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Kapitel 6

Am Sonntag wälzte sich erneut eine große Menschenmenge durch die Weinkellerei, da sich das fantastische Wetter hielt. Es waren erst zwei Wochen vergangen, seit die Sonne auf der herbstlichen Tagundnachtgleiche von der nördlichen zur südlichen Hemisphäre gewechselt hatte, doch die längeren, niedrigeren Sonnenstrahlen badeten den Wein und die Felder bereits in einem goldenen Licht, das es nur zu dieser Jahreszeit gab.

Wir hatten die Weinproben nach draußen auf den Hof verlegt, um die Aussicht und das Wetter zu nutzen. Francesca Merchant hatte ein Streichquartett engagiert, das am Nachmittag für Kammermusik sorgen sollte.

»Ich weiß, dass Sie dieses klassische Zeug lieben, aber ich kann damit nichts anfangen. Frankie sagt, es wären gute Musiker, nur klingt es so, als hätte ein und derselbe Kerl alle Stücke geschrieben. Vivaldi, Beethoven oder wer auch immer«, sagte Quinn, als wir im Schatten der Loggia standen und zuschauten, wie Gina Probierformulare verteilte und drei älteren Herren Informationen zu unseren Weinen gab, die in einer Limousine mit drei gutaussehenden jungen Frauen gekommen waren.

»Zwischen Vivaldi und Beethoven besteht ein gewaltiger Unterschied. Sie hören nur nicht genau genug hin.« Ich befühlte den Kragen seines Hawaiihemdes, auf dem dürftig bekleidete Mädchen im Baströckchen und mit Briefmarken als BHs die Hüften zu einem Hulatanz schwenkten. »Hätten Sie nicht ein anderes Hemd anziehen können?«

»Warum, ist es schmutzig?«

»Vergessen Sie’s.«

Mein Bruder Eli tauchte am Nachmittag ohne meine Schwägerin Brandi und meine ein Jahr alte Nichte Hope auf. Wie immer sah er ein bisschen zu adrett und ein wenig feminin aus. Ich wusste, warum. Brandi suchte jetzt die Kleidung für ihn aus, so wie wenn Barbie ihren Ken anziehen würde. Sie favorisierte Pastellfarben, daher gewöhnte ich mich langsam daran, Eli in Bonbonfarben wie dem hellgelben Hemd und den dazu passenden Hosen zu sehen, die er jetzt trug.

»Hallo, Kleines«, sagte er. »Dachte, ich sollte heute Nachmittag mal ein bisschen bei dir schmarotzen. Was gibt es zu essen? Die Mädchen sind übers Wochenende bei meinen Schwiegereltern.«

»Tapas. Ich schlage dir einen Deal vor. Du hilfst uns in den nächsten Stunden, und ich schicke dich mit einem Teil von dem, was übrig bleibt, nach Hause.«

Eli schob seine Designer-Sonnenbrille hoch, sodass sie auf seinem perfekt gegeltem Haar saß. »Ich denke, ich könnte eine Weile hierbleiben.« Er legte seine Hände auf den Wanst, der früher einmal ein Waschbrettbauch gewesen war. »Jetzt allerdings könnte ich einen Happen vertragen. Bin zu spät aufgestanden, um noch frühstücken zu können, und habe den ganzen Morgen bei Jack und Sunny Greenfield verbracht.«

»Was hast du denn da gemacht?«

»Jack renoviert seinen Weinkeller.«

»Nebenbeschäftigung?«

»Macht es leichter, die Rechnungen zu bezahlen.«

Ich wusste, dass er gerade so über die Runden kam. Er vergötterte Brandi und konnte – oder wollte – ihr nicht sagen, dass der Geldbaum abgeerntet war. Vor kurzem hatte ich gehört, dass er einen Betrag in Höhe des Bruttosozialprodukts eines kleineren Landes geliehen hatte, um zu begleichen, was sie bereits an Schulden angesammelt hatten.

