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Kapitel 12

Um zwei Uhr morgens stand ich auf und zog mich im Mondlicht, das durch die Gardinen ins Schlafzimmer fiel, an. Mick rührte sich nicht. Mosby’s Highway war völlig ausgestorben, und die Heimfahrt verlief ruhig. Ein Segen, denn ich hätte nicht wissen wollen, wie ein Alkoholtest ausgegangen wäre.

Im Dunkeln stieg ich die gewundene Treppe hoch, damit das Hallenlicht Pépé nicht stören konnte. Doch als ich in den zweiten Stock kam, stand seine Schlafzimmertür offen, und im Bett hatte niemand geschlafen. Mein über achtzigjähriger Großvater war immer noch irgendwo in der Stadt unterwegs. Ich nahm zwei Ibuprofen, um die morgendlichen Nachwirkungen des Alkohols abzuwehren, und schlief in meinen Kleidern ein.

Als ich aufwachte, war Pépés Tür geschlossen. Wann war er gekommen? Ich kritzelte eine Nachricht, in der ich um seinen Anruf bat, sobald er aufgestanden war, und legte sie neben die Kaffeekanne. Auf dem Weg zur Villa bekam ich einen Anruf von Kit auf meinem Handy. Das Display zeigte ihre Büronummer in Leesburg.

»Da arbeitet jemand aber schon früh«, sagte ich.

»Früher Vogel fängt den Wurm«, sagte sie. »Ich habe gegen Mittag nachher in Middleburg zu tun. Was hältst du davon, wenn wir danach irgendwo einen Happen essen? Ich muss dir etwas erzählen.«

War sie wegen des Moskau-Jobs bereits zu einem Entschluss gekommen?

»Gute Nachricht oder schlechte?«, fragte ich.

»Keins von beiden.«

»Wie kann es weder das eine noch das andere sein? Was ist es?«

»Da musst du schon bis zum Mittagessen warten.«

»Du machst mir vielleicht Spaß. Wir treffen uns im Red Fox. Punkt zwölf. Ich reserviere für uns.«

»Und ich sorge für den Spaß. Bis nachher dann«, sagte sie und legte auf.

Shane Cunninghams Porsche stand neben Quinns Wagen, als ich auf den Parkplatz der Weinkellerei einbog. Die Villa war noch abgeschlossen, was bedeutete, dass sie zusammen im Weinkeller waren. Ich ging über den Hof. Die frühe morgendliche Brise war kühl, und der bewölkte Himmel verdeckte die Blue Ridge Mountains.

Was hatte Shane geschäftlich mit Quinn zu tun? Das Einzige, was sie derzeit verband, war Nicole. Einer besaß sie. Der andere wollte sie haben.

Doch es war Nicole, die bei Quinn war, nicht Shane. Ich fragte mich, ob er ihr den Porsche geliehen hatte oder ob sie ihn sich ohne zu fragen genommen hatte. Wenn es um Autos ging, war Shane wie Eli. Wenn sie gekonnt hätten, hätten sie ihre Beifahrer am liebsten vakuumverpackt, damit sie weder die kostbaren Ledersitze berühren noch irgendwo ihre Fingerabdrücke hinterlassen konnten.

Quinn und Nicole befanden sich am hintersten Ende des Raums und waren in ein Gespräch vertieft. Beide schauten nicht herüber, als ich die Tür schloss, da das Surren der Ventilatoren das Geräusch vermutlich übertönte. Sie standen direkt unter einem Punktstrahler beim Tisch des Weinmachers und schauten sich an. Das weiße konzentrierte Licht ließ sie wie Himmelserscheinungen aussehen.

Ich beobachtete, wie Quinn sich gegen einen der Bögen vor den Nischen lehnte und die Arme vor der Brust verschränkte. Nicole setzte sich Quinn gegenüber auf einen Stuhl. Den Kopf hatte sie zurückgelegt, sodass sie ihm ins Gesicht blicken konnte, und die Hände waren gefaltet. Es sah aus, als wolle sie beten – oder bitten. Sie nickte, während er sprach. Ging es um Versöhnung? Ein Friedensangebot?

