein Gott, Amanda«, sagte ich, »soll das etwa heißen, dass sie etwas mit den Sprüngen und Hürden gemacht hat?«

Quinn setzte sein Weinglas ab und starrte mich an, die Lippen zu einem Schlitz zusammengepresst.

»Ich habe mich darum gekümmert.« Die Wörter kamen abgehackt. »Es ist alles in Ordnung. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

»Um was hast du dich gekümmert? Warum hast du es mir nicht direkt gesagt?« Was immer Kyra getan hatte, es war weit schwerwiegender als die Schmiererei an den Säulen. Schlimmer noch war, dass Amanda es herunterzuspielen versuchte. Ich spürte, wie meine Wut wuchs.

»Weil ich alles geprüft habe«, sagte Amanda. »Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen.« Ich hielt meinen Zeigerfinger wie eine Pistole an die Schläfe und tat so, als würde ich abdrücken. Quinn schaute grimmig drein.

»Was hat sie gemacht, Amanda?« Meine Stimme klang angespannt. Sie hatte wirklich vor, ihre Tochter einfach so davonkommen zu lassen.

»Sie, eh, hatte eine der Hürden so verändert, dass sie entzweigegangen wäre, wenn ein Pferd darüberspringt.«

Ich schloss die Augen. So war es gewesen, als meine Mutter starb. »Ich sage die Jagd ab.«

»Das ist nicht nötig, Lucie. Ich habe mit Kyra gesprochen. Es war nur diese eine Hürde, und die ist repariert. Mehr hat sie nicht getan.«

»Ich bestehe darauf, dass sie hier heute Abend erscheint. Über die Frage, ob die Jagd stattfindet oder nicht, können wir reden, nachdem sie ihre Gründe genannt und sich entschuldigt hat.«

»Ich werde mit ihr reden, aber ich kann nicht garantieren, dass sie kommt.«

»Dann wird der Sheriff kommen, und da wird es keine Rolle spielen, wozu sie gerade Lust hat.«

»Du hast dich deutlich genug ausgedrückt.« Amanda klang kurz angebunden und unglücklich, als sie auflegte.

»Sie ist sauer auf Sie, was?«, sagte Quinn, während ich das Handy zuklappte.

»Ja, verdammt! Dummes Gör! Da hätte sich wirklich jemand verletzen können. Amanda verhielt sich so, als wäre es keine große Affäre.«

»Wir kümmern uns heute Abend darum.« Er machte immer noch eine grimmige Miene.

Als Nächstes rief ich Claudia an. Dieses Gespräch lief besser.

Quinn und ich gönnten uns den letzten Rest Wein, als die Sonne sich in einen kräftig orangefarbenen Ball verwandelte, der dicht über dem Horizont schwebte. Höher am Himmel ging die blutrote Farbe eines Wolkenbandes, das wie eine Perlenkette aussah, zuerst in ein Violett über und verblasste dann zu einem Flanellgrau, während der Himmel im Hintergrund immer dunkler wurde.

Quinn nahm unsere leeren Gläser, als nur noch ein heller goldener Streifen zu sehen war, der den Himmel von den Bergen trennte. »Was werden Sie jetzt tun?«

»Meinen Großvater verabschieden, bevor er heute Abend sein großes Wiedersehen feiert«, sagte ich. »Und dann darauf warten, dass Kyra und Amanda aufkreuzen.«

»Glauben Sie, dass sie kommen?«

»Besser wäre es für sie.«

»Haben Sie schon etwas fürs Abendessen?«, fragte er.

»Wahrscheinlich irgendetwas, wofür ich den Dosenöffner und die Mikrowelle brauche. Oder Käse mit Cracker.«

»Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen etwas herüberbringe, sagen wir in ungefähr einer Stunde? Vielleicht vom Chinesen?«, fragte er. »Möglicherweise brauchen Sie Unterstützung, vor allem wenn das Mädchen nicht zugeben will, wie idiotisch es sich verhalten hat.«

Ich richtete mich in meinem Stuhl auf und schaute ihn überrascht an. »Das klingt nett – selbst wenn das Mädchen nicht zugeben will, wie idiotisch es sich verhalten hat. Ich werde schon allein mit ihr fertig, müssen Sie wissen. Sie brauchen sich um mich keine Gedanken zu machen.«

»Ich mache mir keine Sorgen um Sie«, sagte er. »Ich mache mir Sorgen um das Mädchen und Amanda. Ich möchte wetten, dass die beiden aufeinander losgehen werden.«

»Ich glaube nicht, dass es zu Gewaltanwendungen kommt.«

»Ich weiß, dass es nicht dazu kommt«, sagte er. »Dafür bin ich da.«

Mein Großvater, der in seinem zweireihigen Smoking wie ein in Würde alternder Filmstar aussah, wartete bereits in der Halle, als ich zwanzig Minuten später durch die Haustür kam.

»Tu es magnifique!«, sagte ich.

Er grinste, als hätte ich gerade eine allseits bekannte Wahrheit bekräftigt. »Merci beaucoup

»Kommt dich jemand abholen?«

»Mein Kollege«, sagte er. »Du bist ihm und seiner Freundin neulich begegnet.«

»Ich bleibe auf, bis du wiederkommst. Ich möchte alles über euer Treffen erfahren.«

»Ich komme erst nach dem Frühstück«, sagte er. »Es ist wohl besser, wenn du schlafen gehst.«

Ich hörte, wie ein Auto die Auffahrt hinauffuhr und die Reifen im Kies knirschten. »Wie machst du das nur?«, fragte ich. »Ich kenne Leute, die zwanzig oder dreißig Jahre jünger sind als du und nicht halb so viel aushalten. Das ist verblüffend.«

Er streichelte meine Wange. »Ich habe im Leben immer auf das geschaut, was auf mich zukam, und dann versucht, das Gute darin zu finden. Das vermittelt einem Energie und joie de vivre

»Selbst während des Krieges?«

»Besonders während des Krieges.«

Ich lächelte ihn an und hatte das Gefühl, das Herz würde mir brechen. »Ich liebe dich, Pépé.«

»Ich liebe dich auch, mon ange«, sagte er.