Er ging zu einem der Tische und kehrte mit einem Teller zurück, auf dem sich das Essen für drei Leute häufte. »Prima Sachen.« Er spießte ein Würstchen mit einem Zahnstocher auf. »Woher hast du die?«

»Vom Bio-Fleischer in Middleburg. Was baut Jack denn an seinem Weinkeller um?«

»Alles.« Eli redete mit vollem Mund. »Installiert ein Sicherheitssystem, vergrößert die Kühlanlage – der schmeißt mit den Dollars nur so um sich für Glaswände, Kalksteinböden, Weinregale aus Rotholz, Landkarten, auf denen verzeichnet ist, von wo die Weine kommen. Die ganze Chose. Und computerisierte Inventarisierung – zu guter Letzt. Shane organisiert alles. Jack hat sich an Versicherungsprämien jahrelang dumm und dusselig bezahlt, ohne den wirklichen Wert seiner Sammlung zu kennen.«

»Warum braucht er denn so plötzlich ein Sicherheitssystem?«

Eli leckte seine Finger ab. »Hast du mal eine Serviette? Ich möchte nicht, dass Fett an meine Klamotten kommt. Ich trage sie zum ersten Mal.«

Ich gab ihm eine.

»Jack besitzt locker an die dreißigtausend Flaschen. Er will seine Kapitalanlage schützen.« Er nahm eine Gabel und stach in einen kleinen Berg marinierter Pimientos del Piquillo. »Außerdem hat er von diesen Diebstählen in kalifornischen Weinkellern gehört. Meinte, er müsse wohl etwas mehr haben als nur ein Vorhängeschloss an der Tür. Der Typ vom Sicherheitsdienst kam heute Morgen vorbei und quatschte herum und erklärte, was sie alles machen können. Ich kam mir vor wie James Bond, dem M seine ganze Spielzeugsammlung präsentierte.«

»Du meinst Q. M ist sein Boss. Q bastelt das Spielzeug.«

»Schnurzpiepegal.«

»Falls du mit deinem Imbiss fertig sein solltest, James«, sagte ich, »wie wär’s damit, mir in der Villa beim Einschenken des Weins zu helfen?«

»Geschüttelt, nicht gerührt«, sagte er. »Lass mich nur noch ein paar Chorizos probieren.«

Frankie stand im Probierraum hinter der Bar, als Eli und ich in die Villa gingen. Eine attraktive Frau Anfang fünfzig mit rotblondem Haar. Ich mochte ihre ungezwungene, tüchtige Art und ihren dezenten, trockenen Humor. Unseren Kunden erging es offensichtlich ebenso. Seitdem sie bei uns war, hatte sie eine kleine, aber treue Gemeinde von regelmäßigen Besuchern gewonnen, die sich an den Wochenenden einstellten und vorgaben, wegen des Weins zu kommen. Ich wusste, dass sie kamen, um sich mit Frankie zu unterhalten. In ihren klaren blauen Augen, deren Blick jede Voreingenommenheit fehlte, lag ein Ozean von Mitgefühl.

»Holen Sie sich draußen etwas zu essen, und genießen Sie das Quartett«, sagte ich zu ihr. »Eli und ich übernehmen das hier für eine Weile. Ich glaube, er hat Ihnen noch ein Würstchen übrig gelassen. Vielleicht sogar zwei.«

Sie lächelte. »Danke. Amanda Heyward hat vor ungefähr einer halben Stunde angerufen. Sie will vorbeikommen und eine Auflistung der Termine und Orte für die Fuchsjagden der nächsten Monate bringen. Außerdem geht es um eine Gästeliste.«

Seit über einem Jahrhundert gehörte mein Grundstück, die Highland Farm, zum Gelände der Goose-Creek-Jagd. Während der Jagdsaison traf man sich bei uns alle fünf oder sechs Wochen zum Beginn der Fuchsjagd. Amanda, Schriftführerin des Goose-Creek-Jagdclubs und alte Freundin der Familie, war dafür verantwortlich, die Termine mitzuteilen.

Als Dank für die häufige Jagderlaubnis auf unserem Grundstück hatte sie sich angeboten, sich um die Gästeliste für unsere Auktion zu kümmern und die Einladungen zu verschicken. Amanda hatte jahrelang für schwergewichtige Multis und renommierte Museen Wohltätigkeitsveranstaltungen organisiert, bis zu viele Achtzig-Stunden-Wochen ihr die Kraft geraubt hatten. Ihr Angebot war als ein Geschenk des Himmels gekommen.

Sie erschien im Probierraum mit vollgespritzter Reithose, Reitstiefeln und geschlossener weißer Bluse, das lange graubraune Haar zu einem vom Wind verwehten Knoten aufgesteckt und das gerötete Gesicht nach einem nachmittäglichen Geländeritt sonnenverbrannt. Sie küsste Eli und mich und akzeptierte das Glas Cabernet Sauvignon, das Eli ihr einschenkte.