Was immer sie sagte, er schien es zu akzeptieren und streckte die Hand aus. Für mich war es zu spät, zu verschwinden oder mich zu bewegen oder so zu tun, als hätte ich sie nicht beobachtet. Quinns Blick verdunkelte sich, als sie auf mich zukamen.

»Was tun Sie, Lucie?« Im Französischen gibt es die Redewendung c’est comme des cheveux sur la soupe, was bedeutet, dass etwas so willkommen ist wie das Haar in der Suppe. Er fragte, als sei ich das Haar.

Ich entschied mich gegen die naheliegende Antwort, ich sei schließlich die Eigentümerin dieses Guts und könnte mich verdammt noch mal aufhalten, wo es mir gefällt. Nicole Martin beobachtete mich, und in ihren dunklen Augen mit den langen Wimpern lag zufriedene Belustigung. Zum ersten Mal hatte auch ich Gelegenheit, sie mir genauer anzuschauen. Sie wirkte exotisch, mit hohen Wangenknochen und einem herzförmigen Gesicht. Lediglich der Mund, der sich in einem unbedachten Moment zu einem spöttischen Lächeln verzog, tat ihrer Schönheit Abbruch.

»Der Porsche stand auf dem Parkplatz, daher dachte ich, Shane sei hier. Ich wollte mit ihm reden.« Ich schaute Nicole an. »Was führt denn Sie zu uns?«

Quinn antwortete an ihrer Stelle. »Sie wollte vor der Auktion die Washington-Flasche sehen. Ich nehme Nic mit auf eine Tour durch das Weingut. Wir sind bald zurück.«

An der Art, wie sein Blick den ihren festhielt, konnte ich ablesen, dass ich recht gehabt hatte und sie auf irgendeine Weise zu einem Friedensabkommen gekommen waren. Sie lächelte ihn an, und sein Blick wurde weich.

»Viel Spaß!«, sagte ich. Sie hielten immer noch Händchen.

»Den werden wir haben.« Nicole schenkte mir ein Lächeln, doch aus ihren Augen sprach, dass ich mich aus ihrer Angelegenheit mit Quinn heraushalten sollte. »Fertig?«, fragte sie ihn.

Er nickte, und ich wünschte, ich hätte nicht beschlossen, hierherzukommen.

»Noch etwas, bevor Sie gehen«, sagte ich.

Ihre hübschen Augenbrauen hoben sich. »Und das wäre?«

»Es überrascht mich, dass Shane Ihnen nichts von Jacks gestrigem Entschluss gesagt hat, die Washington-Flasche zurückzuziehen. Er möchte, dass sie wieder in seine Privatsammlung wandert.«

Ich bemerkte, wie Verwunderung in ihren Augen aufblitzte. »Natürlich hat er es mir erzählt. Aber die Flasche befindet sich hier, wo anders also hätte ich sie mir anschauen können?«

Ihre schroffe Erwiderung war schnell genug gekommen, doch sie log. Entweder wusste Shane wegen des Weins Bescheid und hatte es ihr verheimlicht, oder Jack hatte es Shane nicht gesagt. Ich überlegte, was der Fall sein mochte. Vermutlich tat sie das Gleiche.

Quinn schaute uns beide an. Sein Blick war hart, und ich sah, wie Nicole ihren Fehler zu spät erkannte. »Wie kommt es, dass sich keine von euch beiden die Mühe gemacht hat, mich darüber zu informieren?«

»Weil Nicole es nicht wusste und ich es gestern erst spät erfahren habe.« Vielleicht war es ungehobelt, sie so bloßzustellen, doch es war eine zu einfältige Lüge gewesen. Vielleicht würde Quinn sich jetzt zwei Mal durch den Kopf gehen lassen, ob er glauben sollte, was sie ihm eben dort hinten im Weinkeller gesagt hatte. Ich ergänzte: »Und wir beide hatten gestern wenig Gelegenheit, miteinander zu reden.«

Unsere Auseinandersetzung in meinem Büro schien bereits eine Woche hinter mir zu liegen, nicht erst weniger als vierundzwanzig Stunden.

»Nein«, sagte er, »das ist wahr.« Er schaute Nicole an und wies mit dem Daumen auf mich. »Stimmt es, was sie sagt?«

Sie nickte wie ein kleines Kind, das von den Eltern bei einer Lüge ertappt wurde, jedoch sicher ist, dass ihm verziehen wird. »Wann geben Sie die Flasche zurück?«, fragte sie mich.