Ich ging mit ihm zum Auto seines Freundes, und seine Haltung war so aufrecht wie die eines Soldaten. Während er sich auf die Rückbank setzte, sagte er: »Ich habe nachgedacht. Könnten wir morgen vielleicht das Grab deiner Mutter besuchen?«

»Natürlich«, sagte ich. »Was immer du möchtest.«

Er hob die Hand zu einem kurzen Gruß, und der Wagen verließ die Auffahrt. Ich ging ins Haus und versuchte, nicht daran zu denken, wie sehr ich ihn vermissen würde, wenn er in ein paar Tagen nach Frankreich zurückreiste.

Quinn brachte genügend chinesisches Fertiggericht mit, um all unsere Arbeiter damit zu beköstigen, als er später bei mir auftauchte. Wir aßen im Wohnzimmer vor dem Feuer, das ich im Kamin gemacht hatte. Im Frühjahr, als die Männer zusätzliche Flächen für den Anbau weiterer Weinstöcke gerodet hatten, hatten einige die Baumklötze zu Kaminholz zerkleinert, und jeder hatte mitnehmen können, so viel er wollte. In der Nähe des Kutschenschuppens, neben meinem schrumpfenden alten Holzstoß, hatten sie ungefähr zwei Kubikmeter für mich aufgestapelt.

»Haben Sie für dieses Feuer etwa das frische Holz genommen?«, fragte Quinn, als ein Scheit knisterte und aufplatzte, sodass sich ein Funkenregen in den Schornstein ergoss.

»Das meiste ist altes, abgelagertes Holz. Kann sein, dass ich aus Versehen ein oder zwei neue Scheite mitgenommen habe.«

»Immer noch zu frisch«, sagte er. »Am Ende haben Sie noch Brandlöcher in Ihren schönen neuen Teppichen, wenn die Funken in die falsche Richtung fliegen. Das sollten Sie eigentlich wissen als Mädchen vom Lande.«

»Ich fürchte, ich bin wegen heute Abend nicht ganz bei der Sache«, sagte ich, während ich die kleinen weißen Schälchen mit den Resten wieder in die Tüte packte, in der er sie gebracht hatte und die er mit nach Hause nehmen wollte.

»Keine Angst, es wird schon werden.« Er legte sich so auf die Seite, dass er das Kinn auf eine Hand stützen und ins Feuer schauen konnte.

Ich saß ihm gegenüber mit dem Rücken gegen das Sofa gelehnt auf dem Läufer.

»Noch zwei Wochen, dann können wir den Cabernet verschneiden«, sagte er.

Den ganzen Abend über hatten wir uns bei unseren Gesprächen auf neutralem Boden bewegt und meistens über die Arbeit geredet. Nicoles Name war nicht einziges Mal gefallen.

»Kommen wir auf dreihundert Proben, bevor Sie den perfekten Wein gefunden haben?«, fragte ich.

»Nicht mehr als zweihundertfünfzig. Ich möchte nicht über Bord gehen.«

Ich lachte. »Sie werden hier in Virginia verwöhnt, das wissen Sie. In Kalifornien produziert man jedes Jahr den gleichen Wein, weil das Wetter aus Sonne und noch mehr Sonne besteht. Hier ist es wie in Bordeaux, und Sie können Ihr verschneidendes kleines Herz sich austoben lassen, da sich das Wetter jedes Jahr vom Wetter des Vorjahres unterscheidet. Oder vom Jahr davor.«

»Diese allzu vereinfachende Bemerkung werde ich mal ignorieren und es der Unwissenheit zuschreiben«, sagte er. »Bei Ihnen klingt das so, als wäre Kalifornien das Land des homogenisierten Weins.«

»Das terroir spielt dort eine viel geringere Rolle«, sagte ich. »Wegen des Klimas.«

»Das ist nicht wahr«, sagte er. »Kalifornische Winzer haben vielleicht von Jahr zu Jahr sehr viel weniger Abweichungen in ihrer Ernte, aber irgendetwas müssen wir wohl doch richtig machen. Erinnern Sie sich an das ›Urteil von Paris‹?«

Ich kannte es. Jeder in der Welt des Weins kannte es.

Vor mehr als dreißig Jahren hatte ein kleiner Weinladen in Paris eine Blindverkostung von französischen und kalifornischen Weinen organisiert. Zum Erstaunen aller – nicht zuletzt aller Franzosen – gewannen die kalifornischen Weine spielend. Dank eines Korrespondenten des ›Time Magazine‹ namens George Taber, der dort anwesend war, sorgte dieses Ereignis weltweit für Furore. Danach schoss Kaliforniens Ruf als Produzent erstklassiger Weine in ungeahnte Höhen.

»Da wir gerade von Urteilen reden …«, sagte ich, als durch das vordere Fenster des Wohnzimmers das Scheinwerferlicht eines Autos fiel, das die Auffahrt heraufkam. »Sie sind da.«

»Ja.« Er stand auf, half mir hoch und reichte mir meine Krücke. »Die Vorstellung kann beginnen.«