»Ich bin mit Sunny ausgeritten.« Sie stieg auf einen der Barhocker und warf einen Lederranzen auf den Boden. »Ich habe gehört, dass du heute Morgen dort warst und mit Jack über den Weinkeller gesprochen hast, Eli. Dieses ganze Sicherheitsgedöns, das er da installieren will, macht Sunny noch wahnsinnig. Kostet ein Vermögen. Was hat er da nur drin, das einen solchen Aufwand rechtfertigt? Den Kelch, den sie beim Letzten Abendmahl benutzten?«

»Du würdest dich wundern«, sagte Eli. »Er hat da ein paar Weine, die man nirgendwo sonst finden könnte.«

»Ja, aber hier in der Gegend hat doch jeder fantastische und teure Spitzenweine auf seiner Anrichte oder im Keller stehen. Bei mir ist das nicht anders – und meistens machen wir uns nicht mal die Mühe, die Haustür abzuschließen, weil wir nichts zu befürchten haben.« Sie setzte ihr Glas auf der Bar ab und steckte eine Haarsträhne in ihren Knoten zurück.

»Unter anderem besitzt Jack Vertikalen mehrerer legendärer Bordeaux-Weine«, sagte Eli.

»Was ist denn eine Vertikale?«, fragte Amanda.

»Eine Flasche Wein aus jedem einzelnen Herstellungsjahr. Entschuldigung«, sagte er. »Ich dachte, du kennst dich im Wein-Chinesisch aus.«

Amanda hatte auf uns aufgepasst, als wir noch Babys waren, und sie hatte Elis Windeln gewechselt. Meine auch. Elis wichtigtuerisches Gehabe beeindruckte sie nicht.

»Ich kenne mich genügend mit Weinen aus, um zu wissen, dass einige dieser Jahrgänge mies waren«, sagte sie. »Deshalb muss sich unter all den Kleinoden auch elendes Gesöff befinden.«

»Das stimmt nicht ganz.« Ich setzte mich auf einen Barhocker zu ihnen. An manchen Tagen schmerzte mein kaputter Fuß stärker als sonst. Heute war einer dieser Tage. »Die meisten Weine werden im Jahr ihrer Herstellung getrunken. Nur die wirklich guten Tropfen werden zurückgelegt. Wenn ein Jahr mies war, wie du sagst, wurde der Wein meist direkt konsumiert. Daher ist es später umso schwieriger, einen guten Wein dieses Jahrgangs zu finden, und das treibt den Preis hoch. Der Wert von Vertikalen ist deshalb so enorm, weil es sich um eine komplette Sammlung handelt.«

»Schön und gut«, sagte sie, »aber ich bin überzeugt davon, dass sich die Leute hier während des Aggressionskriegs der Nordstaaten wahrlich um andere Dinge gekümmert haben als darum, Weine zu lagern. Jack tut wirklich zu viel des Guten, wenn er da irgendein System mit bionischem Passwort oder dergleichen installieren lässt.«

Ich bemerkte, wie Eli tief Luft holte. Er wollte sich nicht damit zufriedengeben. Ich warf meinem Bruder einen Blick zu und sagte zu Amanda: »Wolltest du uns nicht etwas über die Gästeliste für die Auktion sagen?«

»Ja, natürlich.« Sie bückte sich, um den Lederranzen aufzuheben, und so verpasste sie, wie Eli eine Grimasse schnitt und die Augen rollte. Nachdem sie sich wieder aufgerichtet, ihre Lesebrille aufgesetzt und eine Mappe mit Streublumenmuster geöffnet hatte, zog sie eine ausgedruckte Computerliste hervor.

»Bis jetzt haben sich etwas mehr als einhundertsechzig Leute angemeldet. Nicht gerechnet die Anfragen, die wir erhalten haben, nachdem Ryans Kolumne über den Washington-Wein in der Tribune erschien. Wahrscheinlich werden wir Ende nächster Woche die Grenzen unserer Kapazität erreicht haben. Danach müssen wir die Interessenten zurückweisen.« Sie blickte uns über ihren Brillenrand hinweg an.