»Wir versuchen, Jack davon zu überzeugen, dass er es sich überlegen soll. Noch ist also alles offen.« Ich hatte keine Lust, ihr dabei zu helfen, eine Strategie zu entwickeln, mit der sie direkt zu ihm marschieren konnte, um die Flasche zu kaufen.

»Der wird es sich nicht anders überlegen. Da können Sie Gift drauf nehmen.« Nicole gab sich keine Mühe, ihre Verachtung zu verbergen.

Ich fragte mich, wie ich sie jemals für schwach hatte halten können. Vielleicht war dieser Fehler mit ein Grund für ihren Erfolg. Die Leute unterschätzten sie und bildeten sich ein, sie sei aus Zuckerwatte und nicht aus Batteriesäure.

»Das Geld sollte einem wohltätigen Zweck zugutekommen«, sagte ich.

Ihr Achselzucken sagte alles. »So was kommt schon mal vor. Der Wert dieser Flasche ist unschätzbar.«

»Ich habe gehört, Sie hätten einen Klienten, der sagte, Sie sollten nicht ohne sie zurückkommen.«

Sie lächelte verächtlich und schaute mich herausfordernd an. »Ach, wirklich, haben Sie das?«

»Dann hat sie also doch ihren Preis«, sagte ich.

»Den zu zahlen ich bereit bin.« Sie warf Quinn einen Blick zu. »Ich weiß mir zu helfen, wenn ich etwas erreichen will.«

»Das glaube ich Ihnen hundertprozentig!«, sagte ich.

»Vielleicht sollten wir uns langsam auf den Weg machen, Nic.« Quinn machte mir ein Zeichen, es gut sein zu lassen. »Dann können sich auch alle ein wenig beruhigen. Komm! Der Gator steht draußen bei der Scheune. Lass uns gehen.«

Er zog sie an der Hand zur Tür. Bevor sie verschwanden, drehte er sich noch einmal um und starrte mich verärgert an. Ich schüttelte den Kopf, und das schien die Dinge zwischen uns zu besiegeln – Nicole und ich hatten die Fronten abgesteckt, und das gefiel ihm gar nicht.

Nachdem sie gegangen waren, brachte ich den Margaux zum langen Tisch, stellte ihn vorsichtig darauf und starrte ihn an. Heute Abend würde er wieder in Jacks Weinkeller sein – zumindest vorübergehend, bis Nicole Martin Jack mit Geld überhäufen und er sich von der Flasche trennen würde, die ihm angeblich so viel bedeutete. Ich fragte mich, ob ich jemals erfahren sollte, wie viel Nicole dafür zahlen und für wen sie ihn kaufen würde.

Und was war mit der Szene zwischen Quinn und Nicole, deren Zeuge ich gewesen war? War er ihr wieder verfallen? Bestimmt wusste er, welch ein Fehler das wäre – obwohl, wer war ich denn, dass ich nach der letzten Nacht in Micks Haus einem liebestollen Mann Ratschläge erteilen wollte? Auch wenn wir wahrscheinlich beide mit gebrochenem Herzen dastehen würden, jetzt umzukehren wäre etwa so, als wollte man versuchen, Regentropfen in die Wolken zurückzuzwingen.

Shanes Porsche stand noch immer auf dem Parkplatz, als ich mich um kurz vor zwölf aufmachte, Kit im Red Fox Inn zu treffen. Wohin hatte Quinn Nicole bei seiner Rundfahrt mitgenommen? Nach Charlottesville?

Auf dem Weg zu meinem Mini kam ich am Porsche vorbei und blickte durch die Windschutzscheibe. Auf dem Beifahrersitz lag eine Ausgabe von Valerie Beauvais’ Buch. Oben ragte ein Stück Papier wie ein Lesezeichen heraus. Nicole hatte sich nicht die Mühe gemacht, den Wagen abzuschließen. Shane hatte eine supermoderne Alarmanlage einbauen lassen und war so vernarrt in sein Auto, dass er es unter Garantie sogar in der Garage noch abschloss. Falls er dahinterkommen sollte, dass Nicole sein geliebtes Baby ungesichert abgestellt hatte, wäre bestimmt der Teufel los.