»Das wäre doch schade«, sagte ich. »Warum fragen wir Mick nicht, ob wir in seinem Garten ein Zelt aufbauen können? Dann brauchen wir niemanden abzuweisen.«

»Sein Haus ist prächtig, nachdem Sunny mit den Renovierungsarbeiten fast fertig ist«, sagte Amanda. »Ich hielte es für eine Sünde, wenn wir es nicht nutzen würden. Ein Zelt könnten wir auch an jedem beliebigen anderen Ort aufstellen.«

»Lass uns darüber nachdenken. Wir finden schon etwas«, sagte ich. »Übrigens, Ryan hat zugesagt, für uns den Auktionator zu spielen und die Klassifizierungen unserer Weine für den Katalog vorzunehmen. Es sieht so aus, als sollten wir dank der Romeos viele Spenden bekommen. Anscheinend üben sie wie ein Freiwilligenheer der Mafia Druck auf die Leute aus. Jeder rückt mindestens eine Flasche raus. Manche sogar mehrere.«

»Ich wette, deine neuen Nachbarn tun es nicht.« Amandas Blick wurde kalt. »Die Orlandos.«

»Ich weiß es nicht. Sie sind gerade erst eingezogen«, sagte ich. »Ich bin ihnen noch nicht begegnet.«

»Seine Anwaltskanzlei vertritt Tierschutzorganisationen.« Sie schlug die Mappe mit der Liste zu und stopfte ihre Brille heftig in ein Burberry-Etui. »Und sie ist eine von der Sorte, die den Frauen Farbe auf den Pelzmantel schüttet. Die beiden kreuzten bei den Zwingern auf und erkundigten sich nach dem Zustand der Jagdhunde. Ziemlich aggressiv. Shane war zufällig dort und verhielt sich ihnen gegenüber höflicher, als ich es getan hätte. Er sagte, die Hunde würden gut behandelt und es gebe keinen Grund zur Besorgnis. Daraufhin verlangten die beiden hartnäckig, selbst hineinzugehen und sich ein Bild zu machen. Am nächsten Tag erhielten wir einen Brief, in dem stand, wir sollten uns merken, dass ihre Farm für die Goose-Creek-Fuchsjagd verbotenes Terrain sei. Ein für allemal.«

Sie nahm ihr Weinglas und leerte es in einem Zug.

»Das wusste ich nicht«, sagte ich. »Es tut mir leid.«

»Sie haben das Recht, euch dort die Fuchsjagd zu verbieten, wenn sie wollen«, sagte Eli. »Das Land gehört jetzt ihnen.«

»Land, das über ein Jahrhundert Teil unseres Jagdgebiets gewesen ist.« Amanda schlug mit dem Fuß ihres Weinglases auf die Bar, um jedem Wort Nachdruck zu verleihen. »O Gott, Verzeihung! Ich kriege jedes Mal eine Stinkwut, wenn ich daran denke. Ich weiß, dass das Land ihnen gehört, aber die haben doch keine Ahnung, was sie damit anrichten. Was das bedeutet.«

»Keine höheren Weihen durch hohen Besuch?«, fragte Eli und grinste.

Ich strich mir mit dem Zeigefinger quer über die Kehle und schüttelte den Kopf. Er griente noch unverschämter.

»Du bist hier aufgewachsen«, sagte Amanda. »Auf diesem Landgut. Oder hast du das vergessen, seit du in der Vorstadt wohnst?«

»Ach, komm, Amanda, das ist doch …«

Amanda schnitt ihm das Wort ab. »George Washington besaß Fuchshunde. In seinen Tagebüchern ist ständig von Fuchsjagden die Rede. Bei Jefferson dasselbe. Die früheste Überlieferung einer organisierten Fuchsjagd in Amerika stammt aus genau diesem Gebiet hier in Nord-Virginia – mit einer Jagdgesellschaft, die im Jahr 1847 von Lord Fairfax zusammengestellt wurde.« Sie zitierte Namen und Zahlen und starrte Eli dabei an. »Die Fuchsjagd ist Teil unserer Geschichte, unserer Kultur. Du weißt ganz genau, wie sehr wir für freie Flächen kämpfen, um das Land unberührt und unerschlossen zu lassen. Die Orlandos kommen aus Manhattan. Quadratkilometer Beton zwischen zwei Flüssen. Der einzige Ort, der noch weiter von Realität und Natur entfernt ist, ist Disneyland.«

»Hast du versucht, mit ihnen zu reden?« Ich behielt meinen Bruder im Auge, der mich angrinste, meine Krücke nahm und um seinen Hals hängte, um einen schnellen Abgang anzudeuten.

Amanda schenkte Eli einen Blick, als sei er ein Staubflusen, und schaute dann auf die Uhr. »Noch nicht. In einer halben Stunde treffen wir uns am Hundezwinger, um zu besprechen, was wir tun sollen. Im schlimmsten Fall müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir uns mit dem Verlust der ganzen Fläche arrangieren können. Jetzt muss ich aber gehen. In zwei Tagen rufe ich dich wegen der Gästeliste an, Lucie.« Meinem Bruder nickte sie steif zu. »Eli.«

Nachdem sie gegangen war, schaute ich mir meine Spielkarte für Oktober an. Für den sechzehnten, also in neun Tagen, hatte man das Treffen zum Beginn der Fuchsjagd auf der Highland Farm angesetzt. Auch Mick machte jetzt bei der Goose-Creek-Fuchsjagd mit. Vielleicht konnte ich ihn später fragen, was die Jagdgesellschaft zu tun gedachte, wenn man das Land der Orlandos als Teil des Jagdgebiets verlor. Angesichts der bevorstehenden Auktion wollte ich nicht, dass sich Amanda erneut wegen dieser Sache aufregte.

Eli nahm ihr Glas und stellte es in den Abtropfständer hinter der Bar.

»Mann«, sagte er, »ist die angefressen!«

»Du hast nicht gerade geholfen.«

»Ich habe doch nur den Advocatus Diaboli gespielt. Du weißt, dass sie das Recht haben, ihre Farm zu sperren. Wenn Amanda deine Nachbarn anmacht, wie sie es eben mit mir getan hat, können sie sich auf etwas gefasst machen.«

»Da magst du recht haben«, sagte ich.

Ryan Worth erschien um fünf Uhr, als wir gerade für den Tag schlossen. Ich hatte Quinn informiert, dass er kommen würde.

»Ich bin sicher, dass ich die Fliege machen werde«, sagte er. »Dann können Sie zwei Täubchen allein turteln.«

Ryan hatte kürzlich einen unserer Weine – den Pinot Noir – in einer Besprechung schlecht beurteilt. Quinn war stocksauer gewesen. Ohne mein Wissen hatte er Ryan angerufen und ihm die Meinung gesagt.

Allem Anschein nach hatten sie damit den Höhepunkt ihrer Auseinandersetzung erreicht, denn danach erwähnte Ryan Le Coq Rouge, das kalifornische Weingut, in dem Quinn gearbeitet hatte, bevor er zu uns kam. Quinn wusste nicht, dass Ryan gut mit Tavis Hennessey befreundet war, dem Besitzer. Genauso wenig wusste er, dass Ryan vollständig über den Skandal informiert war, in den der Winzer – Quinns früherer Chef – verwickelt war und wegen dem man ihn ins Gefängnis gesteckt hatte. Es ging um den Verkauf von gepanschtem Wein auf dem Schwarzmarkt in Osteuropa. Das Geschäft des Weinguts brach zusammen, und Hennessey machte Le Coq Rouge schließlich dicht. Obgleich Quinn niemals wegen irgendetwas beschuldigt worden war, hatte Ryan eine dumme Bemerkung nach dem Motto Wer bei den Hunden schläft, wacht mit Flöhen auf gemacht. Soweit mir bekannt war, redeten sie immer noch nicht wieder miteinander.

»Warum mussten Sie ihn denn anrufen und ein solches Geschrei machen?«, hatte ich ihn gefragt. »Ich finde auch nicht, dass seine Beurteilung fair war, aber mit Honig erreicht man mehr als mit der Keule.«

»Vielleicht«, hatte er gesagt, »allerdings fühlt man sich danach nicht so gut.«

Ich traf Ryan am efeubedeckten Bogengang zum Hof. Während wir zum Weinkeller gingen, wirbelte vor uns eine Windbö eine unbenutzte Serviette hoch, die Reinigungspersonal entgangen war. Ich hob die Serviette auf und steckte sie ein, froh darüber, dass ich ein Jackett trug. Die Temperatur war seit dem frühen Nachmittag um mindestens zehn Grad gesunken.

»Kommt Ihr Winzer nicht?«, fragte Ryan.