Ich öffnete die Tür und nahm das Buch. Das Stück Papier steckte am Beginn des Bordeaux-Kapitels. Ich blätterte zur Titelseite. Die Widmung war überraschenderweise in Französisch geschrieben.

Pour Nicole, en souvenir d’un temps sublime en France. Merci pour tout!

Valerie

Der Dank an Nicole für die fantastische Zeit, die sie miteinander in Frankreich verbracht hatten. Wann? Während einer Reise zu Jeffersons Weingütern? Ein gemeinsamer Sommerurlaub an der Riviera?

Nachdem ich jetzt wusste, dass sie befreundet gewesen waren, war es da nur als Zufall zu betrachten, dass Nicole ausgerechnet ein paar Tage nach Valeries Tod zusammen mit Shane in Atoka aufkreuzte? Ich bezweifelte es. Vielleicht hatte Valerie Nicole erzählt, was sie über die Washington-Flasche wusste. Allerdings würde Nicole es mir gegenüber nie zugeben, falls sie es getan hatte. Stattdessen würde sie ihr Wissen vermutlich als Druckmittel einsetzen, damit Jack ihr den Bordeaux verkaufte.

Ich legte das Buch wieder dorthin, wo ich es gefunden hatte, fuhr nach Middleburg und parkte um die Ecke vor Red Fox. Als ich an der Kreuzung Washington und Madison Street als Einzige die Straße überquerte, kamen zwei Männer auf mich zu. Einer trug eine Baseball-Kappe mit einem Logo darauf: The Hunt is on. Das Wort on bestand aus dem Schwarzen einer Zielscheibe.

Ich beschloss, nach dem Mittagessen Nicole Martin aufzustöbern.

Die Jagd hatte unwiderruflich begonnen.

Das Red Fox Inn existierte schon seit der Kolonialzeit – oder zumindest hatte an dieser Stelle seit fast dreihundert Jahren ein Gebäude gestanden. Auf dem Schild, das vor dem Haus hing, war ›ca. 1728‹ zu lesen. Der Gasthof, der jetzt auf der Liste der nationalen Baudenkmäler stand, war schon zu Zeiten der Postkutsche das Herz von Middleburg gewesen, da er als Raststätte genau auf der Mitte des Weges von Alexandria nach Winchester gelegen hatte. Während des Bürgerkriegs hatten sich hier Colonel Jeb Stuart und der ›Graue Geist‹ getroffen. Eine der Kieferntheken hatte einst für einen Armeechirurgen im Dienste von Stuarts Kavallerie als Operationstisch herhalten müssen.

Ich war vor Kit dort und erhielt im Schankraum einen Tisch neben dem Kamin. Der Kamin wurde immer noch genutzt und stammte wie die handgefertigten Deckenbalken sowie Steine und Wandputz als Teil der ursprünglichen Bausubstanz aus dem achtzehnten Jahrhundert.

Kit erschien eine Viertelstunde zu spät, windzerzaust und außer Atem. Sie warf ihre Umhängetasche auf die rote Lederbank, auf der ich saß, und ließ sich mir gegenüber in den Windsor-Stuhl fallen.

»Tut mir leid, ich bin in der Redaktion aufgehalten worden.« Sie begutachtete mich von oben bis unten. »Was ist denn mit dir passiert? Hast du heute Nacht nicht geschlafen? Du siehst furchtbar aus.«

»Danke! Natürlich habe ich etwas geschlafen. Aber du weißt doch, wie beschäftigt wir während der Lese sind.« Hätte ich ihr von Mick erzählt, hätte sie sofort nach Einzelheiten gefragt. Kit war überzeugt, dass mein Sexualleben mit einer Wanderung auf der Mondoberfläche vergleichbar war. Tückisch und voller Krater.

Wir winkten ab, als uns die Menükarte gereicht wurde, und bestellten wie üblich die Krabbenpuffer. Kit nahm zusätzlich Erdnuss-Suppe und ein Bier. Ich entschied mich für den Rotwein des Hauses.

»Ich dachte, wir könnten mit einem Wodka anstoßen, um deine bevorstehende Abreise nach Moskau zu feiern«, sagte ich.