»Unglücklicherweise hat er heute Abend schon eine Verabredung, die er nicht absagen konnte.« Mit seiner Waschmaschine.

»Wie schade.«

Ryan hielt mir die Tür zum Weinkeller auf, und ich schaltete die Lichter an, nachdem wir eingetreten waren.

»Wie viele Posten haben wir bisher?«, fragte er.

»Fünfundfünfzig, und es werden immer mehr.«

Der Weinkeller roch nach dem strengen, leicht ätzenden Odeur fermentierenden Weins. Mit den ungefähren Ausmaßen eines Olympia-Schwimmbeckens besaß die zur Hälfte unterirdische Höhle zehn Meter hohe Decken, Wände aus unbehauenen Steinen und vier miteinander verbundene Nischen, in denen die meisten unserer Eichenfässer ungestört in kühler Dunkelheit ruhten. Die Fermentierungstanks aus Edelstahl standen entlang der hinteren Wand. Das leise Gurgeln der Glykol-und-Wasser-Lösung, die in den Mänteln der Kühlanlage zirkulierte, wirkte beruhigend, während wir den Raum durchquerten.

Ryan zog unter einem langen Tisch, den wir für besondere Anlässe und private Feste nutzten, einen Stuhl hervor. Er setzte sich, warf seinen Aktenkoffer auf den Tisch und nahm einen Notizblock heraus.

»Wir nehmen die vierzig Spitzenangebote und versteigern sie während der Auktion.« Er begann, sich Notizen zu machen. »Alles andere kommt in eine silent auction, bei der schriftlich geboten werden kann. Für die vierzig Posten brauche ich ungefähr anderthalb Stunden. Danach werden die Leute unruhig und schlagen nicht mehr so leicht zu.«

Über seinem Kopf hing die Kreuzstichstickerei meiner Mutter an einem der Torbögen, die zu den eingelassenen Nischen führten. Darauf hatte sie eins ihrer Lieblingszitate von Platon verewigt: Nichts Vorzüglicheres noch Wertvolleres denn Wein wurde der Menschheit durch Gott zuteil.

Ich starrte auf die Stickerei und nickte. Ryan hatte Dinge zur Sprache gebracht, die mir nie in den Sinn gekommen wären. Gott sei Dank hatte er sich bereit erklärt, uns zu helfen, Honorar hin oder her.

»Wie lange sollten wir denn noch Spenden annehmen?«, fragte ich.

»Hören Sie bald damit auf. Ich muss die Klassifizierung vornehmen und festlegen, was wir in die Auktion nehmen. Und danach muss der Katalog zum Drucker.«

»Sunny Greenfield kümmert sich um den Drucker«, sagte ich. »Als Titelbild benutzen wir ein Gemälde meiner Mutter, das das Weingut zeigt.«

»Schön. Ich habe ihre Werke immer sehr gemocht.« Er schaute sich um. »Hallo, Bedienung, gibt’s hier irgendwas zu trinken? Das wird ganz schön lange dauern.«

Ich entschied mich gegen den Pinot und wählte eine Flasche Cabernet. Die nächsten zwei Stunden verglich er Flaschen mit der Liste, die ich erstellt hatte, und notierte sich zu ziemlich jeder von ihnen etwas auf seinem Block.

Schließlich ließ er den Stift fallen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, wobei er sich die Augen mit den Handflächen rieb. »Können wir hier Schluss machen? Die letzten fünf nehmen wir in die nächste Runde. Zusammen mit allem, was noch reinkommt.«

»Sie haben das Sagen.«

Er griff nach der Flasche Wein. Ich bedeckte mein Glas mit der Hand, daher goss er nur sich selbst ein.

»Sie haben da ein paar schöne Weine. Einige Flops, aber ich habe nicht einen einzigen als eindeutige Fälschung ausmachen können.«

»Können wir uns jetzt mal über die Washington-Flasche unterhalten?«

»Natürlich. Wo ist sie?«

Sie befand sich in einer anderen Nische, ganz allein. Ich holte sie und stellte sie so vor ihn hin, dass sie nicht direkt einem Lichtstrahl der Deckenbeleuchtung ausgesetzt war. Die Flasche, deren Inhalt so dunkel und dickflüssig war wie Blut, glänzte geheimnisvoll.

Er nahm sie in beide Hände, als halte er den Heiligen Gral. »Fantastisch!«

»Sind Sie sicher, dass sie echt ist?«

»Erlauben Sie mir einen kleinen historischen Abriss.« Vorsichtig setzte er die Flasche ab. »Bis spät ins siebzehnte Jahrhundert hinein gab es in Frankreich keine Weine, die von einem einzelnen Château produziert wurden. Man vermischte die Trauben, die an unterschiedlichen Orten geerntet wurden, und daher besaß das, was man daraus hervorbrachte, keinen eigentlichen Bezug zum Land.«

»Terroir«, sagte ich, und er nickte.

»Château Margaux – um das es sich hier handelt – war eines der ersten Châteaus, das seine Weine ausschließlich aus Trauben des eigenen Weinguts machte. Das brachte ihm eine Spitzenposition in der Weinproduktion ein, und die behielt es.« Er tippte sich an die Finger. »Zwei Dinge: Glas und Korken. Zu der Zeit, als dieser Wein in die Flasche abgefüllt wurde, war dickeres Glas für Lagerung, Reifung und Transport üblich geworden. Außerdem waren die Franzosen vom Verschließen ihrer Flaschen mit einer Lage Olivenöl und Wachs zum Gebrauch von Korken übergegangen.«

Er machte eine Pause, um sein Glas mit dem restlichen Cabernet zu füllen. »Wo war ich stehen geblieben?«

»Beim Gebrauch von Korken statt Olivenöl und Wachs.«

»Genau. Jetzt konnte man also Weine verschiffen. Im achtzehnten Jahrhundert hatten die Portugiesen – die wichtigsten Lieferanten von Kork – eine längliche Flasche mit kurzem Hals und einer Schulter eingeführt. Natürlich fiel ihre Form leicht unterschiedlich aus, da jede Flasche mit dem Mund geblasen wurde.« Er streichelte den Washington-Wein mit der Rückseite seines Zeigefingers vom Hals hinab bis zur sich wölbenden Schulter. »Die neue Form erlaubte es, die Flaschen der Länge nach zu stapeln – statt sie aufrecht hinstellen zu müssen –, daher trockneten die Korken nicht mehr aus, und der Wein verdarb nicht. Das war von Vorteil bei langen Transportwegen, wie der Überquerung des Atlantiks.«

Er zeigte auf den Margaux. »Diese Flasche entspricht perfekt all jenem, was den Überlieferungen zufolge im Jahre 1790 verfügbar war. Außerdem verlangte Thomas Jefferson immer, dass sein Wein – vor allem sein Bordeaux – in Flaschen geschickt wurde, nicht in Fässern.«

»Wäre es nicht günstiger gewesen, ihn in Fässern zu verschiffen?«, fragte ich.

»Natürlich, aber die Chance wäre dann denkbar gering gewesen, dass die Weine, die er bestellt hatte, und die, die er schließlich erhielt, auch wirklich ein und dieselben waren.« Ryan trank von seinem Cabernet, schob seinen Stuhl zurück und hockte sich hin, sodass er auf Augenhöhe mit der breitschultrigen Flasche war. »Selbst wenn die Franzosen – vor allem in Südfrankreich – nicht auf die Idee gekommen wären, den Wein zu panschen und Jefferson zu betrügen, und wenn sie ihm tatsächlich geliefert hätten, was er glaubte bestellt zu haben, dann hätten die Leute auf den Schiffen, in denen der Wein über den Atlantik oder die Flüsse hinauf gebracht wurde, von dem Inhalt getrunken und was fehlte danach mit Flusswasser aufgefüllt.«

Ich schnitt eine Grimasse. »Das ist ja ekelhaft.«

»Der Meinung war Jefferson auch.« Er setzte sich wieder. »Weinschwindel im achtzehnten Jahrhundert. Wir haben kein Monopol darauf. Das gab es zu allen Zeiten. Deshalb bestand Thomas Jefferson auf Flaschen, ganz besonders bei Bordeaux. Und soweit wir wissen, schafften es nicht alle Flaschen bis Monticello oder Mount Vernon. Wie diese hier.«

»Der Wein in dieser Flasche«, sagte ich, »ist nicht gerade in gutem Zustand.«

»Wären Sie in guter Verfassung, wenn Sie fast zweihundertfünfzig Jahre alt wären?« Er strich vorsichtig mit dem Finger über die grobe Signatur im Glas – 1790, Margaux und die Initialen G.W. »Schauen Sie sich doch nur diese Farbe an. Atemberaubend!«

»Ein Teil des Weins ist verschwunden«, sagte ich.