Sie starrte auf die Sammlung von Zinnkrügen neben dem Kamin. »Wenn wir mit einem Wodka anstoßen, dann nur, weil ich ein wenig flüssige Ermutigung als Entscheidungshilfe brauchen könnte. In der einen Minute habe ich die Nase voll davon, über die Schulausschusssitzung zu schreiben, und dann habe ich das Gefühl, das Leben schliddert an mir vorbei. Ich möchte irgendwohin, wo ich über etwas Wichtiges berichten kann. Bürgerkrieg oder einen Weltgipfel. Dinge, die von Bedeutung sind.« Sie hob den Blick und starrte mich an. »Doch eine Minute später ziehe ich den Schwanz ein und denke, ich müsste bleiben, weil es so verdammt weit weg von meiner Mutter ist.«

»Nur weil die Schulausschusssitzungen keine landesweiten Schlagzeilen machen, heißt das noch lange nicht, dass sie unwichtig sind. Was dort beschlossen wird, ist für viele Menschen von Bedeutung.«

»Ja. Für jeden, dessen Kind in diesem Schulsystem steckt. Den anderen geht es am Allerwertesten vorbei.«

»Hast du es jetzt endlich Bobby erzählt?«

»Habe ich. ›Du musst eben tun, was du für richtig hältst.‹ Wörtliches Zitat.«

»Klingt ganz nach Bobby. Nicht tiefsinnig, aber dennoch innig.«

»Er hätte wenigstens sagen können: Baby, geh nicht!«

»Vielleicht weiß er, wie du dich bei den Schulausschusssitzungen fühlst, und möchte nur, dass du glücklich bist.«

»Ich weiß es auch nicht. Lass uns nicht mehr darüber reden. Ich habe ständig darüber nachgedacht, und es macht mich langsam verrückt.«

Ihre Suppe kam.

»Was hast du mir also Neues zu berichten?«, fragte ich. »Du sagtest, du müsstest mir etwas erzählen.«

Sie griff nach dem Löffel. »Du wirst es kaum glauben. Zwei Beamte des Sheriff’s Department kreuzten bei uns auf. Sie haben Ryans Laptop konfisziert und Ryan zu einem kleinen Schwatz in die Polizeistation mitgenommen. Allerdings ohne Handschellen.«

»Der Sheriff glaubt, Ryan habe Valerie umgebracht?«

»Im Moment vernehmen sie ihn nur. Er erzählte mir, Bobby habe eine E-Mail gefunden, die er Valerie geschickt hat und die sie auf ihrem Computer gelassen hat. Unglücklicherweise schrieb er sie in der Nacht, bevor sie starb. Manchmal sollte man eben die Löschtaste drücken, nachdem man sich etwas von der Seele geschrieben hat.«

»Was stand in der E-Mail?«

»Eine Drohung. Bescheuert, was? Wenn er sie wenigstens angerufen hätte. Aber eine schriftliche Spur zu hinterlassen!«

»Eine Drohung wie die Ankündigung, dass er die Radmuttern an ihrem Auto abschrauben würde?«

Sie rollte die Augen. »Na, klar doch! Genau das hat er angekündigt. Wusstest du schon, dass er überlegt, seine Nase versichern zu lassen, weil er sie beruflich braucht? Ryans Körper ist sein Heiligtum. Wenn er sie hätte töten wollen, dann hätte körperlicher Einsatz dabei bestimmt keine Rolle gespielt. Er hätte viel zu viel Angst gehabt, sich in den Finger zu schneiden oder dergleichen. Tatsächlich hat er ihr mitgeteilt, dass ihr höchstens noch die Einkaufsliste zu schreiben bliebe, wenn er mit ihr fertig wäre.«

»Ich verstehe immer noch nicht, weshalb er auf Mount Vernon erschienen ist und sie dort vorgestellt hat, wenn er sie so gehasst hat. Und das ein paar Stunden bevor er ihr diese E-Mail schickte.«

»Ich vermute, dass er dafür bezahlt wurde.«

Ich dachte darüber nach. »Du hast recht. Er erwähnte irgendetwas, dass er wünschte, nicht so eine Hure gewesen zu sein und akzeptiert zu haben.«