»Bis zur Mitte der Schulter«, sagte Ryan. »Damit habe ich kein Problem. Bei einem derart alten Wein kommt es zu Versickerung. Der Korken ist ziemlich trocken, aber für die Verhältnisse immer noch in hervorragendem Zustand.«

Was er jedoch nicht erwähnte, war die Tatsache, dass der Schwund – der Raum zwischen Wein und Korken – mit Sauerstoff gefüllt war. So wie zu viel Sauerstoff Metall rosten oder Äpfel braun werden ließ, zerstörte zu viel Luft den Wein.

»Zu dumm, dass die Châteaus zu damaliger Zeit noch keine Buchführung hatten«, sagte ich. »Ich schätze, wir können froh sein, dass Jefferson sich bereits die Mühe machte.«

»Das stimmt.« Ryan trank den letzten Schluck. »Die Flasche hat das richtige Alter; die Menge des Inhalts bis zur Mitte der Schulter entspricht der eines derart alten Weins. Und hier haben Sie das entscheidende Argument: Als Jefferson in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, nachdem er als Botschafter in Frankreich gedient hatte, schrieb er 1790 einen Brief, in dem er eine große Lieferung Bordeaux für sich und George Washington bestellte. In diesem Brief führte er aus, dass die Lieferungen mit ihren jeweiligen Initialen versehen werden sollten, damit sie ihre richtigen Bestimmungsorte auch erreichten. Was Sie hier sehen, ist eine der Flaschen, die er nie zu sehen bekam.«

Ich kaute auf meiner Unterlippe und starrte auf die Initialen.

»Warum schütteln Sie den Kopf?«, fragte er.

Ich beugte mich weiter vor. »Ich frage mich, was Valerie gewusst haben soll, das wir nicht wissen.«

»Oh, um Gottes willen! Haben Sie es immer noch mit der?« Er warf die Hände in die Luft und stieß dabei versehentlich gegen die Flasche. Sie schwankte, und wir griffen beide danach. Ich erwischte sie.

»Jesus!« Er schaute mich fassungslos an. »Das hätte noch gefehlt, wenn wir sie hier zerdeppert hätten!«

»Ich bringe unser kleines Baby zur sicheren Aufbewahrung lieber dorthin, wo es hingehört. Sie warten hier.«

Als ich zurückkam, rollte er den runden Kelch seines Weinglases zwischen beiden Händen und starrte hinein, als schaue er in eine Kristallkugel.

»Und Sie sind absolut sicher, dass sie echt ist?«, fragte ich. »Würden Sie Ihren Ruf dafür aufs Spiel setzen?«

Er lächelte boshaft. »Nicht zu hundert Prozent. Aber es gibt einen Weg, das herauszufinden.«

»Welchen?«

»Wir können sie trinken.«

»Schöne Probe.« Ich stibitzte ihm das Weinglas und stellte unsere beiden Gläser auf die Anrichte, damit sie morgens gespült werden konnten. »Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«

»Sie bekommen meine Rechnung.«

Ich begleitete ihn zu seinem Auto. »Wie gut kannten Sie Valerie Beauvais?«, fragte ich.

»Gut genug, um zu wissen, was für eine Schlange sie sein konnte.«

Ich erwiderte nichts.

»Ja, ich weiß schon«, sagte er. »Das liefert mir ein Motiv, sie getötet zu haben, nicht wahr?«

»Sie bräuchten mehr als nur ein Motiv«, sagte ich. »Wie steht es mit der Gelegenheit?«

»Anscheinend hatte ich auch die«, sagte er. »Zwei Kriminalbeamte haben bereits mit mir gesprochen, und denen gefällt mein Alibi nicht.«

»Und das wäre?«

»Allein zu Hause im Bett. Zwar habe ich einen Zeugen, aber der Hund mag keine Polizeibeamten, und deshalb redet er nicht.«

Ich lachte. »Haben Sie es getan?«

Er schaute mich bestürzt an. »Nein, zum Teufel!« Er holte die Autoschlüssel aus der Tasche und warf sie hoch. Nachdem er sie wieder aufgefangen hatte, sagte er: »Schätze, ich habe noch mal Glück gehabt. Jemand anderes ist mir zuvorgekommen.«