»Weil er pleite ist.« Kit nahm ein Brötchen aus dem Brotkorb und griff nach der Butter. »Auf jeden Fall hat er Geldprobleme. Gestern habe ich einen Anruf für ihn angenommen, als er nicht da war. Sein Vermieter. Meinte, ich sollte Ryan sagen, dass sein Scheck für die Miete geplatzt ist. Schon wieder.« Sie zog die Augenbrauen hoch, und ich konnte ihren pfirsichfarbenen und grünen Lidschatten sehen. Lidschatten trug Kit genauso großzügig auf, wie sie sich Butter aufs Brot Strich.

»Was sagte er denn, als du es ihm weitergegeben hast?«

»Willst du mich auf den Arm nehmen? Zuerst wollte ich es ihm überhaupt nicht sagen, weil er dann ja gewusst hätte, dass ich darüber informiert bin. Doch dieser Kerl hatte sich dermaßen knallhart angehört, dass ich einfach etwas unternehmen musste«, sagte sie. »Deshalb habe ich eine Notiz an eine Weinflasche geklebt, die auf seinem Schreibtisch stand. Er hat sich nicht dazu geäußert, und ich habe auch nichts mehr gesagt.«

Unsere Krabbenpuffer kamen, dampfend und angenehm duftend, und wir ließen es uns schmecken.

»Ich frage mich, wie er Geldprobleme bekommen konnte«, sagte ich. »Er fährt ein altes Auto, trägt keine ausgefallene Kleidung – wo gibt er die Kohle aus?«

»Wein. Was glaubst du denn?«

»Das sind doch Geschäftskosten.«

»Er kauft eine Menge Wein«, sagte sie mit vollem Mund. »Ich muss mir ständig anhören, wie viel er für irgendeine seltene Flasche Château Sowieso bezahlt hat. Ich bin sicher, dass er ein Liquiditätsproblem hat. Außerdem kauft er Zeug, das noch in den Fässern ist.«

»Futures?«

»Wahrscheinlich. Aber da ist noch etwas anderes. Du hattest recht. Clay hatte wirklich vor, Valerie für uns arbeiten zu lassen.«

»Im Ernst? Dann frage ich mich, ob Clay ihr Buch gelesen hat. Ich habe versucht, mich durchzukämpfen. Es war grauenhaft.«

»Clay war nach dem Tod seiner Frau einsam. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er seine Entscheidung mit dem Kopf getroffen hat, vor allem nicht, nachdem ich ein Foto von ihr gesehen habe. Blond. Braungebrannt. Jung. Clay hat sie wahrscheinlich vernascht.«

Ich spießte ein Stück Krabbenpuffer mit der Gabel auf. »Ich glaube nicht, dass Ryan Valerie umgebracht hat. Er kam neulich Abend in der Weinkellerei vorbei, um die Spenden für die Auktion zu begutachten, da er den Katalog verfasst. Wir haben über Valerie gesprochen. Er gab zu, dass er froh über ihren Tod war, aber er sagte mir auch geradeheraus, er habe es nicht getan.«

»Glaubst du etwa, er hätte es dir geradeheraus gesagt, wenn er es getan hätte?«

»Einverstanden. Aber ich glaube trotzdem nicht, dass er schuldig ist.«

Unser Kellner führte zwei Frauen zu unserem Nachbartisch. Als er ihnen die Speisekarte gab, stieß er versehentlich gegen meine Krücke, die polternd auf den Boden fiel. Er hob sie auf und entschuldigte sich.

Ich nahm sie und verstaute sie in der Nische neben dem Kamin. »Mein Fehler. Ich hätte sie so ablegen müssen, dass sie Ihnen nicht im Weg ist.«

Er lächelte und räumte unser Geschirr ab. Ich bestellte Kaffee, und Kit nahm einen Cappuccino mit einem Stück Schokoladentorte.

Nachdem er gegangen war, beugte sich Kit zu mir herüber. »Klingt ganz so, als hättest du eine Vorstellung, wer der Schuldige ist.«

»Ich weiß, dass das verrückt klingen muss, aber ich glaube, Jack Greenfield könnte damit zu tun haben.«

»Niemals. Jack Greenfield hat Arthritis. Er kann es unmöglich getan haben.«

»Gestern hat er die Washington-Flasche aus der Auktion zurückgezogen. Was immer du tust, erzähl es auf keinen Fall Ryan. Amanda will Sunny bitten, Jack zu beknien, dass wir sie behalten können.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Jack will den Wein zurückhaben? Warum?«

»Er sagte, er sei zu wertvoll, um ihn sausen zu lassen.«

Der Kellner brachte unsere Getränke und Kits Dessert.

»Wie willst du da eine Verbindung zum Mord an Valerie herstellen? Entschuldige, Kleine. Diesmal stimme ich dir zu, dass du verrückt bist.«

»Denk doch mal nach«, sagte ich. »Valerie wusste etwas über die Provenienz dieses Weins und starb, bevor sie es irgendjemandem erzählen konnte. Jetzt zieht Jack die Flasche zurück und belässt sie entweder in seinem Weinkeller oder verkauft sie unter der Hand. Wenn er sie verkauft, wette ich mit dir, dass es jemand ist, der anonym bleiben möchte.«

»Also verschwindet die Flasche mehr oder weniger.« Kit kippte drei Zuckertütchen in ihren Cappuccino und rührte so heftig, dass der Löffel in der Tasse klimperte. »Wo könnte er denn so einen Käufer finden?«

»Nicole Martin kennt einen.«

»Shanes Freundin. Die Weineinkäuferin.«

»Und Quinns Exfrau.«

»Ich habe davon im Gemischtwarenladen gehört. Alle Welt in Atoka redet darüber. Sie müssen sich spinnefeind gewesen sein, als sie geschieden wurden, auch wenn sie einfach umwerfend aussieht.«

»Heute Morgen kam sie vorbei, um sich die Washington-Flasche anzuschauen. Danach nahm er sie auf eine Fahrt durch die Weinberge mit. Als sie gingen, hielten sie Händchen.« Ich ordnete ihre leeren Zuckertütchen zu einer geraden Reihe.

Kit beobachtete mich. »Das stinkt dir, was?«

»Ich mag sie nicht.«

»Haben wir es hier etwa mit Eifersucht zu tun, Luce?«

»Red doch keinen Unsinn! Warum sollte ich eifersüchtig auf sie sein?«

»Das weiß ich genauso wenig wie du«, sagte sie. »Aber ich dachte immer, ihr beiden, Quinn und du, ihr würdet euch gerne haben. Zumindest ein bisschen.«

Der Kellner brachte die Rechnung. »Es ist eine rein berufliche Beziehung.« Ich griff nach der Ledermappe. »Wir halten es so.«

Kit rollte die Augen, während ich mit der Kreditkarte bezahlte. »Wenn du es sagst«, meinte sie. »Danke für das Essen!«

Als wir draußen waren, schaute sie auf die Uhr. »Ich muss wieder an die Arbeit. Du weißt ja, wie da ohne mich alles zusammenbricht. Fährst du zurück zum Weingut?«

»Nicht direkt. Ich muss noch etwas erledigen.«

»Was hast du vor? Was musst du noch erledigen?«

»Ich habe mir gedacht, ich sollte Nicole Martin ausfindig machen und mal einen Schwatz mit ihr halten, ohne dass Quinn in der Nähe ist.«

»Damit ihr euch über ihn unterhalten könnt?«

»Nein. Damit wir uns über die Washington-Flasche unterhalten können.«

»Ich wette, ihr werdet auch über Quinn reden«, sagte sie.

Nachdem sie in ihrem Jeep davongefahren war, stieg ich in meinen Mini. Da ich jetzt wusste, dass Nicole und Valerie Freundinnen gewesen waren, würde ich vielleicht ein paar Antworten auf meine Fragen zu Jack Greenfield bekommen, und möglicherweise auch auf die, was Valerie über den Washington-Wein gewusst hatte.

Doch Kits Bemerkungen quälten mich ebenfalls, wie ein dumpfer Schmerz, von dem mir klar war, dass er nicht so bald verschwinden würde. War meine Feindseligkeit gegenüber Nicole wirklich kleinkarierte Eifersucht?

Oder hatte ich recht, dass Nicole Martin nichts als Ärger bedeutete?